Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs regieren Habgier und Neid in den Straßen von Paris, und so bahnt sich ein Komplott an, um das mächtige Bankimperium Péricourt zu Fall zu bringen. Doch Alleinerbin Madeleine weiß, die Verhältnisse in Europa für sich zu nutzen, und dreht den Spieß kurzerhand um.
Als der berühmte französische Bankier Marcel Péricourt im Jahr 1927 verstirbt, steht seine Tochter Madeleine, deren Exmann nach einem landesweiten Skandal im Gefängnis sitzt, plötzlich völlig allein an der Spitze eines Bankimperiums - in einer Epoche, in der es Frauen nicht einmal gestattet war, selbst einen Scheck zu unterschreiben. Während Gustave Joubert, der Prokurist der Bank, Charles Pericourt, Madeleines verschwenderischer Onkel, und André Delcourt, ihr Liebhaber mit dichterischen Ambitionen, um die junge Erbin und ihren Sohn schwirren wie Motten um das Licht, zeichnen sich am Horizont bereits die Vorboten des Zweiten Weltkriegs ab. Im Schatten von Börsenskandalen und politischen Wirrnissen arbeiten die Neider auf das Verderben der Familie hin. Doch für Madeleine ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. Um ihres Sohnes willen beginnt sie ihren ganz persönlichen Rachefeldzug zu planen.
Als der berühmte französische Bankier Marcel Péricourt im Jahr 1927 verstirbt, steht seine Tochter Madeleine, deren Exmann nach einem landesweiten Skandal im Gefängnis sitzt, plötzlich völlig allein an der Spitze eines Bankimperiums - in einer Epoche, in der es Frauen nicht einmal gestattet war, selbst einen Scheck zu unterschreiben. Während Gustave Joubert, der Prokurist der Bank, Charles Pericourt, Madeleines verschwenderischer Onkel, und André Delcourt, ihr Liebhaber mit dichterischen Ambitionen, um die junge Erbin und ihren Sohn schwirren wie Motten um das Licht, zeichnen sich am Horizont bereits die Vorboten des Zweiten Weltkriegs ab. Im Schatten von Börsenskandalen und politischen Wirrnissen arbeiten die Neider auf das Verderben der Familie hin. Doch für Madeleine ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. Um ihres Sohnes willen beginnt sie ihren ganz persönlichen Rachefeldzug zu planen.
buecher-magazin.deIm Februar 1927 verfolgt ganz Paris den pompösen Trauerzug des reichen verstorbenen Bankiers Marcel Péricort. Dessen Tochter Madeleine wird das Erbe des väterlichen Bankimperiums antreten und somit eine der reichsten Damen von Paris sein. Doch die würdevolle Beerdigungszeremonie überschattet ein tragischer Unfall: Madeleines siebenjähriger Sohn Paul stürzt sich aus dem Fenster, bricht sich das Rückgrat und ist fortan an den Rollstuhl gefesselt. Mit dieser düsteren Eingangsszene leitet Pierre Lemaitre den zweiten Band seines Romans "Wir sehen uns dort oben" ein, für den er 2013 den renommierten Prix Goncourt erhielt. Er zeichnet hier das Porträt der französischen Gesellschaft in den Zwanziger-und Dreißigerjahren, die von Habsucht und Rücksichtslosigkeit geprägt ist. Aufgrund einer Intrige wird Madeleine ihr ganzes Vermögen verlieren, und es ist vergnüglich zu lesen, wie sie dann strategisch und skrupellos ausholt, um sich an den für ihren Ruin Verantwortlichen zu rächen. In einer Zeit, in der Frauen noch kein Wahlrecht hatten und nicht einmal selbst einen Scheck unterzeichnen durften, fokussiert dieser Roman die persönliche Revanche einer entmachteten Frau. Spannend und humorvoll erzählt, ist dies auch eine Hommage an Romane im Stil von Balzac und Alexandre Dumas.
© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2019Skrupel können wir uns jetzt nicht mehr leisten
Zwischen den Weltkriegen erlebten auch Frankreichs Banken harte Zeiten: Pierre Lemaitre setzt seine so abgründige wie vergnügliche Familiensaga fort
Am Anfang geht eine Epoche zu Ende. Pierre Lemaitre benötigt dafür keine zehn Seiten. Sein neuer Roman beginnt mit dem Tag, an dem Marcel Péricourt beerdigt werden soll, dem Rang des Mannes entsprechend hat sich im Hof seines Stadtpalais in Paris eine beachtliche Menschenmenge versammelt. Sie wartet auf den Beginn des Trauerzuges, als plötzlich aus einem Fenster im zweiten Stock des Hauses der sieben Jahre alte Enkel des Patriarchen stürzt. Der Alte gestorben, der einzige männliche Nachkomme fortan im Rollstuhl - man muss keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um zu wissen, dass die Karten im Haus Péricourt nun neu gemischt werden.
Das Haus dürfte Lesern von Pierre Lemaitre vertraut sein. Vor ein paar Jahren spielte es in seinem Roman "Wir sehen uns dort oben" eine Rolle, denn einer der Protagonisten in jenem Buch war der Sohn des Hauses, der Soldat Edouard Péricourt, dem in den letzten Tagen des Ersten Weltkrieges beim Versuch, einen Kameraden zu retten, der Unterkiefer von einem Granatsplitter weggerissen worden war. Derart entstellt, traute er sich nicht mehr unter die Augen seines Vaters, dessen Gnadenlosigkeit er fürchtete. Vielleicht zu Unrecht, wie der neue Roman von Lemaitre nahelegt, denn Marcel Péricourt ist in "Die Farben des Feuers" altersmilde geworden. Zwar rät er seiner Tochter Madeleine dringend zur Heirat mit Gustave Joubert, dem Prokuristen und Generalbevollmächtigten seiner Péricourt-Bank. Aber er zwingt sie nicht, als sie sich entscheidet, diese Heirat abzulehnen und auf die mit ihr einhergehende Sicherheit zu verzichten.
Damit beginnen die Probleme, die bei Lemaitre, wie man es gewohnt ist, vom Kleinen stets ins Große verweisen, von den Geschichten seiner Figuren in die große Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. So war es in "Wir sehen uns dort oben", in dem die Leidenswege der Soldaten, die nach dem Krieg nicht endeten, auf die strukturelle Unfähigkeit, auch den Unwillen der französischen Gesellschaft aufmerksam machten, ihre ehemaligen Helden wieder aufzunehmen. Und so ist es in dem neuen Buch, das zwischen 1927 und 1933 spielt. Hier ist es die Geschichte von Madeleine Péricourt, die auf den Zeitgeist verweist. Die neue Protagonistin ist nach dem Tod ihres Vaters um ihr Erbe betrogen worden, die Millionen, das Haus, die Sicherheiten sind weg, sie fällt in Windeseile aus der Haute Bourgeoisie in die Kleinbürgerlichkeit. Und sinnt auf Rache, die in dieser Zeit des l'entre-deux-guerres auch auf ganz andere Weise in der Luft liegt. Die "Farben des Feuers" (der Titel ist einem Gedicht von Louis Aragon entnommen), das Deutschland über den Kontinent bringen wird, zeichnen sich am Horizont bereits ab.
