Ein Jahrhundert vor unserem literarischen Auge. Das epochale Werk des Meisters der Erzählung Südosteuropas liegt nun endlich in einer mustergültigen, gewissenhaften Übersetzung von Gero Fischer und Silvija Hinzmann vor. Die Fahnen zeigen ein Kaleidoskop der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte, das Krleza zu einem großen europäischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts macht.Ina Jun-Broda rief mich 1978 zu sich. Sie redete auf mich ein: "Die Fahnen, die müssen Sie verlegen." Ich, jung, unerfahren, wurde von der Dicke des Romans fast erschlagen. Fünf Bände, 3000 Seiten. Mein verlegerisches Leben hatte erst begonnen.1979 erzählte mir Ina Jun-Broda, die legendäre Übersetzerin aus den jugoslawischen Sprachen, von ihrem Gespräch mit Miroslav Krleza: "Für eine deutschsprachige Übersetzung kürze ich Ihnen Die Fahnen ein. Auf 800 Seiten. Weniger geht nicht. Und Sie übersetzen das!"Krleza stirbt Ende 1981, Ina folgt bald danach (August 1983).Krieg und Frieden. Europa zerfällt. Zwischen Wien und Zagreb, Budapest und Belgrad - quer durch Musils Kakanien. Die letzten Tage der Menschheit brechen an. Züge rasen hin und her. Politik, Wirtschaft, Regierungen, Beziehungen und Familien zerbrechen.In seinem umfangreichsten Werk, dem ab 1962 veröffentlichten fünfbändigen Roman Die Fahnen (Zastave), der in den Jahren 1912 bis 1922 spielt und jetzt erstmals in einer deutschen Übersetzung vorliegt, zeichnet Krleza ein Panorama von der geistesgeschichtlichen und politischen Situation Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Schicksal von Bürgern, Aristokraten, Politikern, Ministern, Bürokraten, Generälen, Kriegsgewinnlern und Träumern, die ganze Galerie der ungarischen, kroatischen und serbischen Intelligenz - steht im Vordergrund dieser Chronik. Kriegsereignisse und Liebesbeziehungen werden miteinander verwoben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2017Von Zagreb aufs Welt-Wirrwarr geschaut
Er ist der große Unbekannte der europäischen Literatur: Endlich erscheint Miroslav Krlezas Hauptwerk auf Deutsch
"Ich war bei Krleza. Miroslav Krleza ist ein schwarzhaariger, rundlicher, etwas weich aussehender, mittelgroßer Mann, sein Haar wird schon schütter, er wirkt ein bisschen unterwürfig und hochmütig zugleich, meist aber blitzen seine Augen spöttisch." Dies notierte Ferenc Fejtö am 23. Juli 1934 in sein Tagebuch. Der damals fünfunddreißigjährige ungarische Historiker, der später im Pariser Exil als François Fejtö eine wichtige Stimme in der europäischen Kultur wurde, war aus seinem Land geflohen, weil er die politische Engstirnigkeit nicht mehr ertragen konnte. Er reiste durch Jugoslawien und wollte den legendären Zagreber Schriftsteller kennenlernen, der kaum älter war als Fejtö. Der einundvierzigjährige Krleza war bereits eine Autorität im Konzert der europäischen Intellektuellen. Der Heißsporn Fejtö erhofft sich viel von der Begegnung, Krleza aber lässt ihn abblitzen: "So oft ich etwas wissen wollte, über seine Person und über Kroatien, über die Literatur oder die Politik, unterbrach er mich spöttisch. ,Sie wollen mich zwingen, über die Themen zu sprechen, über die Sie reden wollen'." Die Atmosphäre blieb frostig, und Fejtö resümiert: "Unser Gespräch verlief geharnischt, wie im Duell."
Auch eine andere Annäherung scheiterte. 1960 bereiste Jean-Paul Sartre Jugoslawien. Auch er wusste von Krelza und wollte ihn kennenlernen: Sartre soll gesagt haben, hätte er gewusst, dass Krleza bereits 1932 seinen Roman "Die Rückkehr des Filip Latinovicz" geschrieben habe, hätte er den "Ekel" nicht verfasst. Sartre war voller Bewunderung, Krleza blieb reserviert. Sie diskutierten bis spät in die Nacht, und doch kam der Zagreber später zu dem Urteil, Sartre sei "kein interessanter Schriftsteller" gewesen.
