Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2005Das Holz der Historie
Sibylle Mulots Familienepos bietet ein Panorama des Jahrhunderts
Manch anderer Schriftsteller hätte aus dem Detailreichtum, den dieser Roman darbietet, wohl ein halbes Dutzend Bücher gefertigt. Doch Sibylle Mulot liebt es nun mal, einen Strom von Informationen über den Leser sprudeln zu lassen, das hat sie nicht erst in ihrem neuen Werk "Die Fabrikanten" bewiesen. Es gibt aber für uns keinen Anlaß zur ärgerlichen Abwehr, sie plaudert unterhaltsam und verführt uns mit ihren Einfällen dazu, auf jeder Seite neugierig auf die nächste zu sein.
Die Familie, deren Geschichte sie in vielen Geschichtchen erzählt, ist in Baden-Württemberg zu Hause. So wie Sibylle Mulot selbst, die 1950 in Reutlingen geboren wurde. Ihren Romanhelden hat sie ein Heimatstädtchen namens Berndorf zugeordnet, das wir im Lexikon nicht finden. Statt dessen finden wir Berneck und darin ein Sägewerk, ein Unternehmen von der Art, wie es in der Vita der "Fabrikanten" als einer ihrer Daseinskerne geschildert wird. Doch halten wir uns nicht mit der Frage auf, ob Berndorf aus Berneck abgeleitet ist, denn nicht die süddeutsche Geographie ist wichtig, sondern das Leben und Treiben der Menschen, die der Roman uns malt.
Kahn heißen sie und können ihre Ursprünge über Jahrhunderte zurückverfolgen. Einst arbeiteten sie als Flößer, später entdeckten sie, wie wichtig und daher gewinnbringend Holz für viele Wirtschaftszweige ist, so sattelten sie um auf Herstellung. Bau- und Möbelholz kam aus ihren Betrieben, später Papier, erst nur zum Schreiben, dann für stille Örtchen, schließlich für Wickelbabys. Und natürlich auch für Bücher, aus den Holz- und Papierfertigern wuchsen Verleger und Buchhändler. Die Familie gründete Werkniederlassungen bis hin nach Lübeck. So wurden die Kahns reich, blieben es aber nicht, denn das zwanzigste Jahrhundert, in dem die Story vor allem angesiedelt ist, schüttete seine Unheilsgaben auch über das Kahn-Imperium aus. Wozu noch kommt, daß Unternehmergenie sich nicht zwangsläufig weitervererbt, daß Kinder, Enkel, Urenkel von Geschäftshelden durchaus Wege gehen können, die dem Geschäft nicht bekommen.
Damit sind wir bei der Fabel des Romans. Den Einstieg vermittelt uns Lis, Tochter des letzten Firmenchefs, Buchhändlerin, Jahrgang 1955. Sie wäre keine schlechte Firmenleiterin, die Tradition jedoch erheischt den männlichen Nachfolger. Den gibt es zwar, aber Bruder Ladislaus kann sich mit Lis nicht messen. Die Schwester opfert eigene Zukunftspläne, auch ihre erste große Liebe, um die immensen Schulden des Vaters tilgen zu helfen. Sie geht unter im heimatlichen Kaff, in der familieneigenen Buchhandlung, in der erstickenden Vielfalt überlieferter Sitten, Überzeugungen, Gebote.
Und wir tauchen mit ihr ein in die Geschichte von Leuten, die lange Zeit so etwas wie die Fugger und Welser des Schwarzwalds waren und es nun nicht mehr sind. Eine schier unübersehbare Schar strudelt auf uns ein, die Ältesten repräsentieren den Wechsel vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, die Jüngsten die bevorstehende nächste Jahrhundertwende. Wir begegnen Schwaben, Norddeutschen, auch Juden, die bei den Kahns eingeheiratet hatten und um derentwillen die Familie eine Prise des nazistischen Unheils abbekam. Es ist nicht einfach, sich durch diese Fülle zu arbeiten, auch wenn jede Figur mit unverwechselbaren Eigenschaften ausgestattet ist. Dazu kommt, daß die erstgeborenen Kahn-Söhne jeder Generation Ladislaus heißen müssen, was Verwechslungen Tür und Tor öffnen würde, hätte die Autorin nicht vorgesorgt: mit einer präzisen Ahnentafel nämlich, die stets Auskunft gibt, wenn uns bei den riesigen verwandtschaftlichen Tafelrunden oder in den diversen Erinnerungspartien der Überblick versagt. Tatsächlich schaut man während der Lektüre, und das nicht nur wegen der Ladislause, immer wieder hinein.
