Der Häftling Mikola Dziadok schrieb von 2010 bis 2015 Essays über das Innenleben der Gefängnisse und Straflager in der Republik Belarus. Damals saß er aus politischen Gründen ein - die jüngste Repressionswelle unter Diktator Lukashenko brachte ihn wieder hinter Gitter. Im November 2021 wurde der Autor erneut zu fünf Jahren Haft verurteilt. Dziadok beschreibt und analysiert den Gefängnisalltag und wesentliche Elemente des belarusischen Strafvollzugssystems - bis hin zur Selbstverletzung als äußerstem Mittel der Gefangenen, um ihr eigenes Leben, ihre Gesundheit und Würde zu schützen. Das belarusische PEN-Zentrum hatte das Buch 2018 mit dem Franzischka Aljachanowitsch Preis ausgezeichnet, als bestes Buch, das in Haft verfasst wurde. Inzwischen wurde das PEN-Zentrum vom Regime aufgelöst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2022Systematische Folter
Mikola Dziadok schildert eindringlich die Zustände in belarussischen Gefängnissen
Im Frühjahr 2015 weiß Mikola Dziadok keine andere Lösung mehr, als sich die Pulsadern aufzuschneiden. Er will nicht sterben, nur eine Verbesserung seiner Haftbedingungen erreichen. Denn diese sind in der Strafkolonie Nr. 9 in Horki so schlimm, dass ein Aufenthalt im Gefängniskrankenhaus verführerisch erscheint: ein richtiges Bett statt des kalten, feuchten Bodens aus Spanplatte in der Zelle der Isolationshaft.
Dziadok ist ein politischer Gefangener in Belarus. Inhaftiert von Lukaschenkos Regime, weil er Anarchist ist und weil er an einem Brandanschlag auf die russische Botschaft in Minsk 2010 beteiligt gewesen sein soll. Er bestreitet die Tat, wird dennoch zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Die sitzt er in drei Strafkolonien und vier Gefängnissen ab. Mehr als ein Jahr verbringt er in Einzelhaft. Systematische Misshandlung durch Schläge, Schlafentzug und Unterkühlung gibt es überall. Doch dass die Haftbedingungen nicht einmal den belarussischen Mindeststandards entsprechen, erlebt er nur in Horki.
Zwei Jahre nach seiner Freilassung veröffentlicht er 2017 den Essayband "Die Farben einer parallelen Welt", der nun erstmals auf Deutsch erschienen ist. Seine Texte dokumentieren den Gefängnisalltag in Belarus: die Willkür und Gesetzlosigkeit, die physische wie psychische Folter, die Hierarchie unter den Häftlingen.
Gleich im ersten Kapitel beschreibt er den "Strafisolator", eine Baracke auf dem Gelände einer Lagerkolonie, in die man wegen einer "groben Verletzung des Vollzugsregimes" gebracht werden kann. Doch was ein grober Verstoß ist, hat niemand definiert. Es kann ein nicht zugeknöpfter Knopf an der Gefangenenuniform sein, Staub auf einem Regal oder tagsüber zu schlafen. Oftmals sind die Vorwürfe fingiert, Beschwerden an höhere Stellen bringen: nichts. Laut Gesetz ist die Höchstdauer des Aufenthaltes im "Strafisolator" auf zehn Tage begrenzt. Doch wenn ein Beamter will, findet er immer etwas, um die Zeit in der Baracke zu verlängern.
Belarussische Gefängnisse haben zudem ihre eigene Häftlingshierarchie, deren Wurzeln teils in der sowjetischen Lagerverwaltung, teils im 19. Jahrhundert liegen. Ganz oben stehen professionelle Verbrecher ("Ganoven"), ganz unten die "Unberührbaren". Früher setzten die Ganoven ihre eigenen Gesetze in den Lagern durch, doch in Belarus gibt es laut Dziadok kaum noch professionelle Verbrecher. In den Lagern hat nun der Staat das Sagen.