Woher kommt so viel Hochmut? Vielleicht, weil man in einem kleinen Land wie Kroatien auf verlorenem Posten kämpft, um Anerkennung ringt und nie den europäisch-geistigen Olymp erklimmt, der ihm zugestanden hätte wie Fejtö und Sartre. Krleza war überzeugter Europäer, er kannte sich bestens in der europäischen Literatur und Philosophie aus, in Kroatien war er die unbestrittene literarische und geistige Autorität. Er wurde mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen und war nach dem Zweiten Weltkrieg Direktor des Jugoslawischen Lexikographischen Instituts, eine Art Encyklopädia Britannica für den Balkan. Sein Gesamtwerk zählt gut vierzig Bände. Krleza wurde 1893 in Agram (Zagreb) geboren und lebte dort bis zu seinem Tod 1981.
Ein großer, ein großartiger Wurf ist Krleza gelungen mit seinem fünfbändigen Roman "Die Fahnen", veröffentlicht 1962 bis 1968. Auf zweitausend Seiten beschreibt der Autor zehn Jahre, die Europa erschütterten und veränderten, 1912 bis 1922. Wie eine balkanische Parallelaktion zu Robert Musil beschreibt Krleza den Zusammenbruch des k.u.k. Reichs, und den verzweifelten Kampf der kleinen Länder, sich aus den Fesseln der Großmacht und aus dem habsburgischen Völkergefängnis zu befreien.
Die Donaumonarchie ist morsch und hat jede Kraft verloren.
Nicht erst der Krieg löst das Kaiserreich auf, schon vorher leidet der Protagonist Kamilo Emericki unter den überalterten politischen Verhältnissen. Mit sarkastischer Ironie wird der Wiener Reichstag beschrieben: "Wie hoffnungslos grau und verschimmelt ist dort alles, wie in einem Grab. So eine Masse von Idioten wie in dieser Monarchie lässt sich schwer auf einem Haufen finden, und im Wiener Reichstag hat sich ein Panoptikum von Mumien versammelt, wie es die Welt noch nicht gesehen hat." Was der Vater Kamilos verehrt, ist für den Sohn nur noch die Spottgeburt einer Vogelscheuche. Nicht die Monarchie, auch nicht der Nationalismus sind die Garanten für eine friedliche Zukunft. Der Held in Krlezas Roman, Kamilo Emericki junior, kämpft und streitet für eine europäische, eine sozialistische Lösung, dafür legt er auch nach dem Krieg seinen Adelstitel ab.
Der Roman ist im großen Widerstreit der Kräfte und Meinungen angelegt. Kamilo Emericki liegt in Dauerfehde mit dem Vater, ebenfalls Kamilo mit Namen, der zunächst der Habsburger Krone verpflichtet ist, nach dem Krieg Minister des serbischen Königreichs wird - stets auf der Seite der Herrschenden. Der Vater, der den politisch übermütigen Sohn immer wieder beschützt vor Verfolgung und Kerkerhaft, bleibt zeitlebens sein Widersacher, ein klassischer Vater-Sohn-Konflikt, den der Autor in langen Dialogen und inneren Monologen in Szene setzt. Die Freunde von Kamilo junior fühlen sich als Opposition, rebellieren mal radikal, riskieren Gefängnis, mal bleibt ihr Protest gemäßigt, wie auch bei Kamilo, der zwar nach dem Krieg Kommunist wird, aber jede Form von Terrorismus ablehnt. Seine Familie ist nachsichtig, behandelt ihn wie den verlorenen Sohn, der auf den rechten Weg gebracht werden muss. In langen Passagen lässt der Autor seine Protagonisten Streitgespräche führen, zitiert Briefe und Zeitungsartikel und vermittelt dem Leser das Gefühl, er nähme teil an einer aufregenden Zeitgeschichte, die explosiv und unberechenbar ist.