Aber in Frankreich vermag diese Farben niemand richtig zu deuten. Man ist mit sich selbst beschäftigt, jedenfalls im Roman von Lemaitre, der noch gelungener ist als sein Vorgänger, der 2013 schon mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Es wirkt, als habe dieser Preis den Autor befreit, er ist noch witziger, zynischer, ironischer, auch frivoler als zuvor, wobei er seiner bewährten Methode treu bleibt. Das Gerüst seines Buches besteht aus einer Reihe von wahren Geschichten, für die er, wie die lange Danksagung am Ende zeigt, das Wissen zahlreicher Historiker in Anspruch genommen hat. Im Mittelpunkt steht die "Renaissance française" (die auf das "Redressement français" zurückgeht) von Gustave Joubert (dessen Figur sich an Ernest Mercier anlehnt), eine Bewegung, die mit dem Ziel gegründet wurde, Politiker durch Technokraten zu ersetzen. Gustave Joubert, der sich durch die geplatzte Hochzeit mit der Erbin Madeleine Péricourt um ein Vermögen gebracht sieht, verschafft sich dieses Vermögen auf die krumme Tour und lässt Madeleine fallen. Als Einziger erkennt er, dass sich, von Amerika kommend, eine Bankenkrise zusammenbraut, also investiert er das Geld aus der abgewickelten Péricourt-Bank in ein Luftfahrtunternehmen. Seine "Renaissance française" verschafft ihm politische Unterstützung und staatliche Subventionen.
Wie er sind fast alle anderen Figuren getrieben von Habgier, sie sind besessen von Macht und Sex. Auch Madeleine, die als erstes Opfer die Sympathien auf ihrer Seite hat, ist und bleibt frei von Skrupeln, selbst wenn der Sturz in die soziale Bedeutungslosigkeit einen Reifungsprozess in Gang setzt, der für Frauen in der Dritten Republik noch ungewöhnlich war. Madeleine war zum Heiraten geboren. Als die Welt, in der dies hätte geschehen sollen, aufhört zu existieren, lernt sie Selbständigkeit und verliert ihren Dünkel, aber nicht die Gewissheit, zu Höherem berechtigt zu sein.
Nicht nur sie ist mit einem sehr schlüssigen psychologischen Profil ausgestattet. So gut wie alle Figuren werden in knappen, aber auf den Punkt formulierten Porträts charakterisiert, die immer den Eindruck erwecken, dass nichts zufällig geschieht. Sie verleihen dem ganzen Geschehen etwas Unausweichliches, sie verdichten, beschleunigen und führen den Roman auf ein Finale zu, das an Kriminalliteratur erinnert, an jenes Genre also, dem Pierre Lemaitre mehrere Bücher widmete, bevor er begann, von der Familie Péricourt zu erzählen.
Wie er es angekündigt hatte, setzt Lemaitre mit "Die Farben des Feuers" sein Projekt fort, am Beispiel dieser Péricourts eine Art Streifzug durch das vergangene Jahrhundert zu schreiben. Bislang kommt Frankreich dabei nicht gut weg. Auch die Dritte Republik wird zersetzt von Korruption und Intrigen, die viel Raum bieten für eine ebenso abgründige wie vergnügte Phantasie wie die von Lemaitre. Zusammen mit seiner historischen Genauigkeit und seiner psychologischen Schärfe bildet sie die Grundlage für einen Roman, der wieder zum Besten zählt, was man an unterhaltender Literatur in die Hände bekommen kann.
LENA BOPP
Pierre Lemaitre: "Die Farben des Feuers". Roman.
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019. 479 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen den Weltkriegen erlebten auch Frankreichs Banken harte Zeiten: Pierre Lemaitre setzt seine so abgründige wie vergnügliche Familiensaga fort
Am Anfang geht eine Epoche zu Ende. Pierre Lemaitre benötigt dafür keine zehn Seiten. Sein neuer Roman beginnt mit dem Tag, an dem Marcel Péricourt beerdigt werden soll, dem Rang des Mannes entsprechend hat sich im Hof seines Stadtpalais in Paris eine beachtliche Menschenmenge versammelt. Sie wartet auf den Beginn des Trauerzuges, als plötzlich aus einem Fenster im zweiten Stock des Hauses der sieben Jahre alte Enkel des Patriarchen stürzt. Der Alte gestorben, der einzige männliche Nachkomme fortan im Rollstuhl - man muss keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um zu wissen, dass die Karten im Haus Péricourt nun neu gemischt werden.
