Über den Niedergang einer Familie - das neue Meisterstück der Autorin von »Suite française«
Satt, selbstzufrieden und in der wohligen Gewissheit, dass sich nie etwas ändern wird: Die Fabrikantenfamilie Hardelot aus der französischen Provinz wiegt sich vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in trügerischem Glück. Doch innerhalb einer Generation wird ihre bürgerliche Welt für immer hinweggefegt.
Im Frühjahr 1940 beginnt Irène Némirovsky die Arbeit an einem Buch, das ganz in der Tradition des großen europäischen Familienromans steht. Über Jahre hat sie die träge Selbstzufriedenheit der bürgerlichen Kreise, in denen sie verkehrte, beobachtet. Sie hat erlebt, wie diese Familien sich in Sicherheit wiegen und sich weigern, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Nun will Némirovsky ihnen den Spiegel vorhalten. Der Roman, der unmittelbar vor »Suite française« entstand, wurde erst posthum 1947 veröffentlicht und ist der illusionslose Abgesang auf ein Bürgertum, das feige vor derWirklichkeit die Augen verschließt.
Ein großer Familienroman und zugleich ein Sittengemälde des französischen Bürgertums und seines Verfalls.
Satt, selbstzufrieden und in der wohligen Gewissheit, dass sich nie etwas ändern wird: Die Fabrikantenfamilie Hardelot aus der französischen Provinz wiegt sich vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in trügerischem Glück. Doch innerhalb einer Generation wird ihre bürgerliche Welt für immer hinweggefegt.
Im Frühjahr 1940 beginnt Irène Némirovsky die Arbeit an einem Buch, das ganz in der Tradition des großen europäischen Familienromans steht. Über Jahre hat sie die träge Selbstzufriedenheit der bürgerlichen Kreise, in denen sie verkehrte, beobachtet. Sie hat erlebt, wie diese Familien sich in Sicherheit wiegen und sich weigern, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Nun will Némirovsky ihnen den Spiegel vorhalten. Der Roman, der unmittelbar vor »Suite française« entstand, wurde erst posthum 1947 veröffentlicht und ist der illusionslose Abgesang auf ein Bürgertum, das feige vor derWirklichkeit die Augen verschließt.
Ein großer Familienroman und zugleich ein Sittengemälde des französischen Bürgertums und seines Verfalls.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.12.2010Schaut auf diese Welt von gestern
Jedes Jahr erscheint postum ein Werk von Irène Némirovsky. Man sollte sie alle lesen. Denn Romane wie "Die Familie Hardelot" sind seltene literarische Zeugnisse einer verlorenen Zeit.
Von Sandra Kegel
Im Moment des Verlusts betrachtete Pierre die Schlote mit einem Gefühl aus Groll und Mitleid. Schließlich hatte seine Familie über Generationen für die Fabrik gelebt. Die Hardelots hatten hässliche Frauen geheiratet, mit jedem Sou geknausert, sie waren reich gewesen und hatten weniger Freuden gehabt als die armen Leute von Saint-Elme. Die Wünsche ihrer Kinder und ihre eigene Liebe hatten sie erstickt. Und das nur, weil ihnen der Besitz einer Papierfabrik beständiger und teurer erschien als alles andere. Und trotzdem war sie nun perdu.
Erst vor sechs Jahren bekamen die Leser Gelegenheit, die außergewöhnliche Erzählerin Irène Némirovksy kennenzulernen - und nahmen jedes ihrer Werke begeistert an. Es ist tatsächlich ein Geschenk, dass Jahr für Jahr aufs Neue aus dem Nachlass der 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ermordeten Pariser Schriftstellerin russisch-jüdischer Herkunft ein Roman oder ein Erzählband veröffentlicht wird. Und ihre Fans haben noch immer nicht genug. Seit dem Welterfolg "Suite française", für den die Autorin 2004 postum den Prix Goncourt erhielt, was es in der Geschichte des renommierten Literaturpreises nie gegeben hat, setzt sich in Deutschland der Knaus Verlag so unermüdlich wie verdienstvoll für das OEuvre Némirovskys ein.
Aufstieg und Fall der "Familie Hardelot" aus der nordfranzösischen Provinz schrieb die im Paris der dreißiger Jahre gefeierte Autorin um 1940/41. Zu diesem Zeitpunkt war sie selbst bereits auf der Flucht vor den deutschen Besatzern, Frankreich hatte ihr bis zuletzt die französische Staatsbürgerschaft verweigert. Wie schon in früheren Werken bestechen auch in diesem Familienroman die ironisch-beißenden Beschreibungen der französischen Provinz und ihrer Bewohner, die so sehr von dem trügerischen Gefühl der Beständigkeit und der Sicherheit erfüllt sind, dass sie die Zeichen der Katastrophe übersehen. Zugleich beschreibt Irène Némirovsky die aufziehende Bedrohung und die täglich wachsende Angst so eindringlich, dass bei der Lektüre fast greifbar wird, wie nah die Autorin selbst dem Schrecken war.