Der Schriftsteller beschreibt eine Männergesellschaft und Männerwelt. Frauen bleiben Randfiguren, sind unterbemittelt, politisch desinteressiert. Das politische Engagement Kamilos lässt seine Geliebten kalt, schreckt sie ab. Die erste Liebe Kamilos gilt Jolanda, der Tochter eines ungarischen Verlegers, dann lernt er Ana, die ungarische "Poetessa" kennen, die ihn fesselt; er beginnt sich von Jolanda zu lösen. Am Ende des ersten Bands stirbt Jolanda und Kamilo hat also freie Hand. Aber auch die Liebe zur verheirateten Lyrikerin Ana ist ohne Fortune. Sie reist mit einem Galan durch Europa. Schließlich nimmt er Alisa zur Frau, aber die Ehe ist von Beginn an ein Desaster, Gleichgültigkeit und Gefühlskälte bestimmen den Alltag.
Antikriegsbuch, Vater-Sohn-Drama, Entwicklungsroman.
Nach neun Jahren gibt es ein Wiedersehen von Ana und Kamilo in Zagreb, bevor Ana mit ihrem Gatten nach New York reist. Der fünfte Band endet mit ihrem Tod nach der Ankunft in der Neuen Welt. Das ist ein überraschendes Ende dieses genialen Epochengemäldes, denn Kamilo ist von den großen Fragen der Politik gefesselt, private Beziehungen bleiben eine quantité négligeable, ausgenommen sein Jugendfreund Joja, aber der ist ja männlich. Zwischen Zagreb und Budapest, Wien und Belgrad spielt sich sein politisch aufwühlendes Leben ab, hier schürzen sich die Knoten zum großen Welt-Wirrwarr. Krieg, daran lässt der Autor keinen Zweifel, "ist eine Schweinerei und ein schweinisches Verenden, Totengräber, Friedhöfe und Gräber, das ist der Krieg, und in all der Scheiße: Massen von Generälen, die wie alte Hühner immer dieselbe Phrase gackern".
Grandios entwirft der Autor bereits für das Jahr 1912 Stimmungsbilder, in denen die bevorstehende Katastrophe des Weltenbrandes sich ankündet. In düsteren Schilderungen empört er sich über das Elend des Krieges und die Menschenverachtung der Generäle. Die Donaumonarchie ist morsch und hat jede Kraft verloren, überall regen sich freiheitliche Stimmen, die zwar noch nicht kräftig, aber doch auf dem Weg in die Selbstbestimmung sind. Der Weg in die Unabhängigkeit und Freiheit ist steinig. Denn auch das neu entstandene Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen nach dem Ersten Weltkrieg erfüllt nicht die Hoffnungen der fortschrittlichen Kräfte. Krleza, der in Tito seine Hoffnungen setzte, auch wenn er nicht immer mit ihm politisch übereinstimmte, war sich stets bewusst, wer am Rande Europas lebt, muss um Anerkennung kämpfen: "Das imposante Gebäude der europäischen Zivilisation ist aufgebaut auf den Knochen zahlloser besiegter europäischer Völker . . . Neben dem klassischen westeuropäischen, museal-grandiosen, historischpathetischen Europa lebt noch ein zweites, das bescheidene, in die Ecke gedrängte, seit Jahrhunderten immer wieder unterworfene periphere Europa der östlichen und südöstlichen europäischen Völker."
Miroslav Krleza ist eine gewaltige Stimme aus dieser Welt am Rande Europas. "Die Fahnen" ist ein epochaler Roman, ein Antikriegsbuch, ein Vater-Sohn-Drama, ein Entwicklungsroman über einen Heranwachsenden in bedrohlichen Zeiten. Als Dramatiker, Lyriker, politischer Essayist und Romancier hat Krleza das Gemälde seiner Zeit gezeichnet, ohne Tabus, ohne Kompromisse, voller Leidenschaft und mit überwältigendem sprachlichen Gestus. Manchmal packt ihn der Furor der Wut, und in großen Wortkaskaden geißelt er die hybride Gesellschaft.