Das Haus dürfte Lesern von Pierre Lemaitre vertraut sein. Vor ein paar Jahren spielte es in seinem Roman "Wir sehen uns dort oben" eine Rolle, denn einer der Protagonisten in jenem Buch war der Sohn des Hauses, der Soldat Edouard Péricourt, dem in den letzten Tagen des Ersten Weltkrieges beim Versuch, einen Kameraden zu retten, der Unterkiefer von einem Granatsplitter weggerissen worden war. Derart entstellt, traute er sich nicht mehr unter die Augen seines Vaters, dessen Gnadenlosigkeit er fürchtete. Vielleicht zu Unrecht, wie der neue Roman von Lemaitre nahelegt, denn Marcel Péricourt ist in "Die Farben des Feuers" altersmilde geworden. Zwar rät er seiner Tochter Madeleine dringend zur Heirat mit Gustave Joubert, dem Prokuristen und Generalbevollmächtigten seiner Péricourt-Bank. Aber er zwingt sie nicht, als sie sich entscheidet, diese Heirat abzulehnen und auf die mit ihr einhergehende Sicherheit zu verzichten.
Damit beginnen die Probleme, die bei Lemaitre, wie man es gewohnt ist, vom Kleinen stets ins Große verweisen, von den Geschichten seiner Figuren in die große Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. So war es in "Wir sehen uns dort oben", in dem die Leidenswege der Soldaten, die nach dem Krieg nicht endeten, auf die strukturelle Unfähigkeit, auch den Unwillen der französischen Gesellschaft aufmerksam machten, ihre ehemaligen Helden wieder aufzunehmen. Und so ist es in dem neuen Buch, das zwischen 1927 und 1933 spielt. Hier ist es die Geschichte von Madeleine Péricourt, die auf den Zeitgeist verweist. Die neue Protagonistin ist nach dem Tod ihres Vaters um ihr Erbe betrogen worden, die Millionen, das Haus, die Sicherheiten sind weg, sie fällt in Windeseile aus der Haute Bourgeoisie in die Kleinbürgerlichkeit. Und sinnt auf Rache, die in dieser Zeit des l'entre-deux-guerres auch auf ganz andere Weise in der Luft liegt. Die "Farben des Feuers" (der Titel ist einem Gedicht von Louis Aragon entnommen), das Deutschland über den Kontinent bringen wird, zeichnen sich am Horizont bereits ab.
Aber in Frankreich vermag diese Farben niemand richtig zu deuten. Man ist mit sich selbst beschäftigt, jedenfalls im Roman von Lemaitre, der noch gelungener ist als sein Vorgänger, der 2013 schon mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Es wirkt, als habe dieser Preis den Autor befreit, er ist noch witziger, zynischer, ironischer, auch frivoler als zuvor, wobei er seiner bewährten Methode treu bleibt. Das Gerüst seines Buches besteht aus einer Reihe von wahren Geschichten, für die er, wie die lange Danksagung am Ende zeigt, das Wissen zahlreicher Historiker in Anspruch genommen hat. Im Mittelpunkt steht die "Renaissance française" (die auf das "Redressement français" zurückgeht) von Gustave Joubert (dessen Figur sich an Ernest Mercier anlehnt), eine Bewegung, die mit dem Ziel gegründet wurde, Politiker durch Technokraten zu ersetzen. Gustave Joubert, der sich durch die geplatzte Hochzeit mit der Erbin Madeleine Péricourt um ein Vermögen gebracht sieht, verschafft sich dieses Vermögen auf die krumme Tour und lässt Madeleine fallen. Als Einziger erkennt er, dass sich, von Amerika kommend, eine Bankenkrise zusammenbraut, also investiert er das Geld aus der abgewickelten Péricourt-Bank in ein Luftfahrtunternehmen. Seine "Renaissance française" verschafft ihm politische Unterstützung und staatliche Subventionen.
Wie er sind fast alle anderen Figuren getrieben von Habgier, sie sind besessen von Macht und Sex. Auch Madeleine, die als erstes Opfer die Sympathien auf ihrer Seite hat, ist und bleibt frei von Skrupeln, selbst wenn der Sturz in die soziale Bedeutungslosigkeit einen Reifungsprozess in Gang setzt, der für Frauen in der Dritten Republik noch ungewöhnlich war. Madeleine war zum Heiraten geboren. Als die Welt, in der dies hätte geschehen sollen, aufhört zu existieren, lernt sie Selbständigkeit und verliert ihren Dünkel, aber nicht die Gewissheit, zu Höherem berechtigt zu sein.
