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Produktdetails
  • Verlag: Luchterhand Literaturverlag
  • Seitenzahl: 268
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 352g
  • ISBN-13: 9783630869971
  • ISBN-10: 3630869971
  • Artikelnr.: 24087861
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Der kühne Ritt auf dem Buckelwal
Matthias Polityckis Ästhetik Von Friedmar Apel

Matthias Politycki ist gescheit, er liebt das Leben, die Frauen und die Rockmusik. Und er hat mit seinem "Weiberroman" großen Erfolg. Trotzdem scheint er nicht glücklich zu sein, scheint sich verkannt und "kleingehalten" zu fühlen. Deshalb wohl hat er die Achtundsiebziger-Generation beziehungsweise deren "Idee" erfunden und sich zum Sprecher ernannt. Seiner Verlautbarung zufolge wird nun alles besser. Mit der Literatur dieser Generation beginnt "eine neue Epoche". Politycki ist sich zehn Jahre nach seinem Erstling periodisch geworden und hält es daher für nötig, seinen "eignen Epochen-Wechsel im Kleinen" zu dokumentieren. Er spart nicht mit Etiketten: "Neue Äußerlichkeit", "Neue Deutsche Lesbarkeit", "Neues Literaturlustprinzip" lauten die Parolen.

Diese Reklame wird ziemlich martialisch mit "siegfähigen Formulierungen" und der zugehörigen Portion Lagerdenken vorgetragen, gibt sich als "Kampf" um eine "kulturelle Wachablösung". Polityckis Generation sieht sich nämlich umzingelt. Der Feind steht vornehmlich in der "literarischen Zwangsaufklärung" der Achtundsechziger-, aber ebensowohl in der Neunundachtziger-Generation, den jüngeren "verkopften Nachfolgern", die es nicht geschafft hätten, "das Projekt der Moderne in eins der Postmoderne zu modifizieren". Polityckis Generalstabskarte "unsrer kulturellen Landschaft" zeigt jedoch ein anderes Bild: Im "bisherigen Zentrum des Geschehens" campiert die "Suhrkamp-Kultur" mit ihrer "arrogant zur Schau gestellten Orientierungslosigkeit", von "den Rändern her" aber greifen "die frischen, unverbrauchten Kräfte im Sektor ,sprachkritische Literatur'" mit den Divisionen Wagenbach, Luchterhand und anderen sowie mit "Die Phantastischen Vier" an. Letztere sind übrigens kein Verlag, sondern eine Rapper-Boy-Group für Gymnasiasten.

Pardon wird nicht gegeben, reihenweise werden literarische "Kugelfische" ("tödlich, harmlos, aufgebläht") und "Buckelwale" von Goethe bis Wondratschek und Handke abgeschossen. "Faust II" ist Politycki zufolge "ein rundum gescheiterter, weil völlig überinstrumentierter, völlig undynamischer, unsinnlicher Worthaufen, an dem man sich nur mit dem verkniffenen Arsch des Materialhubers delektieren kann". Im literarischen Offiziers-Casino herrscht ein rauher Ton. Und es wird kräftig einer gehoben: Mehrfach räumt Politycki ein, bei seinen strategischen Überlegungen "nicht ganz nüchtern" gewesen zu sein.

Auch seine Vorbilder sucht sich Politycki gerne unter Offizieren, Gottfried Benn und Hugo von Hofmannsthal zählen dazu. Von letzterem bezieht der Traditionsbrecher Politycki seine ästhetische Maxime: "Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche." Heftig wird gegen den Individualismus polemisiert und der Anschluß ans große Ganze proklamiert, freilich mit gehörigem Unernst, aber zackig. Als Teil der deutschen Literatur wahrgenommen zu werden, soll ein neues Wir-Gefühl der Achtundsiebziger-Generation begründen. Die deutsche Literatur sei keineswegs in einer Krise, diese sei "in Wirklichkeit eine Krise der deutschen Literaturkritik".

Den Kritikern stellt Politycki ein "Instrumentarium an Begriffen und Theoremen zur Verfügung", mit dem sie ihre "eklatante Unfähigkeit zum differenzierenden Blick" überwinden können, den inneren amerikanischen Schweinehund gleichsam, denn "undeutsch" darf nicht länger als "Gütesiegel" verwendet werden. Die wichtigsten Tagesbefehle an Generationsmitglieder und anschlußfähige Kritiker (unter Ausschluß von germanistischen "Schissern") werden numeriert ausgegeben: 1. Avantgarde-Begriff ist unverzüglich umzuwerten, 2. Quasi-religiösem Gelaber wird mit Creative Writing, mit "knallhartem Handwerk" begegnet. Dabei ist "erzählerisches Surplus" sofort zu melden. 3. Es wird gekürzt, gefeilt und weggeworfen. Dabei ist "professionelle Einstellung" an den Tag zu legen, die sich "am Dienstleistungsgewerbe orientiert". 4. Erzählen ist zu simplifizieren, jedoch ist "Vielschichtigkeit" anzustreben. 5. "Bedürfnis nach Schönheit" ist zu entsprechen, insbesondere ist Schönheit "der deutschen Sprache" aufzuspüren. 6. In jeden Text ist "gelebtes Leben" einzulegen, und zwar nach Maßgabe der "Notwendigkeit". 7. Eigene Wichtigkeit ist zu verabschieden.

Die wichtigste Devise Polityckis lautet: "Die neue deutsche Literatur muß sein wie Rockmusik." Das bedeutet: ",I Put A Spell On You' - dieser mit aller Kraft herausgeschrieene Wille, der die Integrität des Sängers in jedem Ton und jeder Silbe verbürgt, der muß als Garant einer inneren Notwendigkeit auch jedes literarische Werk durchpulsen." Im Erfolgsfalle ist ein Text als "wahr/gut/schön" zu bezeichnen. Als erstes Vorbild - Gimme Whole Lotta Love - einer solchen Literatur fungiert ulkigerweise eine Gruppe, die gemeinhin der Achtundsechziger-Generation zugerechnet wird und ehedem "Kritiker wie ,Massen' gleichermaßen" begeisterte: Led Zeppelin. Wie dem auch sei: Wenn Politycki bei seinem "Weiberroman" nach dem Muster "Baby, Won't You Let Me Rock 'N' Roll You" auf die einfahrende "Geschichte aufgesprungen" ist, um "im Sog des Schichtvollzugs" zu verschwinden, dann ist ein cooler Ride dabei herausgekommen. Bei seinen ästhetischen Überlegungen zu einer deutschen Literatur funktioniert die Masche weniger gut: Es entsteht nicht einmal Krautrock, sondern nur Kraut und Rüben.

Matthias Politycki: "Die Farbe der Vokale. Von der Literatur, den 78ern und dem Gequake satter Frösche". Luchterhand Literaturverlag, München 1998. 271 Seiten, br., 38,- DM.

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