Fünfzig Jahre hat es gebraucht, bis dieser Epochen-Roman endlich auf Deutsch zu lesen ist, in einer herausragenden Übersetzung von Silvija Hinzmann und Gero Fischer. Neun Jahre lang hat der kleine und feine Wieser Verlag in Klagenfurt die Herausgabe betreut und nun der literarischen Welt im deutschsprachigen Raum ein großes Geschenk gemacht. Es gilt, einen europäischen Schriftsteller zu entdecken. Vielleicht ein Witz der Geschichte: In Zagreb gibt es inzwischen ein wunderbar original eingerichtetes Bela-und-Miroslav-Krleza-Museum in der ehemaligen jüdischen Bankiersvilla, in welcher der Schriftsteller mit seiner Frau die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbracht hat; geöffnet ist das Museum an einem Tag in der Woche, dienstags von 11 bis 17 Uhr.
LERKE VON SAALFELD.
Miroslav Krleza: "Die Fahnen". Roman.
Aus dem Kroatischen von Silvija Hinzmann und Gero Fischer. Wieser Verlag, Klagenfurt 2016. Fünf Bände und Glossarband. Zus. im Schuber 2170 S., geb., 75,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er ist der große Unbekannte der europäischen Literatur: Endlich erscheint Miroslav Krlezas Hauptwerk auf Deutsch
"Ich war bei Krleza. Miroslav Krleza ist ein schwarzhaariger, rundlicher, etwas weich aussehender, mittelgroßer Mann, sein Haar wird schon schütter, er wirkt ein bisschen unterwürfig und hochmütig zugleich, meist aber blitzen seine Augen spöttisch." Dies notierte Ferenc Fejtö am 23. Juli 1934 in sein Tagebuch. Der damals fünfunddreißigjährige ungarische Historiker, der später im Pariser Exil als François Fejtö eine wichtige Stimme in der europäischen Kultur wurde, war aus seinem Land geflohen, weil er die politische Engstirnigkeit nicht mehr ertragen konnte. Er reiste durch Jugoslawien und wollte den legendären Zagreber Schriftsteller kennenlernen, der kaum älter war als Fejtö. Der einundvierzigjährige Krleza war bereits eine Autorität im Konzert der europäischen Intellektuellen. Der Heißsporn Fejtö erhofft sich viel von der Begegnung, Krleza aber lässt ihn abblitzen: "So oft ich etwas wissen wollte, über seine Person und über Kroatien, über die Literatur oder die Politik, unterbrach er mich spöttisch. ,Sie wollen mich zwingen, über die Themen zu sprechen, über die Sie reden wollen'." Die Atmosphäre blieb frostig, und Fejtö resümiert: "Unser Gespräch verlief geharnischt, wie im Duell."
Auch eine andere Annäherung scheiterte. 1960 bereiste Jean-Paul Sartre Jugoslawien. Auch er wusste von Krelza und wollte ihn kennenlernen: Sartre soll gesagt haben, hätte er gewusst, dass Krleza bereits 1932 seinen Roman "Die Rückkehr des Filip Latinovicz" geschrieben habe, hätte er den "Ekel" nicht verfasst. Sartre war voller Bewunderung, Krleza blieb reserviert. Sie diskutierten bis spät in die Nacht, und doch kam der Zagreber später zu dem Urteil, Sartre sei "kein interessanter Schriftsteller" gewesen.
Woher kommt so viel Hochmut? Vielleicht, weil man in einem kleinen Land wie Kroatien auf verlorenem Posten kämpft, um Anerkennung ringt und nie den europäisch-geistigen Olymp erklimmt, der ihm zugestanden hätte wie Fejtö und Sartre. Krleza war überzeugter Europäer, er kannte sich bestens in der europäischen Literatur und Philosophie aus, in Kroatien war er die unbestrittene literarische und geistige Autorität. Er wurde mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen und war nach dem Zweiten Weltkrieg Direktor des Jugoslawischen Lexikographischen Instituts, eine Art Encyklopädia Britannica für den Balkan. Sein Gesamtwerk zählt gut vierzig Bände. Krleza wurde 1893 in Agram (Zagreb) geboren und lebte dort bis zu seinem Tod 1981.