Manche Erzählung wirkt absurd, wie die, dass in einem Gefängnis nachts Teppiche ausgerollt werden, um die Schritte der Wärter zu dämpfen. Der Autor fragt sich selbst, ob dies einer besseren Nachtruhe dient oder die Wärter so die Häftlinge einfacher belauschen können, weil sie nicht hören, wenn jemand an die Zellentür tritt.
Dziadoks Essays sind lakonisch. So geht sein Plan, bessere Haftbedingungen durch das Aufschneiden seiner Pulsadern zu erreichen, schief. Er wird zu früh erwischt, muss die Rasierklinge im Abfluss entsorgen. Seine Lehre daraus: "Bist du auf dem Weg in die Strafzelle, nimm zwei Rasierklingen mit."
1988 geboren, wächst Mikola Dziadok im Osten von Belarus auf. Für sein Jurastudium zieht er in die Hauptstadt Minsk, wo er sich der dortigen Punk- und Anarchistenszene anschließt. Von 2010 bis 2015 sitzt er hinter Gittern. Kurz vor seiner Haftentlassung erfährt er, dass er wegen "Ungehorsams gegen die Vollzugsverwaltung" (Artikel 411 StGB RB) zu einem weiteren Jahr Haft verurteilt wird. In einem offenen Brief, den er mithilfe seines Anwalts aus dem Gefängnis schmuggelt, beschreibt er die willkürliche Anwendung des Artikels 411 gegenüber politischen Gefangenen.
Westliche Staaten fordern Lukaschenko immer wieder auf, ebendiese freizulassen. Wohl weil im Herbst 2015 Präsidentschaftswahlen anstehen, gibt der Diktator nach. Im August werden Dziadok und andere amnestiert. Nach seiner Entlassung studiert er Politikwissenschaft an der belarussischen Exiluniversität in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Bis zu seiner Festnahme im November 2020 arbeitet er als Journalist und Blogger.
Dziadoks Essayband wird vom Berliner Verlag "edition.fotoTapeta" herausgegeben, der seit der Gründung 2007 vor allem Bücher aus Mittel- und Osteuropa veröffentlicht. Der Übersetzer Wanja Müller schafft es, die Besonderheiten der russischen Gefängnissprache ins Deutsche zu übertragen. Die Gewinne aus "Die Farben einer parallelen Welt" gehen an den Verein Razam, der unter anderem politische Gefangene in Belarus unterstützt. Laut Angaben des Vereins gibt es derzeit mehr als 1000 politische Gefangene.
Der Essayband ist keine Ergänzung zu den Büchern, die nach den Protesten vor anderthalb Jahren veröffentlicht worden sind. Die Werke von Alice Bota, Olga Shparaga, Alina Lisitzkaja und anderen dokumentieren zwar, wie brutal die Sicherheitskräfte gegen Demonstranten in Belarus vorgehen. Doch Dziadok zeigt auf, wie brutal das Lukaschenko-Regime schon vor 2020 gegen seine eigenen Bürger vorgegangen ist.
Die Gefängnisse in Belarus dienen nicht der Resozialisierung der Häftlinge. Vielmehr sind es Anstalten, die insbesondere politische Gefangene brechen sollen. Nimmt sich ein Mensch das Leben oder wird psychisch krank, sind dies Kollateralschäden. Was macht das schon? Es ist eine parallele Welt, von deren Brutalität sich bis vor Kurzem wohl nur die wenigsten Belarussen eine Vorstellung machen konnten. Dziadok beschreibt sie detailliert, beschönigt nichts, neigt aber auch nicht zur Dramatisierung. Er kann der Zeit im Gefängnis sogar etwas Positives abgewinnen, bezeichnet sie als "Schule des Lebens".
Fast könnte man es als Trotz auslegen, denn seit seinem Gefängnisaufenthalt ist Dziadok chronisch krank. Trotz akuter Beschwerden wird ihm in der Untersuchungshaft nach seiner neuerlichen Festnahme medizinische Versorgung verwehrt. Im November 2021 verurteilt ihn ein Gericht zu fünf Jahren Lagerhaft. Er weiß, wie er sich dort als politischer Gefangener verhalten muss. Die Anleitung dazu hat er selbst geschrieben. OTHMARA GLAS.
