Plötzlich - ohne Vorwarnung und wenn es am wenigsten passt - passiert es: Sie wird so klein wie ein Teelöffel. Doch Frau Löffelchen ist so fabelhaft einfallsreich und praktisch veranlagt, dass sie sich aus jeder brenzligen Situation herausmanövriert. Und kaum hat sie das geschafft, ist sie plötzlich wieder so groß wie andere Leute auch.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2019Weihnachtsgrütze und Elchjagd
Geschichten aus dem Alltag einer Frau mit feuerrotem Rock und feuerrotem Hut,
die „Frau Löffelchen“ heißt – weil sie manchmal so klein wird wie ein Teelöffel
VON SYBIL GRÄFIN SCHÖNFELDT
Ein Augenblick im Kinderleben, unvergessen: Ich fühlte mich von der ganzen Welt verraten und missverstanden und jammerte dem sehr geliebten Onkel etwas vor, damit er mir Recht und Trost gab. Er aber schaute mich nur an, und dann erzählte er mir eine kleine Geschichte. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie ich zuerst wütend war und dann plötzlich alles begriff. Und nun schlage ich dieses Buch auf, und es ist wie damals, doch diesmal ist es eine hagere, spitznasige alte Frau, die wieder eine Geschichte erzählt, die mit solchen Sätzen beginnt: „Es war einmal eine Frau, die legte sich abends schlafen, so wie Frauen es eben tun, und am Tag danach erwachte sie, so wie Frauen es eben tun, aber da war die Frau plötzlich so klein wie ein Teelöffel, und das passiert Frauen sonst eher selten.“ Diese Frau hat strubbelige Haare, trägt Schlappen, Schürze und einen feuerroten Rock, zum Schluss sogar einen feuerroten Hut, und sie heißt Frau Löffelchen, weil sie eben manchmal ein Teelöffel wird, klein und silbern, ohne Zauberspruch oder Berechnung.
Es passiert so plötzlich, wie das Leben manchmal ist, besonders für Kinder in der noch unbekannten Welt der Erwachsenen. Aber keine Sorge. Auch diese regen sich nicht auf, denn Frau Löffelchen wird immer wieder groß, und alles geht ohne Trara wieder weiter.
Und was sind das für Geschichten? Das sind die alltäglichsten Alltagsgeschichten, die man sich nur denken kann, nichts von Magie und Fantasie. Frau Löffelchen sagt auch nie etwas besonders Gescheites oder Pädagogisches. Sie erzählt vielmehr vom Geburtstag oder vom Kaffeesatz, wie sie Krähenkönigin war und Vielliebchen gegessen hat, auch von der Weihnachtsgrütze, von der Elchjagd, vom Frühjahrsputz, und wie sie beim Arzt war und Detektiv gespielt hat. Sie erzählt auch von ihrem Mann und vom Kuckuck. Kurze Geschichten. Gegenwartsgeschichten. Familiengeschichten. Gut zum Vorlesen und zum Nachdenken. Vielleicht kann man solche Geschichten besonders gut in Norwegen erzählen, wo es so gewaltige Felsen und das brausende Meer und viele düstere Tage und Nächte gibt. Frau Löffelchen erzählt, und wir hören zu und begreifen plötzlich die ganze Welt, so wie ich als Kind durch eine einzige Geschichte begriffen hatte, was ich tun musste, aber das war nicht zu viel, weil Frau Löffelchen ja auch immer wieder groß wird.
Wer sich Frau Löffelchen ausgedacht hat? Alf Prøysen hat von 1914 bis 1970 gelebt. Er war ein norwegischer Schriftsteller, Dichter, Dramatiker und Musiker. Ist für den Norweger ein Nationalschatz, und den größten internationalen Erfolg hatte er mit seinen Geschichten von Frau Löffelchen. Sie wurde in ihrer geblümten Bluse und weißen Schürze von Annine Qvale gezeichnet, die von 1963 bis 2014 gelebt hat, und sie hat es geschafft, Frau Löffelchen so schlicht und alltäglich zu entwerfen, dass ganz augenfällig wird, was sie für eine besondere Person ist. Beide, der Dichter und seine Illustratorin, haben ein Buch geschaffen, das seinesgleichen sucht. (ab 8 Jahre)
Alf Prøysen: Die fabelhafte Frau Löffelchen. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Illustrationen von Annine Qvale. Urachhaus, Stuttgart 2019. 312 Seiten, 25 Euro.