Ein großer, ein großartiger Wurf ist Krleza gelungen mit seinem fünfbändigen Roman "Die Fahnen", veröffentlicht 1962 bis 1968. Auf zweitausend Seiten beschreibt der Autor zehn Jahre, die Europa erschütterten und veränderten, 1912 bis 1922. Wie eine balkanische Parallelaktion zu Robert Musil beschreibt Krleza den Zusammenbruch des k.u.k. Reichs, und den verzweifelten Kampf der kleinen Länder, sich aus den Fesseln der Großmacht und aus dem habsburgischen Völkergefängnis zu befreien.
Die Donaumonarchie ist morsch und hat jede Kraft verloren.
Nicht erst der Krieg löst das Kaiserreich auf, schon vorher leidet der Protagonist Kamilo Emericki unter den überalterten politischen Verhältnissen. Mit sarkastischer Ironie wird der Wiener Reichstag beschrieben: "Wie hoffnungslos grau und verschimmelt ist dort alles, wie in einem Grab. So eine Masse von Idioten wie in dieser Monarchie lässt sich schwer auf einem Haufen finden, und im Wiener Reichstag hat sich ein Panoptikum von Mumien versammelt, wie es die Welt noch nicht gesehen hat." Was der Vater Kamilos verehrt, ist für den Sohn nur noch die Spottgeburt einer Vogelscheuche. Nicht die Monarchie, auch nicht der Nationalismus sind die Garanten für eine friedliche Zukunft. Der Held in Krlezas Roman, Kamilo Emericki junior, kämpft und streitet für eine europäische, eine sozialistische Lösung, dafür legt er auch nach dem Krieg seinen Adelstitel ab.
Der Roman ist im großen Widerstreit der Kräfte und Meinungen angelegt. Kamilo Emericki liegt in Dauerfehde mit dem Vater, ebenfalls Kamilo mit Namen, der zunächst der Habsburger Krone verpflichtet ist, nach dem Krieg Minister des serbischen Königreichs wird - stets auf der Seite der Herrschenden. Der Vater, der den politisch übermütigen Sohn immer wieder beschützt vor Verfolgung und Kerkerhaft, bleibt zeitlebens sein Widersacher, ein klassischer Vater-Sohn-Konflikt, den der Autor in langen Dialogen und inneren Monologen in Szene setzt. Die Freunde von Kamilo junior fühlen sich als Opposition, rebellieren mal radikal, riskieren Gefängnis, mal bleibt ihr Protest gemäßigt, wie auch bei Kamilo, der zwar nach dem Krieg Kommunist wird, aber jede Form von Terrorismus ablehnt. Seine Familie ist nachsichtig, behandelt ihn wie den verlorenen Sohn, der auf den rechten Weg gebracht werden muss. In langen Passagen lässt der Autor seine Protagonisten Streitgespräche führen, zitiert Briefe und Zeitungsartikel und vermittelt dem Leser das Gefühl, er nähme teil an einer aufregenden Zeitgeschichte, die explosiv und unberechenbar ist.
Der Schriftsteller beschreibt eine Männergesellschaft und Männerwelt. Frauen bleiben Randfiguren, sind unterbemittelt, politisch desinteressiert. Das politische Engagement Kamilos lässt seine Geliebten kalt, schreckt sie ab. Die erste Liebe Kamilos gilt Jolanda, der Tochter eines ungarischen Verlegers, dann lernt er Ana, die ungarische "Poetessa" kennen, die ihn fesselt; er beginnt sich von Jolanda zu lösen. Am Ende des ersten Bands stirbt Jolanda und Kamilo hat also freie Hand. Aber auch die Liebe zur verheirateten Lyrikerin Ana ist ohne Fortune. Sie reist mit einem Galan durch Europa. Schließlich nimmt er Alisa zur Frau, aber die Ehe ist von Beginn an ein Desaster, Gleichgültigkeit und Gefühlskälte bestimmen den Alltag.
Antikriegsbuch, Vater-Sohn-Drama, Entwicklungsroman.