Was am Ende dabei herauskommt, ist ein vielfältiges Mosaik deutscher Geschichte, zusammengesetzt aus der Mannigfaltigkeit vieler menschlicher Charaktere, die jeder für sich einen Extra-Roman wert gewesen wäre. Es kostet Arbeit, sich da hindurchzuwinden, aber die große Mühe zahlt sich aus. Der Leser wird für die Herausforderung belohnt mit einer Menge Wissen über historische Voraussetzungen auch seiner eigenen Existenz und, nicht zuletzt, mit unaufhörlicher Unterhaltung.
SABINE BRANDT
Sibylle Mulot: "Die Fabrikanten". Roman einer Familie. Diogenes Verlag, Zürich 2005. 386 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sibylle Mulots Familienepos bietet ein Panorama des Jahrhunderts
Manch anderer Schriftsteller hätte aus dem Detailreichtum, den dieser Roman darbietet, wohl ein halbes Dutzend Bücher gefertigt. Doch Sibylle Mulot liebt es nun mal, einen Strom von Informationen über den Leser sprudeln zu lassen, das hat sie nicht erst in ihrem neuen Werk "Die Fabrikanten" bewiesen. Es gibt aber für uns keinen Anlaß zur ärgerlichen Abwehr, sie plaudert unterhaltsam und verführt uns mit ihren Einfällen dazu, auf jeder Seite neugierig auf die nächste zu sein.
Die Familie, deren Geschichte sie in vielen Geschichtchen erzählt, ist in Baden-Württemberg zu Hause. So wie Sibylle Mulot selbst, die 1950 in Reutlingen geboren wurde. Ihren Romanhelden hat sie ein Heimatstädtchen namens Berndorf zugeordnet, das wir im Lexikon nicht finden. Statt dessen finden wir Berneck und darin ein Sägewerk, ein Unternehmen von der Art, wie es in der Vita der "Fabrikanten" als einer ihrer Daseinskerne geschildert wird. Doch halten wir uns nicht mit der Frage auf, ob Berndorf aus Berneck abgeleitet ist, denn nicht die süddeutsche Geographie ist wichtig, sondern das Leben und Treiben der Menschen, die der Roman uns malt.
Kahn heißen sie und können ihre Ursprünge über Jahrhunderte zurückverfolgen. Einst arbeiteten sie als Flößer, später entdeckten sie, wie wichtig und daher gewinnbringend Holz für viele Wirtschaftszweige ist, so sattelten sie um auf Herstellung. Bau- und Möbelholz kam aus ihren Betrieben, später Papier, erst nur zum Schreiben, dann für stille Örtchen, schließlich für Wickelbabys. Und natürlich auch für Bücher, aus den Holz- und Papierfertigern wuchsen Verleger und Buchhändler. Die Familie gründete Werkniederlassungen bis hin nach Lübeck. So wurden die Kahns reich, blieben es aber nicht, denn das zwanzigste Jahrhundert, in dem die Story vor allem angesiedelt ist, schüttete seine Unheilsgaben auch über das Kahn-Imperium aus. Wozu noch kommt, daß Unternehmergenie sich nicht zwangsläufig weitervererbt, daß Kinder, Enkel, Urenkel von Geschäftshelden durchaus Wege gehen können, die dem Geschäft nicht bekommen.
