Die Gesellschaften Europas, in denen wir heute leben, werden zunehmend komplex. Ethnische, religiöse und kulturelle Konflikte durchziehen sie und machen eine Suche nach neuen Entwürfen des Zusammenlebens erforderlich. Will eine Gesellschaft kulturelle Vielfalt und Persönlichkeitsrechte unter einen Hut bringen, das zeigt Cinzia Sciuto in ihrem Buch, muss sie zwischen Staat und Religion unterscheiden. Sie muss laizistisch sein. Laizität ermöglicht den diversen Spielarten von Religionen und Weltsichten erst, in einer pluralistischen Gesellschaft nebeneinander zu existieren. Sie garantiert auf der einen Seite die Religionsfreiheit, gleichzeitig legt sie jedoch Prinzipien fest, von denen nicht abgewichen werden darf, auch nicht im Namen irgendeiner Gottheit. Laizität ist die vorpolitische Voraussetzung für ein ziviles Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft, in dem die Freiheiten und Menschenrechte von allen respektiert werden. Dieser politische Essay in der Art wie die von Carolin Emcke oder Hamed Abdel-Samad zeigt die problematische Kehrseite des Multikulturalismus. Wo Anerkennung und Respekt für die Identitäten der diversen ethnischen, religiösen und kulturellen Bestandteile einer Gesellschaft eingefordert werden, läuft man Gefahr zu vergessen, dass jeder Einzelne Träger seiner subjektiven Rechte ist und keine Gruppenzugehörigkeit diese ihm streitig machen kann. Cinzia Sciuto stellt die Prioritäten wieder auf die Füße: Das Individuum ist Träger von Identitäten und Zugehörigkeiten, anstatt dass es von seiner Zugehörigkeit definiert wird.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Marko Martin empfiehlt einer indifferenten Linken die Lektüre von Cinzia Sciutos Buch. Wie die Publizistin darin die Bedeutung der Laizität für die Menschenrechte erläutert und auf deren Gefährdungen aufmerksam macht, findet Martin lesenswert. Warum "Gruppenrechte" im Sinne der Chancengleichheit fatal sind und strukturelle Gewalt viele Gesichter hat, vermittelt Sciuto laut Martin ebenso in diesem "wichtigen" Text, wie sie dazu aufruft, den Schwachen zur Selbstermächtigung zu verhelfen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH