Zum 75. Geburtstag von Botho Strauß: die wichtigste Prosa des Autors neu in fünf Bänden.
Ein Buch der Einkehr und des Innehaltens, das die Fortschreibung der reflektierenden Arbeit von Botho Strauß ist, der sich selbst als »Schriftfortsetzer« sieht, um Wege zu bahnen inmitten der bedrängenden Verhältnisse unserer Gegenwart. Sein analytischer Blick erfasst Bereiche der Kunst ebenso den Wandel in Politik und Gesellschaft.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Ein Buch der Einkehr und des Innehaltens, das die Fortschreibung der reflektierenden Arbeit von Botho Strauß ist, der sich selbst als »Schriftfortsetzer« sieht, um Wege zu bahnen inmitten der bedrängenden Verhältnisse unserer Gegenwart. Sein analytischer Blick erfasst Bereiche der Kunst ebenso den Wandel in Politik und Gesellschaft.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.1997Der Bock am Gartenzaun
Botho Strauß flieht die Stadt: Mit Reue hat das nichts zu tun · Von Thomas Steinfeld
Botho Strauß hat sich zurückgezogen. Sein Umzug auf den verträumten Hügel vor der po.lnischen Grenze war eine Kulturnachricht wie einst Rousseaus Flucht aus Paris in die Eremitage. In der Uckermark nordöstlich von Berlin steht sein neues Heim. Darin wohnt er mit seiner Mutter, der "Greisin", und seinem Sohn. "Mein Haus ist meine Warte. Kein heimeliges Haus, frei und unbehaglich steht es vor dem Wind, trotzig und doch ein wenig verloren mit seinen strengen Kanten, so wie es der Architekt in später Bauhaus-Folge für uns entwarf." Eine Mutter für den Sohn gibt es auch. Sie tritt im ganzen Buch nur einmal auf, als "schöne Mama", die ihre Koffer abstellt.
"Die Fehler des Kopisten", das neue Buch von Botho Strauß, ist wieder eine Sammlung von Einfällen, Beobachtungen und Miniaturen. Aber es ist, deutlicher als die früheren Werke, ein Tagebuch; es unterscheidet sich von den Prosastücken "Paare Passanten", "Niemand anderes" oder "Beginnlosigkeit" durch seinen offen autobiographischen Charakter. Es ist das erste Buch, das Botho Strauß aus seiner "Montaignade" zurückschickt in die Welt der Stadtteilfeste und Medienschaffenden.
Der Stadtflüchtige hat viele Ahnen. Einer von ihnen saß vor hundertfünfzig Jahren am Unterlauf der Seine. Höchstens ein paar Wochen hielt Gustave Flaubert es in Paris aus, dann mußte er aus der Metropole wieder hinaus in die freie Luft der Normandie. Dort schuf er Romane, die er so lange kürzte, bis der Ehrgeiz, die Dummheit und die Gemeinheit seiner Welt zu einem einzigen, klaren Ton verdichtet waren. Daneben schrieb er Briefe, in denen seine Verbitterung und sein Haß sich um die Form nicht scherten: endlose Tiraden über Blödheit und Verkommenheit und Verrat, sonderbare Schwärmereien von der Liebe oder von Ägypten. Diesem Ahnen ist Botho Strauß mehr als anderen verpflichtet, und an seinen Theaterstücken aus den späten siebziger und frühen achtziger Jahren ist zu erkennen, wie genau er Hilflosigkeit und Niedertracht dieser Zeit wahrnahm. Doch ist es im Verlauf des bürgerlichen Zeitalters offenbar schwieriger geworden, ein Buch gegen die Welt zu schreiben.
Wie sollte es auch gelingen. Achtzig Kilometer von Berlin entfernt kann man nur schlecht zum Einsiedler werden, und Botho Strauß will kein heiliger Antonius, sondern ein Bürger sein, und sei es der letzte einer besseren, literarischen Welt. Doch dieser "militante Anachronist, der in der Revolte des Abschieds seinen Stand sucht", weiß nicht, ob sein Bau tatsächlich hält: "Als seien die Himmel so zart, daß sie plötzlich einbrechen könnten. Als bedürfe es nur eines größeren Ungemachs, und plötzlich knickten Sicht und Stille ein, Verdammte aus allen Winkeln brächen über den Ort und den neuen Siedler herein." Die zeitgenössische Fortsetzung des Versuches, sich einen Ort außerhalb der Welt zu verschaffen und von dort Bücher gegen diese zu schreiben, bringt jetzt einen unsicheren Zwitter hervor: eine Literatur, die ihre Strenge verliert, weil sie den Brief und seine Formlosigkeit in sich aufgenommen hat. Man liest sie gern, so wie man jemandem beim Tagebuchschreiben gern über die Schulter schauen würde.