Nicht nur sie ist mit einem sehr schlüssigen psychologischen Profil ausgestattet. So gut wie alle Figuren werden in knappen, aber auf den Punkt formulierten Porträts charakterisiert, die immer den Eindruck erwecken, dass nichts zufällig geschieht. Sie verleihen dem ganzen Geschehen etwas Unausweichliches, sie verdichten, beschleunigen und führen den Roman auf ein Finale zu, das an Kriminalliteratur erinnert, an jenes Genre also, dem Pierre Lemaitre mehrere Bücher widmete, bevor er begann, von der Familie Péricourt zu erzählen.
Wie er es angekündigt hatte, setzt Lemaitre mit "Die Farben des Feuers" sein Projekt fort, am Beispiel dieser Péricourts eine Art Streifzug durch das vergangene Jahrhundert zu schreiben. Bislang kommt Frankreich dabei nicht gut weg. Auch die Dritte Republik wird zersetzt von Korruption und Intrigen, die viel Raum bieten für eine ebenso abgründige wie vergnügte Phantasie wie die von Lemaitre. Zusammen mit seiner historischen Genauigkeit und seiner psychologischen Schärfe bildet sie die Grundlage für einen Roman, der wieder zum Besten zählt, was man an unterhaltender Literatur in die Hände bekommen kann.
LENA BOPP
Pierre Lemaitre: "Die Farben des Feuers". Roman.
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019. 479 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.04.2019Rache ist Präzisionsarbeit
Pierre Lemaitre erzählt in „Die Farben des Feuers“ von Intrigen im Paris der Zwischenkriegszeit
Der Beschleunigungsruck des Geschehens kommt bei Pierre Lemaitre meistens gleich zu Beginn. In seinem früheren Roman „Wir sehen uns dort oben“ war es ein Geschosseinschlag an der Front am letzten Tag des Ersten Weltkriegs. „Die Farben des Feuers“ setzt 1927 ein. In Paris soll der angesehene Bankier Marcel Péricourt zu Grabe getragen werden. Die Trauergemeinde vertritt sich am nasskalten Wintertag beim Warten aufs Eintreffen des Sargs vor dem Haus die durchfrorenen Füße. Plötzlich wenden sich alle Blicke nach oben, zum zweiten Stock, wo der siebenjährige Paul, Péricourts einziger Enkelsohn, im Fenster erscheint. Was dann passiert, ist zugleich tragisch und skurril. Es lenkt die Geschicke des Imperiums Péricourt auf eine neue Bahn.
Madeleine, die Tochter des Bankiers und Mutter des kleinen Paul, wird sich nicht mehr stark um die Bank kümmern können. Sie lässt den langjährigen Prokuristen ihres Vaters machen. Gleichzeitig muss sie sich den verschwenderischen Parlamentsabgeordneten Charles Péricourt, ihren Onkel, vom Hals halten. Zum Trost wirft sie sich dem schwärmerischen Poeten André Delcourt in die Arme, den sie als Liebhaber und als Hauslehrer ihres Sohns in einem Dachzimmer ihres Stadtpalais unterhält. Ihre Aufmerksamkeit gilt aber ganz dem querschnittsgelähmten und schwer stotternden Paul. Das klingt wie ein Roman von Guy de Maupassant.