Die Geschichte des Provinz-Clans geht zurück bis in die Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts. Zu dieser Zeit sind die Hardelots noch erste Adresse im beschaulichen Saint-Elme und tun alles dafür, um den eigenen Besitz wie auch die Distanz zu anderen zu wahren. In ihrem jahrhundertealten System ist es nicht vorgesehen, dass der Sohn des Hauses seine große Liebe heiratet, statt die vom Großvater bestimmte "gute Partie". Als der Filius sich dennoch gegen den Patriarchen durchsetzt und die Mesalliance mit der Tochter des örtlichen Bierbrauers eingeht, wird er verstoßen. Doch was für eine Lappalie ist der Familienzwist gegen die heraufziehende Katastrophe, die nur wenig später nicht nur die Hardelots und Saint-Elme, sondern ganz Frankreich und schließlich die Welt erfasst. Mit dem Ersten Weltkrieg wird alles Glück und alle Ruhe, werden alle Gewissheiten und alle Güter dieser Welt in den Abgrund der Schützengräben von Verdun gerissen. "Les biens de ce monde" lautet deshalb der Titel im Original.
Irène Némirovsky zeichnet in ihrem Porträt einer Gesellschaft, die gleich zwei Weltkriege erdulden muss, auf wenigen Seiten ein opulentes Panorama. Dabei verknüpft sie das literarische Erbe des neunzehnten Jahrhunderts geschickt mit der noch neuen Montagetechnik des Films. Mal erzählt sie in großen Zeitsprüngen, dann wieder beschreibt sie eine Szene oder einen Moment mit besonderer Liebe zum Detail. Eva Moldenhauer hat diesen illusionslosen Abgesang auf das Bürgertum klug übersetzt. Zu Recht hat der Verlag die vielfach ausgezeichnete Übersetzerin seit "Suite française" mit sämtlichen Némirovsky-Titeln betraut, von "Jesabel" über "Die Hunde und die Wölfe" und "Herr der Seelen" bis zu "Feuer im Herbst", "Herbstfliegen" und "Leidenschaft".
Wie hier atmosphärisch dicht ein Zeitraum von fast vierzig Jahren eingefangen wird - es brauchte nur eine Generation, um diese Welt zu vernichten -, macht die Autorin zuletzt auch zur Chronistin. Denn aus dieser dunklen Epoche Frankreichs gibt es kaum literarische Zeugnisse. Noch bis zum 8. März gibt eine Ausstellung im Pariser Schoa-Museum Einblicke in Leben und Werk dieser hochbegabten Autorin (F.A.Z. vom 17. November).
Als Irène Némirovsky die "Hardelots" schrieb, ahnte sie wohl, dass sie selbst den Krieg nicht überleben würde. Den Geschöpfen ihrer Phantasie gönnte sie ein glücklicheres Schicksal.
Irène Némirovsky: "Die Familie Hardelot". Roman.
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Albrecht Knaus Verlag, München 2010. 256 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jedes Jahr erscheint postum ein Werk von Irène Némirovsky. Man sollte sie alle lesen. Denn Romane wie "Die Familie Hardelot" sind seltene literarische Zeugnisse einer verlorenen Zeit.
Von Sandra Kegel
Im Moment des Verlusts betrachtete Pierre die Schlote mit einem Gefühl aus Groll und Mitleid. Schließlich hatte seine Familie über Generationen für die Fabrik gelebt. Die Hardelots hatten hässliche Frauen geheiratet, mit jedem Sou geknausert, sie waren reich gewesen und hatten weniger Freuden gehabt als die armen Leute von Saint-Elme. Die Wünsche ihrer Kinder und ihre eigene Liebe hatten sie erstickt. Und das nur, weil ihnen der Besitz einer Papierfabrik beständiger und teurer erschien als alles andere. Und trotzdem war sie nun perdu.
Erst vor sechs Jahren bekamen die Leser Gelegenheit, die außergewöhnliche Erzählerin Irène Némirovksy kennenzulernen - und nahmen jedes ihrer Werke begeistert an. Es ist tatsächlich ein Geschenk, dass Jahr für Jahr aufs Neue aus dem Nachlass der 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ermordeten Pariser Schriftstellerin russisch-jüdischer Herkunft ein Roman oder ein Erzählband veröffentlicht wird. Und ihre Fans haben noch immer nicht genug. Seit dem Welterfolg "Suite française", für den die Autorin 2004 postum den Prix Goncourt erhielt, was es in der Geschichte des renommierten Literaturpreises nie gegeben hat, setzt sich in Deutschland der Knaus Verlag so unermüdlich wie verdienstvoll für das OEuvre Némirovskys ein.