Früher war Botho Strauß ein Ohrenmensch. Er belauschte seine Zeitgenossen in ihren stets vergeblichen Versuchen, dem Verstand eine kritische Richtung zu geben. Aber das allgemeine Gerede, das Geschwätz zur Kenntlichkeit zu bringen und es womöglich an dem zu messen, was Literatur hieße, reicht ihm heute nicht mehr aus. Eine gelegentliche Ungenauigkeit des Ausdrucks, auch Fehler, verrutschte Metaphern, stolpernde Sätze gehören, aller Hochgespanntheit des Stils zum Trotz, zur Sprache von Botho Strauß.
Dieses Irren in der Form ist der Preis der permanenten Irritation, denn Botho Strauß ist ein reizbarer Mensch. Er lauert darauf, sich empören zu können. "Wenn ich in die Stadt fahre, im Zentrum irgendwo zum Essen ausgehe: alles wie immer . . . es könnte 1985 sein, kein Unterschied. Der tritt anderswo zutage. Die herrschende Klasse, die Medienschaffenden, sorgt für ein statisches Tableau." Solche Beschreibungen des deutschen Alltags gehören zu den schwächsten Stellen des neuen Buches. Das Wörterbuch der Gemeinplätze, das er seinen Lesern um die Ohren schlagen wollte, ergreift von ihm selbst Besitz. Den "Landsmann an der Tankstelle, der seine Wampe nur mit einem grobmaschigen Unterhemd bedeckt und über seine kurze Hose wölbt", kann Harald Schmidt besser beschreiben. Den Ton muß man treffen: Er stellt sich nur dort ein, wo im Idiom der Leute geredet wird.
Das tut Botho Strauß nicht mehr. Der Haß ist geschrumpft, der Furor nicht mehr präzise, er will jetzt sagen, was sich zu verteidigen lohnt. Beschreibungen, die ihm früher zur Satire gerieten, werden ihm jetzt zur Forderung an sich selbst. Deswegen, weil es nun diesen selbstgesetzten moralischen Zwang gibt, hat sich der Autor zurückgenommen, manchmal wirkt er milde wie ein Gummibärchen. "Sobald mir der einzelne mit einem eigenen Gesicht gegenübersitzt, kann ich vergessen, daß er zumindest zu vier Fünfteln aus Allgemeinheit besteht." In das Zufällige seiner Kommentare zum Lauf der Welt, in seinen stets lückenhaften Katalog der allgemeinen Verfehlungen ist die Beschreibung einer Landschaft getreten, eine Elegie in vier Kapiteln, die dem Wechsel der Jahreszeiten entsprechen, einer Wiedergewinnung der naturalen Zeit.
Was er dabei nicht alles sieht: Störche, Schlehenblüten, Wolkenflöße. Über die Weiden ziehen die früheren Freunde und Bekannten heran, Schatten alle miteinander. Und beim Anblick einer blökenden Schafherde an seinem Zaun erinnert er sich daran, daß er vor nicht langer Zeit einen Streit ausgelöst hatte, obwohl es ihm nicht um einen Austausch von Meinungen, sondern um eine Botschaft ging: "Soviel Schönheit verdienst du nicht, der du nicht warmherzig von ihr zeugst! So dachte ich und stieg am Abend über den Hügel hinunter zum Zaun. Ich sah den hellen Sprüngen der Lämmer zu. Der Bocksgesang, den ich einmal unvorsichtig berief, war vorgerückt bis an mein Haus." Mit Reue hat das nichts zu tun. Es ist nur wieder eine Prüfung.