Mit fliegenden Szenen- und Perspektivenwechseln versetzt Lemaitre uns in die knisternde Atmosphäre der Zwischenkriegszeit. Börsenkrach, soziale Spannungen, neue Wirtschaftsimperien etwa der Flugzeugindustrie, demokratiemüde Nationen, ein wiederaufrüstendes Deutschland, der Machtantritt faschistischer Regime und Anzeichen eines neuen Kriegs bestimmen den Kontext. In dieser Situation bemüht sich der Prokurist der Bank Péricourt, der vergeblich auf die Heirat mit der Erbin Madeleine spekulierte, auf anderem Weg in den Besitz des Unternehmens zu kommen. Er ermuntert die Frau zum desaströsen Ankauf rumänischer Erdölaktien, investiert selbst aber mit Gewinn ins irakische Erdöl. Nach dem Sturz Madeleines in die Armut lässt auch der mittlerweile journalistisch erfolgreiche Liebhaber die Frau fallen. In einer bescheidenen Dreizimmerwohnung kümmert sie sich weiterhin ums verkümmerte Glück ihres heranwachsenden Sohns.
Pierre Lemaitre ist bekannt als Feinmechaniker der Rache. Der infernalische Abstieg Madeleines im Unwissen darüber, warum ihr Sohn am Tag des Begräbnisses seines Großvaters aus dem Fenster gestürzt ist, erreicht ihren Tiefpunkt in der langen Nacht, in welcher Paul ihr stotternd alles erzählt. Alles hat mit dem ehemaligen Hauslehrer Delcourt zu tun. Von da an läuft die Präzisionsmechanik der Rache wie am Schnürchen. Über Spitzel dringt Madeleine in die tiefsten Winkel der anständigen Bürgerwelt vor und bringt einen Akteur nach dem anderen zu Fall.
Aber nicht das Ergebnis dieser Wende ist im Roman entscheidend. Es wird uns eher beiläufig in einem Epilog nachgereicht. Wichtig ist bei diesem ausgeklügelten Zweitaktmotor der Intrigen – Einwickeln, Aufrollen – allein das Ticken der kleinen Schritte und der großen Fehltritte. An den Rändern des Geschehens bahnen sich hübsche Nebenhandlungen an. So widerwärtig oder grotesk dabei manche Figuren erscheinen, verklebt keine Spur von Moral das Gesamtbild. Es gibt weder wirklich Gute noch Böse in diesem Roman, im Grunde auch keine Gewinner und Verlierer. Nichts kommt am Ende ins Lot, keine Rechnung geht auf. Die Welt ist, wie sie ist. Manche haben die schlechten, manche die besseren Karten. Doch wechseln die Karten die Hände.
JOSEPH HANIMANN
Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers. Roman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Klett-Cotta, Stuttgart, 2019. 480 Seiten, 25 Euro.
Es gibt weder wirklich Gute
noch Böse, weder Gewinner
noch Verlierer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Pierre Lemaitre erzählt in „Die Farben des Feuers“ von Intrigen im Paris der Zwischenkriegszeit
Der Beschleunigungsruck des Geschehens kommt bei Pierre Lemaitre meistens gleich zu Beginn. In seinem früheren Roman „Wir sehen uns dort oben“ war es ein Geschosseinschlag an der Front am letzten Tag des Ersten Weltkriegs. „Die Farben des Feuers“ setzt 1927 ein. In Paris soll der angesehene Bankier Marcel Péricourt zu Grabe getragen werden. Die Trauergemeinde vertritt sich am nasskalten Wintertag beim Warten aufs Eintreffen des Sargs vor dem Haus die durchfrorenen Füße. Plötzlich wenden sich alle Blicke nach oben, zum zweiten Stock, wo der siebenjährige Paul, Péricourts einziger Enkelsohn, im Fenster erscheint. Was dann passiert, ist zugleich tragisch und skurril. Es lenkt die Geschicke des Imperiums Péricourt auf eine neue Bahn.
Madeleine, die Tochter des Bankiers und Mutter des kleinen Paul, wird sich nicht mehr stark um die Bank kümmern können. Sie lässt den langjährigen Prokuristen ihres Vaters machen. Gleichzeitig muss sie sich den verschwenderischen Parlamentsabgeordneten Charles Péricourt, ihren Onkel, vom Hals halten. Zum Trost wirft sie sich dem schwärmerischen Poeten André Delcourt in die Arme, den sie als Liebhaber und als Hauslehrer ihres Sohns in einem Dachzimmer ihres Stadtpalais unterhält. Ihre Aufmerksamkeit gilt aber ganz dem querschnittsgelähmten und schwer stotternden Paul. Das klingt wie ein Roman von Guy de Maupassant.