Aufstieg und Fall der "Familie Hardelot" aus der nordfranzösischen Provinz schrieb die im Paris der dreißiger Jahre gefeierte Autorin um 1940/41. Zu diesem Zeitpunkt war sie selbst bereits auf der Flucht vor den deutschen Besatzern, Frankreich hatte ihr bis zuletzt die französische Staatsbürgerschaft verweigert. Wie schon in früheren Werken bestechen auch in diesem Familienroman die ironisch-beißenden Beschreibungen der französischen Provinz und ihrer Bewohner, die so sehr von dem trügerischen Gefühl der Beständigkeit und der Sicherheit erfüllt sind, dass sie die Zeichen der Katastrophe übersehen. Zugleich beschreibt Irène Némirovsky die aufziehende Bedrohung und die täglich wachsende Angst so eindringlich, dass bei der Lektüre fast greifbar wird, wie nah die Autorin selbst dem Schrecken war.
Die Geschichte des Provinz-Clans geht zurück bis in die Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts. Zu dieser Zeit sind die Hardelots noch erste Adresse im beschaulichen Saint-Elme und tun alles dafür, um den eigenen Besitz wie auch die Distanz zu anderen zu wahren. In ihrem jahrhundertealten System ist es nicht vorgesehen, dass der Sohn des Hauses seine große Liebe heiratet, statt die vom Großvater bestimmte "gute Partie". Als der Filius sich dennoch gegen den Patriarchen durchsetzt und die Mesalliance mit der Tochter des örtlichen Bierbrauers eingeht, wird er verstoßen. Doch was für eine Lappalie ist der Familienzwist gegen die heraufziehende Katastrophe, die nur wenig später nicht nur die Hardelots und Saint-Elme, sondern ganz Frankreich und schließlich die Welt erfasst. Mit dem Ersten Weltkrieg wird alles Glück und alle Ruhe, werden alle Gewissheiten und alle Güter dieser Welt in den Abgrund der Schützengräben von Verdun gerissen. "Les biens de ce monde" lautet deshalb der Titel im Original.
Irène Némirovsky zeichnet in ihrem Porträt einer Gesellschaft, die gleich zwei Weltkriege erdulden muss, auf wenigen Seiten ein opulentes Panorama. Dabei verknüpft sie das literarische Erbe des neunzehnten Jahrhunderts geschickt mit der noch neuen Montagetechnik des Films. Mal erzählt sie in großen Zeitsprüngen, dann wieder beschreibt sie eine Szene oder einen Moment mit besonderer Liebe zum Detail. Eva Moldenhauer hat diesen illusionslosen Abgesang auf das Bürgertum klug übersetzt. Zu Recht hat der Verlag die vielfach ausgezeichnete Übersetzerin seit "Suite française" mit sämtlichen Némirovsky-Titeln betraut, von "Jesabel" über "Die Hunde und die Wölfe" und "Herr der Seelen" bis zu "Feuer im Herbst", "Herbstfliegen" und "Leidenschaft".
Wie hier atmosphärisch dicht ein Zeitraum von fast vierzig Jahren eingefangen wird - es brauchte nur eine Generation, um diese Welt zu vernichten -, macht die Autorin zuletzt auch zur Chronistin. Denn aus dieser dunklen Epoche Frankreichs gibt es kaum literarische Zeugnisse. Noch bis zum 8. März gibt eine Ausstellung im Pariser Schoa-Museum Einblicke in Leben und Werk dieser hochbegabten Autorin (F.A.Z. vom 17. November).
Als Irène Némirovsky die "Hardelots" schrieb, ahnte sie wohl, dass sie selbst den Krieg nicht überleben würde. Den Geschöpfen ihrer Phantasie gönnte sie ein glücklicheres Schicksal.
Irène Némirovsky: "Die Familie Hardelot". Roman.
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Albrecht Knaus Verlag, München 2010. 256 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sandra Kegel ist beeindruckt: der Roman über die Familie Hardelot, die seit Generationen in der französischen Provinz eine Fabrik besitzt, die sie im Zweiten Weltkrieg verliert, ist durchtränkt mit der Bedrohung und Angst jener Zeit. Irene Nemirovsky zeichnet die Hardelots nicht als nette Familie. Für ihre Fabrik tun sie alles. Ein Sohn wird verstoßen, weil er eine unpassende Partie macht. Die beiden Weltkriege werfen dann aber ganz andere Probleme auf, auch wenn die Familie das lange nicht wahrhaben will. Kegel findet das interessant erzählt: Nemirovsky unterbricht die langsame Erzählweise des 19. Jahrhunderts immer wieder mit Zeitsprüngen und nutzt dazu die Montagetechnik des Films. Ein Lob geht auch an die "kluge" Übersetzung von Eva Moldenhauer.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Einmal mehr zeigt sich Irène Némirovsky in diesem atmosphärisch dichten Roman über den Untergang einer Familie als berückende Erzählerin, als eine große Chronistin der Welt von gestern." Deutschlandradio Kultur
"Packendes Familiendrama"