Diese beiden Essays entstanden als Vorarbeiten zu einem Filmprojekt. In ihnen faßt der Rechtshistoriker Pierre Legendre jedoch sein umfassendes, bisher nicht ins Deutsche übersetzte Werk zusammen. Der Ursprung des Rechts liegt nach Legendres Abhandlungen über Recht, Genealogie und Psychoanalyse weniger in einem vernünftigen Vertrag als in Ritualen im Zusammenhang von Gewalt und ihrer Begrenzung.
Die weitreichenden Implikationen dieses Ansatzes werden in den Essays 'Die Fabrikation des abendländischen Menschen' und 'Der mordende Mensch' umrissen. 'Unser Ausgangspunkt ist die Zwangsläufigkeit, mit der die Wege des Denkens in die uralte Frage münden, in wessen Namen man leben kann. Warum leben wir? Ja, warum?'
Die weitreichenden Implikationen dieses Ansatzes werden in den Essays 'Die Fabrikation des abendländischen Menschen' und 'Der mordende Mensch' umrissen. 'Unser Ausgangspunkt ist die Zwangsläufigkeit, mit der die Wege des Denkens in die uralte Frage münden, in wessen Namen man leben kann. Warum leben wir? Ja, warum?'
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2000Pierre Legendres Weg zur Vernunft
Der Mensch, der seinesgleichen ermordet, setzt sich über das Gesetz seiner Väter hinweg, das sein Dasein erst ermöglicht hat, und stellt sich außerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Indem er jemandem das Leben stiehlt, beraubt er sich seiner sozialen raison d'être, seines Grundes zu leben. Bar jeder Vernunft, ein Akt des Wahnsinns, wird der Mord - spiegelverkehrt - gleichzeitig zum Mysterium, das die Gesellschaft in Frage stellt. Jeder Affekt, der uns hilft, einen Mord zu verstehen, sei es Gier, Hass, Eifersucht, Rache, Verzweiflung, Notwehr oder Angst, rückt uns näher an den Mörder und lässt es denkbar erscheinen, dass wir selbst an seiner Stelle hätten stehen können. Der Mord offenbart, wie zerbrechlich die Voraussetzungen unseres Gesellschaftsgefüges sind, in das jederzeit die Gewalt einbrechen kann, wenn wir ihr nicht vorbeugen durch eine auf Vernunft gegründete Ordnung. Doch worin besteht diese Vernunft? Und wie vermittelt eine Institution, eine Gesellschaft sie ihren Mitgliedern? Wie wird ein Subjekt institutionalisiert? Diese Frage hat sich der 1930 geborene französische Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre, der an der Pariser Ecole Pratique des Hautes Etudes Religionswissenschaften unterrichtet und ein Institut zur Erforschung von Fragen der Filiation unterhält, in mittlerweile einundzwanzig Büchern gestellt. Im Gegensatz zur Kulturanthropologie von René Girard, die in den so genannten Kulturwissenschaften resakralisierende Urstände feiert, steht für Pierre Legendre am Beginn jeder sozialen Gemeinschaft nicht das Opfer, sondern die Vermeidung des Opfertums vermöge des Gesetzes. Vor dem Gesetz sind wir alle gleich, weil es uns übersteigt und Grenzen setzt: Insofern verkörpert das Gesetz für Legendre die Vernunft, die das Leben und seine Fortsetzung erst ermöglicht. Die Kehrseite des Gesetzes, die Psychose, hat Legendre im bislang einzigen auf Deutsch vorliegenden Buch, "Das Verbrechen des Gefreiten Lortie" (F.A.Z. vom 6. Oktober 1998), untersucht. Die tragische Geschichte des kanadischen Amokläufers Denis Lortie, der am 8. Mai 1984 durch einen Anschlag auf den Präsidenten der Nationalversammlung das Bild seines terroristischen Vaters in sich töten wollte, dokumentiert, wie erst der Gerichtsprozess für den Attentäter jene symbolische Ordnung errichtet, die ihm endlich erlaubt, seine Grenzen und somit Halt an sich selbst zu finden. In Form des Essays "Der mordende Mensch" hat dieser Fall den Anstoß zu Gerald Caillats Film "Die Fabrikation des abendländischen Menschen" gegeben, der eine Sammlung pointierter Reflexionen von Legendre in Szene setzt und am 15. November 1996 von Arte ausgestrahlt worden ist. Beide Texte liegen jetzt in einem handlichen kleinen Büchlein von großem Gewicht vor. (Pierre Legendre: "Die Fabrikation des abendländischen Menschen". Zwei Essays. Aus dem Französischen von Andreas Mayer. Verlag Turia + Kant, Wien 1999. 63 S., br., 20,- DM) Die Bibliographie von siebzehn Büchern Pierre Legendres, die auf einer Seite sieben grobe Fehler - etwa "Iustiani" statt "Iustiniani" oder "Paroles poétique" statt "poétiques" - aneinander reiht, verheißt allerdings nichts Gutes für die deutsche Übersetzung, die schon das Satzbild von Legendres Aphorismen nicht korrekt wiedergibt, weil viele der gliedernden Leerzeilen weggefallen sind. Tatsächlich ist die Übersetzung, die sich viele Freiheiten nimmt, gelegentlich irreführend: So spricht Legendre im Zusammenhang mit der "Fabrikation des abendländischen Menschen" nicht von "anderen Zivilisationen", sondern von anderen Formen der Zivilisierung (civilisations). Manchmal ist die Übersetzung auch schlicht widersinnig: Das Rätsel, Lortie "ne militait pour aucune chose", gerät ihr zur raunenden Lösung, dass er "kämpfte nicht ohne einen Grund zu haben". Seinen fest gefügten Platz findet der Mensch in der deutschen Fassung nicht im Schrein (l'écrin), sondern "im Schmuckkästchen des Universums". Er ist schon aus geringeren Anlässen Amok gelaufen.