Damit sind wir bei der Fabel des Romans. Den Einstieg vermittelt uns Lis, Tochter des letzten Firmenchefs, Buchhändlerin, Jahrgang 1955. Sie wäre keine schlechte Firmenleiterin, die Tradition jedoch erheischt den männlichen Nachfolger. Den gibt es zwar, aber Bruder Ladislaus kann sich mit Lis nicht messen. Die Schwester opfert eigene Zukunftspläne, auch ihre erste große Liebe, um die immensen Schulden des Vaters tilgen zu helfen. Sie geht unter im heimatlichen Kaff, in der familieneigenen Buchhandlung, in der erstickenden Vielfalt überlieferter Sitten, Überzeugungen, Gebote.
Und wir tauchen mit ihr ein in die Geschichte von Leuten, die lange Zeit so etwas wie die Fugger und Welser des Schwarzwalds waren und es nun nicht mehr sind. Eine schier unübersehbare Schar strudelt auf uns ein, die Ältesten repräsentieren den Wechsel vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, die Jüngsten die bevorstehende nächste Jahrhundertwende. Wir begegnen Schwaben, Norddeutschen, auch Juden, die bei den Kahns eingeheiratet hatten und um derentwillen die Familie eine Prise des nazistischen Unheils abbekam. Es ist nicht einfach, sich durch diese Fülle zu arbeiten, auch wenn jede Figur mit unverwechselbaren Eigenschaften ausgestattet ist. Dazu kommt, daß die erstgeborenen Kahn-Söhne jeder Generation Ladislaus heißen müssen, was Verwechslungen Tür und Tor öffnen würde, hätte die Autorin nicht vorgesorgt: mit einer präzisen Ahnentafel nämlich, die stets Auskunft gibt, wenn uns bei den riesigen verwandtschaftlichen Tafelrunden oder in den diversen Erinnerungspartien der Überblick versagt. Tatsächlich schaut man während der Lektüre, und das nicht nur wegen der Ladislause, immer wieder hinein.
Was am Ende dabei herauskommt, ist ein vielfältiges Mosaik deutscher Geschichte, zusammengesetzt aus der Mannigfaltigkeit vieler menschlicher Charaktere, die jeder für sich einen Extra-Roman wert gewesen wäre. Es kostet Arbeit, sich da hindurchzuwinden, aber die große Mühe zahlt sich aus. Der Leser wird für die Herausforderung belohnt mit einer Menge Wissen über historische Voraussetzungen auch seiner eigenen Existenz und, nicht zuletzt, mit unaufhörlicher Unterhaltung.
SABINE BRANDT
Sibylle Mulot: "Die Fabrikanten". Roman einer Familie. Diogenes Verlag, Zürich 2005. 386 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Jürgen Verdofsky schätzt Sibylle Mulots Romane vor allem wegen ihres "Unterhaltungswerts", und auch dieses Buch über die Höhen und Tiefen einer badischen Fabrikantenfamilie enttäuscht ihn in dieser Hinsicht nicht. Die Geschichte des Holzwirtschaftsunternehmens über vier Generationen ist gleichzeitig die Geschichte einer Familie und in dieser Hinsicht ein Roman, wie man ihn "früher" schrieb, meint der Rezensent. Familiengeschichte wird hier mit Zeitgeschichte verknüpft, wobei der "dämonische Charakter badischer Wirtschaftssitten" die Rahmenhandlung dazu liefert. Als gelungenes "Kabinettstück" preist der Rezensent die Passage, in der die Feier des 475-jährigen Jubiläums der Firma sich unversehens zu einer "feindliche Übernahme" entwickelt. Wenn Mulot allerdings über den letzten Spross der Familie Lis Kahn erzählt, die für das Familienunternehmen ihre Liebesbeziehung beendet und das Studium abbricht, um am Ende mit fast leeren Händen dazustehen, will die Autorin das "ganze Ausmaß des Absturzes" gar nicht sehen, was Verdofsky bedauert. Lis Kahn gibt ihrer Mutter die Schuld an ihrem Unglück und das ist so "konventionell wie die gesamte Erzählhaltung", meckert der Rezensent, dem dieser Roman, wo "von der Moderne" lediglich ein "Ödipuskomplex" geblieben ist, insgesamt zu altmodisch ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Autorin erzählt in einer Sprache, die glänzt und glitzert wie das Meer zur Hochsommerzeit.« Nicole Hess / Tages-Anzeiger Tages-Anzeiger