Mikola Dziadok: Die Farben einer parallelen Welt. Haft in Belarus edition.fotoTapeta, Berlin 2021. 200 S., 15,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mikola Dziadok schildert eindringlich die Zustände in belarussischen Gefängnissen
Im Frühjahr 2015 weiß Mikola Dziadok keine andere Lösung mehr, als sich die Pulsadern aufzuschneiden. Er will nicht sterben, nur eine Verbesserung seiner Haftbedingungen erreichen. Denn diese sind in der Strafkolonie Nr. 9 in Horki so schlimm, dass ein Aufenthalt im Gefängniskrankenhaus verführerisch erscheint: ein richtiges Bett statt des kalten, feuchten Bodens aus Spanplatte in der Zelle der Isolationshaft.
Dziadok ist ein politischer Gefangener in Belarus. Inhaftiert von Lukaschenkos Regime, weil er Anarchist ist und weil er an einem Brandanschlag auf die russische Botschaft in Minsk 2010 beteiligt gewesen sein soll. Er bestreitet die Tat, wird dennoch zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Die sitzt er in drei Strafkolonien und vier Gefängnissen ab. Mehr als ein Jahr verbringt er in Einzelhaft. Systematische Misshandlung durch Schläge, Schlafentzug und Unterkühlung gibt es überall. Doch dass die Haftbedingungen nicht einmal den belarussischen Mindeststandards entsprechen, erlebt er nur in Horki.
Zwei Jahre nach seiner Freilassung veröffentlicht er 2017 den Essayband "Die Farben einer parallelen Welt", der nun erstmals auf Deutsch erschienen ist. Seine Texte dokumentieren den Gefängnisalltag in Belarus: die Willkür und Gesetzlosigkeit, die physische wie psychische Folter, die Hierarchie unter den Häftlingen.
Gleich im ersten Kapitel beschreibt er den "Strafisolator", eine Baracke auf dem Gelände einer Lagerkolonie, in die man wegen einer "groben Verletzung des Vollzugsregimes" gebracht werden kann. Doch was ein grober Verstoß ist, hat niemand definiert. Es kann ein nicht zugeknöpfter Knopf an der Gefangenenuniform sein, Staub auf einem Regal oder tagsüber zu schlafen. Oftmals sind die Vorwürfe fingiert, Beschwerden an höhere Stellen bringen: nichts. Laut Gesetz ist die Höchstdauer des Aufenthaltes im "Strafisolator" auf zehn Tage begrenzt. Doch wenn ein Beamter will, findet er immer etwas, um die Zeit in der Baracke zu verlängern.
Belarussische Gefängnisse haben zudem ihre eigene Häftlingshierarchie, deren Wurzeln teils in der sowjetischen Lagerverwaltung, teils im 19. Jahrhundert liegen. Ganz oben stehen professionelle Verbrecher ("Ganoven"), ganz unten die "Unberührbaren". Früher setzten die Ganoven ihre eigenen Gesetze in den Lagern durch, doch in Belarus gibt es laut Dziadok kaum noch professionelle Verbrecher. In den Lagern hat nun der Staat das Sagen.
Manche Erzählung wirkt absurd, wie die, dass in einem Gefängnis nachts Teppiche ausgerollt werden, um die Schritte der Wärter zu dämpfen. Der Autor fragt sich selbst, ob dies einer besseren Nachtruhe dient oder die Wärter so die Häftlinge einfacher belauschen können, weil sie nicht hören, wenn jemand an die Zellentür tritt.
Dziadoks Essays sind lakonisch. So geht sein Plan, bessere Haftbedingungen durch das Aufschneiden seiner Pulsadern zu erreichen, schief. Er wird zu früh erwischt, muss die Rasierklinge im Abfluss entsorgen. Seine Lehre daraus: "Bist du auf dem Weg in die Strafzelle, nimm zwei Rasierklingen mit."