Nach neun Jahren gibt es ein Wiedersehen von Ana und Kamilo in Zagreb, bevor Ana mit ihrem Gatten nach New York reist. Der fünfte Band endet mit ihrem Tod nach der Ankunft in der Neuen Welt. Das ist ein überraschendes Ende dieses genialen Epochengemäldes, denn Kamilo ist von den großen Fragen der Politik gefesselt, private Beziehungen bleiben eine quantité négligeable, ausgenommen sein Jugendfreund Joja, aber der ist ja männlich. Zwischen Zagreb und Budapest, Wien und Belgrad spielt sich sein politisch aufwühlendes Leben ab, hier schürzen sich die Knoten zum großen Welt-Wirrwarr. Krieg, daran lässt der Autor keinen Zweifel, "ist eine Schweinerei und ein schweinisches Verenden, Totengräber, Friedhöfe und Gräber, das ist der Krieg, und in all der Scheiße: Massen von Generälen, die wie alte Hühner immer dieselbe Phrase gackern".
Grandios entwirft der Autor bereits für das Jahr 1912 Stimmungsbilder, in denen die bevorstehende Katastrophe des Weltenbrandes sich ankündet. In düsteren Schilderungen empört er sich über das Elend des Krieges und die Menschenverachtung der Generäle. Die Donaumonarchie ist morsch und hat jede Kraft verloren, überall regen sich freiheitliche Stimmen, die zwar noch nicht kräftig, aber doch auf dem Weg in die Selbstbestimmung sind. Der Weg in die Unabhängigkeit und Freiheit ist steinig. Denn auch das neu entstandene Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen nach dem Ersten Weltkrieg erfüllt nicht die Hoffnungen der fortschrittlichen Kräfte. Krleza, der in Tito seine Hoffnungen setzte, auch wenn er nicht immer mit ihm politisch übereinstimmte, war sich stets bewusst, wer am Rande Europas lebt, muss um Anerkennung kämpfen: "Das imposante Gebäude der europäischen Zivilisation ist aufgebaut auf den Knochen zahlloser besiegter europäischer Völker . . . Neben dem klassischen westeuropäischen, museal-grandiosen, historischpathetischen Europa lebt noch ein zweites, das bescheidene, in die Ecke gedrängte, seit Jahrhunderten immer wieder unterworfene periphere Europa der östlichen und südöstlichen europäischen Völker."
Miroslav Krleza ist eine gewaltige Stimme aus dieser Welt am Rande Europas. "Die Fahnen" ist ein epochaler Roman, ein Antikriegsbuch, ein Vater-Sohn-Drama, ein Entwicklungsroman über einen Heranwachsenden in bedrohlichen Zeiten. Als Dramatiker, Lyriker, politischer Essayist und Romancier hat Krleza das Gemälde seiner Zeit gezeichnet, ohne Tabus, ohne Kompromisse, voller Leidenschaft und mit überwältigendem sprachlichen Gestus. Manchmal packt ihn der Furor der Wut, und in großen Wortkaskaden geißelt er die hybride Gesellschaft.
Fünfzig Jahre hat es gebraucht, bis dieser Epochen-Roman endlich auf Deutsch zu lesen ist, in einer herausragenden Übersetzung von Silvija Hinzmann und Gero Fischer. Neun Jahre lang hat der kleine und feine Wieser Verlag in Klagenfurt die Herausgabe betreut und nun der literarischen Welt im deutschsprachigen Raum ein großes Geschenk gemacht. Es gilt, einen europäischen Schriftsteller zu entdecken. Vielleicht ein Witz der Geschichte: In Zagreb gibt es inzwischen ein wunderbar original eingerichtetes Bela-und-Miroslav-Krleza-Museum in der ehemaligen jüdischen Bankiersvilla, in welcher der Schriftsteller mit seiner Frau die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbracht hat; geöffnet ist das Museum an einem Tag in der Woche, dienstags von 11 bis 17 Uhr.
LERKE VON SAALFELD.
Miroslav Krleza: "Die Fahnen". Roman.
Aus dem Kroatischen von Silvija Hinzmann und Gero Fischer. Wieser Verlag, Klagenfurt 2016. Fünf Bände und Glossarband. Zus. im Schuber 2170 S., geb., 75,- [Euro].
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