Illustration aus Alf Prøysen, Annine Qvale: Die fabelhafte Frau Löffelchen
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Geschichten aus dem Alltag einer Frau mit feuerrotem Rock und feuerrotem Hut,
die „Frau Löffelchen“ heißt – weil sie manchmal so klein wird wie ein Teelöffel
VON SYBIL GRÄFIN SCHÖNFELDT
Ein Augenblick im Kinderleben, unvergessen: Ich fühlte mich von der ganzen Welt verraten und missverstanden und jammerte dem sehr geliebten Onkel etwas vor, damit er mir Recht und Trost gab. Er aber schaute mich nur an, und dann erzählte er mir eine kleine Geschichte. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie ich zuerst wütend war und dann plötzlich alles begriff. Und nun schlage ich dieses Buch auf, und es ist wie damals, doch diesmal ist es eine hagere, spitznasige alte Frau, die wieder eine Geschichte erzählt, die mit solchen Sätzen beginnt: „Es war einmal eine Frau, die legte sich abends schlafen, so wie Frauen es eben tun, und am Tag danach erwachte sie, so wie Frauen es eben tun, aber da war die Frau plötzlich so klein wie ein Teelöffel, und das passiert Frauen sonst eher selten.“ Diese Frau hat strubbelige Haare, trägt Schlappen, Schürze und einen feuerroten Rock, zum Schluss sogar einen feuerroten Hut, und sie heißt Frau Löffelchen, weil sie eben manchmal ein Teelöffel wird, klein und silbern, ohne Zauberspruch oder Berechnung.
Es passiert so plötzlich, wie das Leben manchmal ist, besonders für Kinder in der noch unbekannten Welt der Erwachsenen. Aber keine Sorge. Auch diese regen sich nicht auf, denn Frau Löffelchen wird immer wieder groß, und alles geht ohne Trara wieder weiter.
Und was sind das für Geschichten? Das sind die alltäglichsten Alltagsgeschichten, die man sich nur denken kann, nichts von Magie und Fantasie. Frau Löffelchen sagt auch nie etwas besonders Gescheites oder Pädagogisches. Sie erzählt vielmehr vom Geburtstag oder vom Kaffeesatz, wie sie Krähenkönigin war und Vielliebchen gegessen hat, auch von der Weihnachtsgrütze, von der Elchjagd, vom Frühjahrsputz, und wie sie beim Arzt war und Detektiv gespielt hat. Sie erzählt auch von ihrem Mann und vom Kuckuck. Kurze Geschichten. Gegenwartsgeschichten. Familiengeschichten. Gut zum Vorlesen und zum Nachdenken. Vielleicht kann man solche Geschichten besonders gut in Norwegen erzählen, wo es so gewaltige Felsen und das brausende Meer und viele düstere Tage und Nächte gibt. Frau Löffelchen erzählt, und wir hören zu und begreifen plötzlich die ganze Welt, so wie ich als Kind durch eine einzige Geschichte begriffen hatte, was ich tun musste, aber das war nicht zu viel, weil Frau Löffelchen ja auch immer wieder groß wird.
Wer sich Frau Löffelchen ausgedacht hat? Alf Prøysen hat von 1914 bis 1970 gelebt. Er war ein norwegischer Schriftsteller, Dichter, Dramatiker und Musiker. Ist für den Norweger ein Nationalschatz, und den größten internationalen Erfolg hatte er mit seinen Geschichten von Frau Löffelchen. Sie wurde in ihrer geblümten Bluse und weißen Schürze von Annine Qvale gezeichnet, die von 1963 bis 2014 gelebt hat, und sie hat es geschafft, Frau Löffelchen so schlicht und alltäglich zu entwerfen, dass ganz augenfällig wird, was sie für eine besondere Person ist. Beide, der Dichter und seine Illustratorin, haben ein Buch geschaffen, das seinesgleichen sucht. (ab 8 Jahre)
Alf Prøysen: Die fabelhafte Frau Löffelchen. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Illustrationen von Annine Qvale. Urachhaus, Stuttgart 2019. 312 Seiten, 25 Euro.
Illustration aus Alf Prøysen, Annine Qvale: Die fabelhafte Frau Löffelchen
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Sybil Gräfin Schönfeldt mag Alf Prøysens Kinderbuch sehr, schon weil sie hier ihr kindliches Ich wiederentdeckt. Das Buch erzählt aus dem Alltag einer Frau, genannt Frau Löffelchen, die ab und zu so klein wird wie ein Teelöffel. Laut Rezensentin hat das aber gar nichts Magisches, ganz im Gegenteil: Ihr gefällt die Normalität dieser "alltäglichsten Alltagsgeschichten", die sich frei von Lehrhaftigkeit gut zum Vorlesen und zum Nachdenken eignen und einen auf einmal "die ganze Welt" verstehen lassen, meint die Rezensentin. Für ebenso wichtig wie die Erzählung hält Schönfeldt die Illustrationen von Annine Qvale, deren Schlichtheit umso stärker hervorhebe, was für eine außergewöhnliche Protagonistin Frau Löffelchen sei. Ein besonderes Buch, das "seinesgleichen sucht", schließt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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