1988 geboren, wächst Mikola Dziadok im Osten von Belarus auf. Für sein Jurastudium zieht er in die Hauptstadt Minsk, wo er sich der dortigen Punk- und Anarchistenszene anschließt. Von 2010 bis 2015 sitzt er hinter Gittern. Kurz vor seiner Haftentlassung erfährt er, dass er wegen "Ungehorsams gegen die Vollzugsverwaltung" (Artikel 411 StGB RB) zu einem weiteren Jahr Haft verurteilt wird. In einem offenen Brief, den er mithilfe seines Anwalts aus dem Gefängnis schmuggelt, beschreibt er die willkürliche Anwendung des Artikels 411 gegenüber politischen Gefangenen.
Westliche Staaten fordern Lukaschenko immer wieder auf, ebendiese freizulassen. Wohl weil im Herbst 2015 Präsidentschaftswahlen anstehen, gibt der Diktator nach. Im August werden Dziadok und andere amnestiert. Nach seiner Entlassung studiert er Politikwissenschaft an der belarussischen Exiluniversität in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Bis zu seiner Festnahme im November 2020 arbeitet er als Journalist und Blogger.
Dziadoks Essayband wird vom Berliner Verlag "edition.fotoTapeta" herausgegeben, der seit der Gründung 2007 vor allem Bücher aus Mittel- und Osteuropa veröffentlicht. Der Übersetzer Wanja Müller schafft es, die Besonderheiten der russischen Gefängnissprache ins Deutsche zu übertragen. Die Gewinne aus "Die Farben einer parallelen Welt" gehen an den Verein Razam, der unter anderem politische Gefangene in Belarus unterstützt. Laut Angaben des Vereins gibt es derzeit mehr als 1000 politische Gefangene.
Der Essayband ist keine Ergänzung zu den Büchern, die nach den Protesten vor anderthalb Jahren veröffentlicht worden sind. Die Werke von Alice Bota, Olga Shparaga, Alina Lisitzkaja und anderen dokumentieren zwar, wie brutal die Sicherheitskräfte gegen Demonstranten in Belarus vorgehen. Doch Dziadok zeigt auf, wie brutal das Lukaschenko-Regime schon vor 2020 gegen seine eigenen Bürger vorgegangen ist.
Die Gefängnisse in Belarus dienen nicht der Resozialisierung der Häftlinge. Vielmehr sind es Anstalten, die insbesondere politische Gefangene brechen sollen. Nimmt sich ein Mensch das Leben oder wird psychisch krank, sind dies Kollateralschäden. Was macht das schon? Es ist eine parallele Welt, von deren Brutalität sich bis vor Kurzem wohl nur die wenigsten Belarussen eine Vorstellung machen konnten. Dziadok beschreibt sie detailliert, beschönigt nichts, neigt aber auch nicht zur Dramatisierung. Er kann der Zeit im Gefängnis sogar etwas Positives abgewinnen, bezeichnet sie als "Schule des Lebens".
Fast könnte man es als Trotz auslegen, denn seit seinem Gefängnisaufenthalt ist Dziadok chronisch krank. Trotz akuter Beschwerden wird ihm in der Untersuchungshaft nach seiner neuerlichen Festnahme medizinische Versorgung verwehrt. Im November 2021 verurteilt ihn ein Gericht zu fünf Jahren Lagerhaft. Er weiß, wie er sich dort als politischer Gefangener verhalten muss. Die Anleitung dazu hat er selbst geschrieben. OTHMARA GLAS.
Mikola Dziadok: Die Farben einer parallelen Welt. Haft in Belarus edition.fotoTapeta, Berlin 2021. 200 S., 15,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Othmara Glas zeigt sich erschütttert angesichts von Mikola Dziadoks detaillierten, nur manchmal etwas dramatisierenden Aufzeichnungen aus der Lagerhaft zwischen 2010 und 2015 in Belarus. Die ganze Willkür des Systems Lukaschenko wird für sie sichtbar, wenn der Autor über den Alltag von Isolationshaft, Misshandlung und Folter schreibt. Absurde und Erschreckende Szenen wechseln sich laut Glas ab und vermitteln dem Leser u. a. die Besonderheiten der russischen Gefängnissprache. Die Geschichte des Autors, der als Blogger zum politischen Gefangenen wurde, zeigt Glas auch, dass Lukaschenkos Regime schon vor 2020 brutal gegen seine Bürger vorging.
© Perlentaucher Medien GmbH
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