Mit fliegenden Szenen- und Perspektivenwechseln versetzt Lemaitre uns in die knisternde Atmosphäre der Zwischenkriegszeit. Börsenkrach, soziale Spannungen, neue Wirtschaftsimperien etwa der Flugzeugindustrie, demokratiemüde Nationen, ein wiederaufrüstendes Deutschland, der Machtantritt faschistischer Regime und Anzeichen eines neuen Kriegs bestimmen den Kontext. In dieser Situation bemüht sich der Prokurist der Bank Péricourt, der vergeblich auf die Heirat mit der Erbin Madeleine spekulierte, auf anderem Weg in den Besitz des Unternehmens zu kommen. Er ermuntert die Frau zum desaströsen Ankauf rumänischer Erdölaktien, investiert selbst aber mit Gewinn ins irakische Erdöl. Nach dem Sturz Madeleines in die Armut lässt auch der mittlerweile journalistisch erfolgreiche Liebhaber die Frau fallen. In einer bescheidenen Dreizimmerwohnung kümmert sie sich weiterhin ums verkümmerte Glück ihres heranwachsenden Sohns.
Pierre Lemaitre ist bekannt als Feinmechaniker der Rache. Der infernalische Abstieg Madeleines im Unwissen darüber, warum ihr Sohn am Tag des Begräbnisses seines Großvaters aus dem Fenster gestürzt ist, erreicht ihren Tiefpunkt in der langen Nacht, in welcher Paul ihr stotternd alles erzählt. Alles hat mit dem ehemaligen Hauslehrer Delcourt zu tun. Von da an läuft die Präzisionsmechanik der Rache wie am Schnürchen. Über Spitzel dringt Madeleine in die tiefsten Winkel der anständigen Bürgerwelt vor und bringt einen Akteur nach dem anderen zu Fall.
Aber nicht das Ergebnis dieser Wende ist im Roman entscheidend. Es wird uns eher beiläufig in einem Epilog nachgereicht. Wichtig ist bei diesem ausgeklügelten Zweitaktmotor der Intrigen – Einwickeln, Aufrollen – allein das Ticken der kleinen Schritte und der großen Fehltritte. An den Rändern des Geschehens bahnen sich hübsche Nebenhandlungen an. So widerwärtig oder grotesk dabei manche Figuren erscheinen, verklebt keine Spur von Moral das Gesamtbild. Es gibt weder wirklich Gute noch Böse in diesem Roman, im Grunde auch keine Gewinner und Verlierer. Nichts kommt am Ende ins Lot, keine Rechnung geht auf. Die Welt ist, wie sie ist. Manche haben die schlechten, manche die besseren Karten. Doch wechseln die Karten die Hände.
JOSEPH HANIMANN
Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers. Roman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Klett-Cotta, Stuttgart, 2019. 480 Seiten, 25 Euro.
Es gibt weder wirklich Gute
noch Böse, weder Gewinner
noch Verlierer
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rainer Moritz hat Einwände gegen Pierre Lemaitres opulenten Fortsetzungsroman über den Niedergang eines privaten Bankhauses. Das an Katastrophen reiche frühe 20. Jahrhundert, in dem Lemaitre seine figuren- wie handlungsreiche Geschichte ansiedelt, verträgt sich schlecht mit der traditionellen, an Proust und Romains angelehnten Erzählweise, findet er. Der gefällige Ton, mit dem der Autor über Judenhass und Reichstagsbrand schreibt, stößt Moritz bitter auf und raubt ihm die Freude an diesem Sozialepos.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»das großartige Familienepos [...] vereinigt alle Elemente großer Literatur.« Barbara Breuner, Schwetzinger Zeitung, 27.05.2020 Barbara Breuner Schwetzinger Zeitung 20200527