MARTIN STINGELIN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Mensch, der seinesgleichen ermordet, setzt sich über das Gesetz seiner Väter hinweg, das sein Dasein erst ermöglicht hat, und stellt sich außerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Indem er jemandem das Leben stiehlt, beraubt er sich seiner sozialen raison d'être, seines Grundes zu leben. Bar jeder Vernunft, ein Akt des Wahnsinns, wird der Mord - spiegelverkehrt - gleichzeitig zum Mysterium, das die Gesellschaft in Frage stellt. Jeder Affekt, der uns hilft, einen Mord zu verstehen, sei es Gier, Hass, Eifersucht, Rache, Verzweiflung, Notwehr oder Angst, rückt uns näher an den Mörder und lässt es denkbar erscheinen, dass wir selbst an seiner Stelle hätten stehen können. Der Mord offenbart, wie zerbrechlich die Voraussetzungen unseres Gesellschaftsgefüges sind, in das jederzeit die Gewalt einbrechen kann, wenn wir ihr nicht vorbeugen durch eine auf Vernunft gegründete Ordnung. Doch worin besteht diese Vernunft? Und wie vermittelt eine Institution, eine Gesellschaft sie ihren Mitgliedern? Wie wird ein Subjekt institutionalisiert? Diese Frage hat sich der 1930 geborene französische Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre, der an der Pariser Ecole Pratique des Hautes Etudes Religionswissenschaften unterrichtet und ein Institut zur Erforschung von Fragen der Filiation unterhält, in mittlerweile einundzwanzig Büchern gestellt. Im Gegensatz zur Kulturanthropologie von René Girard, die in den so genannten Kulturwissenschaften resakralisierende Urstände feiert, steht für Pierre Legendre am Beginn jeder sozialen Gemeinschaft nicht das Opfer, sondern die Vermeidung des Opfertums vermöge des Gesetzes. Vor dem Gesetz sind wir alle gleich, weil es uns übersteigt und Grenzen setzt: Insofern verkörpert das Gesetz für Legendre die Vernunft, die das Leben und seine Fortsetzung erst ermöglicht. Die Kehrseite des Gesetzes, die Psychose, hat Legendre im bislang einzigen auf Deutsch vorliegenden Buch, "Das Verbrechen des Gefreiten Lortie" (F.A.Z. vom 6. Oktober 1998), untersucht. Die tragische Geschichte des kanadischen Amokläufers Denis Lortie, der am 8. Mai 1984 durch einen Anschlag auf den Präsidenten der Nationalversammlung das Bild seines terroristischen Vaters in sich töten wollte, dokumentiert, wie erst der Gerichtsprozess für den Attentäter jene symbolische Ordnung errichtet, die ihm endlich erlaubt, seine Grenzen und somit Halt an sich selbst zu finden. In Form des Essays "Der mordende Mensch" hat dieser Fall den Anstoß zu Gerald Caillats Film "Die Fabrikation des abendländischen Menschen" gegeben, der eine Sammlung pointierter Reflexionen von Legendre in Szene setzt und am 15. November 1996 von Arte ausgestrahlt worden ist. Beide Texte liegen jetzt in einem handlichen kleinen Büchlein von großem Gewicht vor. (Pierre Legendre: "Die Fabrikation des abendländischen Menschen". Zwei Essays. Aus dem Französischen von Andreas Mayer. Verlag Turia + Kant, Wien 1999. 63 S., br., 20,- DM) Die Bibliographie von siebzehn Büchern Pierre Legendres, die auf einer Seite sieben grobe Fehler - etwa "Iustiani" statt "Iustiniani" oder "Paroles poétique" statt "poétiques" - aneinander reiht, verheißt allerdings nichts Gutes für die deutsche Übersetzung, die schon das Satzbild von Legendres Aphorismen nicht korrekt wiedergibt, weil viele der gliedernden Leerzeilen weggefallen sind. Tatsächlich ist die Übersetzung, die sich viele Freiheiten nimmt, gelegentlich irreführend: So spricht Legendre im Zusammenhang mit der "Fabrikation des abendländischen Menschen" nicht von "anderen Zivilisationen", sondern von anderen Formen der Zivilisierung (civilisations). Manchmal ist die Übersetzung auch schlicht widersinnig: Das Rätsel, Lortie "ne militait pour aucune chose", gerät ihr zur raunenden Lösung, dass er "kämpfte nicht ohne einen Grund zu haben". Seinen fest gefügten Platz findet der Mensch in der deutschen Fassung nicht im Schrein (l'écrin), sondern "im Schmuckkästchen des Universums". Er ist schon aus geringeren Anlässen Amok gelaufen.
MARTIN STINGELIN
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