Vor allem hört Botho Strauß nun weniger, als er sieht: Er ist ein Augenmensch geworden. Das Auge ist schwerer zu täuschen als das Ohr. Das Sehen verspricht Gewißheit, Verläßlichkeit, Unabweislichkeit, und vom Sehen handelt die Hälfte des neuen Buches. Die andere Hälfte gehört dem ästhetisch-politischen Räsonieren, das man von Botho Strauß kennt. Wieder liest man von Kreis und Pfeil, den Verkehrsschildern der metaphysischen Gegensätze. Aber die Gewißheiten sind in diesem Buch weniger deutlich als früher, und bald wächst im Leser der Verdacht, daß Botho Strauß mit seinem Verlangen, irgendwo etwas Unverbrüchliches ausfindig zu machen, ein eigenes Spiel treibt und mit seinen Gewißheiten experimentiert.
"Das Leben hängt von großen Werten ab und wird meist unter Wert verhandelt. Es kann nur Übertreibungsversuche und gescheiterte Übertreibungsversuche geben." Auch die Mimikry mit der Religiosität ist ein solcher Übertreibungsversuch: "Wenn ich Diu nach dem Vorlesen im Bett, sobald er allein ist, sein Gebet sprechen höre, denke ich . . . um wieviel sinnvoller ist es, das Leben im Vertrauen zu begründen statt im Mißtrauen." Später heißt es: "Ich bin weder Jude noch Moslem, weder Katholik noch Zen-Buddhist, und doch versuche ich, am weißen Rand der Konfessionen ein überlieferter Mensch zu sein." Es ist die große, breite Tradition, die ihn dabei interessiert, und die Überlieferung, als die er beim Sohn den Kinderglauben begrüßt, ist für ihn selbst die Literaturgeschichte - und dabei denkt er nicht mehr, wie früher, an die Hausgötter des Eigensinns wie Hölderlin, Nietzsche und Artaud, sondern an Mörike, Raabe und Lenau.
Ein "Schriftfortsetzer" wolle er sein, behauptet Botho Strauß, ein Kopist, und wenn er beim Abschreiben einen Fehler mache, dann hoffe er, daß er wie die Natur funktioniere, die einen Evolutionssprung daraus macht. Aber dann erklärt er auch, daß er seinen Büchern nicht mehr traue: "Wie verblaßt meine Bibliothek!" Und er sagt das, wohlgemerkt, in einem Buch. Aus solchen Experimenten bestehen die räsonierenden Teile dieses Buches - es sind lauter Bewährungsproben, mehr oder weniger vollständig und oft auf halbem Wege abgebrochen. Das Prinzip dieser Inkonsequenzen und Selbstdementis hat Jean-Jacques Rousseau formuliert: Es ist das "tout dire".
Auch der Sohn wird in solche Erkundungen hineingezogen, auch er hat einen Ahnen. Er heißt Émile. Botho Strauß will im emphatischen Sinne Vater sein. Er initiiert seinen Sohn, er macht mit ihm keine kleinen Spaziergänge, sondern große Wanderungen, gerne durch das verbotene Gelände des Naturschutzgebiets, in die "eigentliche" Natur. Und als sei es ein Stück von ebenjenem Rousseau, gerät dem Vater auch diese Initiation zu einem ambivalenten Unternehmen: Es bedarf einiger Mühe, den Sohn im Natürlichen aufzuziehen, man muß überlegen und planen, ja Intrigen schmieden, und am Ende sind Kevin, Randy und Brandon, oder wie sie heißen mögen, ohnehin die Stärkeren. "Diu läßt mich telefonisch wissen, daß er das nächste Wochenende lieber mit den Freunden in der Stadt verbringt." Es fällt schwer, darin nicht eine Niederlage zu erkennen, noch größer als jene grausam und großartig geschilderte Blamage, die der Vater bei einem gemeinsamen Zirkusbesuch erleidet, als er in die Manege gebeten wird und dümmer dasteht als der Dümmste der Menge: "ein Esel im roten T-Shirt".
Man hat Botho Strauß nachgesagt, er habe der verdorbenen Stadt den Rücken gekehrt und eine Arche Noah auf dem Land gebaut. Daß so schlecht gelesen wird, setzt ihn trotz der wechselnden Qualitäten seines neuen Buchs ins Recht. Die Autobahn dröhnt, das Haus besitzt Zentralheizung, der Dichter besitzt einen Computer, und auch die Gentechnik wäre im Recht, wenn es nur zum Besten des Menschen wäre. Noch deutlicher ist das Bekenntnis zur literarischen Moderne. Baudelaire, der Dichter der Großstadt, ist ein Vorbild, dem er gleichen möchte. Und wenn sich Botho Strauß wünscht, es möge einer kommen und "die Stadt abräumen", dann ist das viel weniger eine reaktionäre Phantasie als eine Anknüpfung an den Futurismus der zwanziger Jahre, an die destruktiven Phantasien von Filippo Tommaso Marinetti. Der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts gelten die besten Stücke dieses Buches. Auch das ist kein Zufall. "Es gibt diese tiefe Sehnsucht nach Unbesonnenheit, die zurückführt zu den frühen Manifesten der Moderne." Denn unbesonnen zu sein, eine Prüfung, eine Selbstprüfung auszulassen ist das letzte, was man Botho Strauß nachsagen könnte. "Die Fehler des Kopisten" ist ein Buch der Bedenklichkeiten. Das ist kein geringes Verdienst und eine große Verlegenheit.
Botho Strauß: "Die Fehler des Kopisten". Carl Hanser Verlag, München und Wien 1997. 208S., geb., 35,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Botho Strauß flieht die Stadt: Mit Reue hat das nichts zu tun · Von Thomas Steinfeld
Botho Strauß hat sich zurückgezogen. Sein Umzug auf den verträumten Hügel vor der po.lnischen Grenze war eine Kulturnachricht wie einst Rousseaus Flucht aus Paris in die Eremitage. In der Uckermark nordöstlich von Berlin steht sein neues Heim. Darin wohnt er mit seiner Mutter, der "Greisin", und seinem Sohn. "Mein Haus ist meine Warte. Kein heimeliges Haus, frei und unbehaglich steht es vor dem Wind, trotzig und doch ein wenig verloren mit seinen strengen Kanten, so wie es der Architekt in später Bauhaus-Folge für uns entwarf." Eine Mutter für den Sohn gibt es auch. Sie tritt im ganzen Buch nur einmal auf, als "schöne Mama", die ihre Koffer abstellt.
"Die Fehler des Kopisten", das neue Buch von Botho Strauß, ist wieder eine Sammlung von Einfällen, Beobachtungen und Miniaturen. Aber es ist, deutlicher als die früheren Werke, ein Tagebuch; es unterscheidet sich von den Prosastücken "Paare Passanten", "Niemand anderes" oder "Beginnlosigkeit" durch seinen offen autobiographischen Charakter. Es ist das erste Buch, das Botho Strauß aus seiner "Montaignade" zurückschickt in die Welt der Stadtteilfeste und Medienschaffenden.
Der Stadtflüchtige hat viele Ahnen. Einer von ihnen saß vor hundertfünfzig Jahren am Unterlauf der Seine. Höchstens ein paar Wochen hielt Gustave Flaubert es in Paris aus, dann mußte er aus der Metropole wieder hinaus in die freie Luft der Normandie. Dort schuf er Romane, die er so lange kürzte, bis der Ehrgeiz, die Dummheit und die Gemeinheit seiner Welt zu einem einzigen, klaren Ton verdichtet waren. Daneben schrieb er Briefe, in denen seine Verbitterung und sein Haß sich um die Form nicht scherten: endlose Tiraden über Blödheit und Verkommenheit und Verrat, sonderbare Schwärmereien von der Liebe oder von Ägypten. Diesem Ahnen ist Botho Strauß mehr als anderen verpflichtet, und an seinen Theaterstücken aus den späten siebziger und frühen achtziger Jahren ist zu erkennen, wie genau er Hilflosigkeit und Niedertracht dieser Zeit wahrnahm. Doch ist es im Verlauf des bürgerlichen Zeitalters offenbar schwieriger geworden, ein Buch gegen die Welt zu schreiben.
Wie sollte es auch gelingen. Achtzig Kilometer von Berlin entfernt kann man nur schlecht zum Einsiedler werden, und Botho Strauß will kein heiliger Antonius, sondern ein Bürger sein, und sei es der letzte einer besseren, literarischen Welt. Doch dieser "militante Anachronist, der in der Revolte des Abschieds seinen Stand sucht", weiß nicht, ob sein Bau tatsächlich hält: "Als seien die Himmel so zart, daß sie plötzlich einbrechen könnten. Als bedürfe es nur eines größeren Ungemachs, und plötzlich knickten Sicht und Stille ein, Verdammte aus allen Winkeln brächen über den Ort und den neuen Siedler herein." Die zeitgenössische Fortsetzung des Versuches, sich einen Ort außerhalb der Welt zu verschaffen und von dort Bücher gegen diese zu schreiben, bringt jetzt einen unsicheren Zwitter hervor: eine Literatur, die ihre Strenge verliert, weil sie den Brief und seine Formlosigkeit in sich aufgenommen hat. Man liest sie gern, so wie man jemandem beim Tagebuchschreiben gern über die Schulter schauen würde.
Früher war Botho Strauß ein Ohrenmensch. Er belauschte seine Zeitgenossen in ihren stets vergeblichen Versuchen, dem Verstand eine kritische Richtung zu geben. Aber das allgemeine Gerede, das Geschwätz zur Kenntlichkeit zu bringen und es womöglich an dem zu messen, was Literatur hieße, reicht ihm heute nicht mehr aus. Eine gelegentliche Ungenauigkeit des Ausdrucks, auch Fehler, verrutschte Metaphern, stolpernde Sätze gehören, aller Hochgespanntheit des Stils zum Trotz, zur Sprache von Botho Strauß.
Dieses Irren in der Form ist der Preis der permanenten Irritation, denn Botho Strauß ist ein reizbarer Mensch. Er lauert darauf, sich empören zu können. "Wenn ich in die Stadt fahre, im Zentrum irgendwo zum Essen ausgehe: alles wie immer . . . es könnte 1985 sein, kein Unterschied. Der tritt anderswo zutage. Die herrschende Klasse, die Medienschaffenden, sorgt für ein statisches Tableau." Solche Beschreibungen des deutschen Alltags gehören zu den schwächsten Stellen des neuen Buches. Das Wörterbuch der Gemeinplätze, das er seinen Lesern um die Ohren schlagen wollte, ergreift von ihm selbst Besitz. Den "Landsmann an der Tankstelle, der seine Wampe nur mit einem grobmaschigen Unterhemd bedeckt und über seine kurze Hose wölbt", kann Harald Schmidt besser beschreiben. Den Ton muß man treffen: Er stellt sich nur dort ein, wo im Idiom der Leute geredet wird.
Das tut Botho Strauß nicht mehr. Der Haß ist geschrumpft, der Furor nicht mehr präzise, er will jetzt sagen, was sich zu verteidigen lohnt. Beschreibungen, die ihm früher zur Satire gerieten, werden ihm jetzt zur Forderung an sich selbst. Deswegen, weil es nun diesen selbstgesetzten moralischen Zwang gibt, hat sich der Autor zurückgenommen, manchmal wirkt er milde wie ein Gummibärchen. "Sobald mir der einzelne mit einem eigenen Gesicht gegenübersitzt, kann ich vergessen, daß er zumindest zu vier Fünfteln aus Allgemeinheit besteht." In das Zufällige seiner Kommentare zum Lauf der Welt, in seinen stets lückenhaften Katalog der allgemeinen Verfehlungen ist die Beschreibung einer Landschaft getreten, eine Elegie in vier Kapiteln, die dem Wechsel der Jahreszeiten entsprechen, einer Wiedergewinnung der naturalen Zeit.
Was er dabei nicht alles sieht: Störche, Schlehenblüten, Wolkenflöße. Über die Weiden ziehen die früheren Freunde und Bekannten heran, Schatten alle miteinander. Und beim Anblick einer blökenden Schafherde an seinem Zaun erinnert er sich daran, daß er vor nicht langer Zeit einen Streit ausgelöst hatte, obwohl es ihm nicht um einen Austausch von Meinungen, sondern um eine Botschaft ging: "Soviel Schönheit verdienst du nicht, der du nicht warmherzig von ihr zeugst! So dachte ich und stieg am Abend über den Hügel hinunter zum Zaun. Ich sah den hellen Sprüngen der Lämmer zu. Der Bocksgesang, den ich einmal unvorsichtig berief, war vorgerückt bis an mein Haus." Mit Reue hat das nichts zu tun. Es ist nur wieder eine Prüfung.
Vor allem hört Botho Strauß nun weniger, als er sieht: Er ist ein Augenmensch geworden. Das Auge ist schwerer zu täuschen als das Ohr. Das Sehen verspricht Gewißheit, Verläßlichkeit, Unabweislichkeit, und vom Sehen handelt die Hälfte des neuen Buches. Die andere Hälfte gehört dem ästhetisch-politischen Räsonieren, das man von Botho Strauß kennt. Wieder liest man von Kreis und Pfeil, den Verkehrsschildern der metaphysischen Gegensätze. Aber die Gewißheiten sind in diesem Buch weniger deutlich als früher, und bald wächst im Leser der Verdacht, daß Botho Strauß mit seinem Verlangen, irgendwo etwas Unverbrüchliches ausfindig zu machen, ein eigenes Spiel treibt und mit seinen Gewißheiten experimentiert.
"Das Leben hängt von großen Werten ab und wird meist unter Wert verhandelt. Es kann nur Übertreibungsversuche und gescheiterte Übertreibungsversuche geben." Auch die Mimikry mit der Religiosität ist ein solcher Übertreibungsversuch: "Wenn ich Diu nach dem Vorlesen im Bett, sobald er allein ist, sein Gebet sprechen höre, denke ich . . . um wieviel sinnvoller ist es, das Leben im Vertrauen zu begründen statt im Mißtrauen." Später heißt es: "Ich bin weder Jude noch Moslem, weder Katholik noch Zen-Buddhist, und doch versuche ich, am weißen Rand der Konfessionen ein überlieferter Mensch zu sein." Es ist die große, breite Tradition, die ihn dabei interessiert, und die Überlieferung, als die er beim Sohn den Kinderglauben begrüßt, ist für ihn selbst die Literaturgeschichte - und dabei denkt er nicht mehr, wie früher, an die Hausgötter des Eigensinns wie Hölderlin, Nietzsche und Artaud, sondern an Mörike, Raabe und Lenau.
Ein "Schriftfortsetzer" wolle er sein, behauptet Botho Strauß, ein Kopist, und wenn er beim Abschreiben einen Fehler mache, dann hoffe er, daß er wie die Natur funktioniere, die einen Evolutionssprung daraus macht. Aber dann erklärt er auch, daß er seinen Büchern nicht mehr traue: "Wie verblaßt meine Bibliothek!" Und er sagt das, wohlgemerkt, in einem Buch. Aus solchen Experimenten bestehen die räsonierenden Teile dieses Buches - es sind lauter Bewährungsproben, mehr oder weniger vollständig und oft auf halbem Wege abgebrochen. Das Prinzip dieser Inkonsequenzen und Selbstdementis hat Jean-Jacques Rousseau formuliert: Es ist das "tout dire".
Auch der Sohn wird in solche Erkundungen hineingezogen, auch er hat einen Ahnen. Er heißt Émile. Botho Strauß will im emphatischen Sinne Vater sein. Er initiiert seinen Sohn, er macht mit ihm keine kleinen Spaziergänge, sondern große Wanderungen, gerne durch das verbotene Gelände des Naturschutzgebiets, in die "eigentliche" Natur. Und als sei es ein Stück von ebenjenem Rousseau, gerät dem Vater auch diese Initiation zu einem ambivalenten Unternehmen: Es bedarf einiger Mühe, den Sohn im Natürlichen aufzuziehen, man muß überlegen und planen, ja Intrigen schmieden, und am Ende sind Kevin, Randy und Brandon, oder wie sie heißen mögen, ohnehin die Stärkeren. "Diu läßt mich telefonisch wissen, daß er das nächste Wochenende lieber mit den Freunden in der Stadt verbringt." Es fällt schwer, darin nicht eine Niederlage zu erkennen, noch größer als jene grausam und großartig geschilderte Blamage, die der Vater bei einem gemeinsamen Zirkusbesuch erleidet, als er in die Manege gebeten wird und dümmer dasteht als der Dümmste der Menge: "ein Esel im roten T-Shirt".
Man hat Botho Strauß nachgesagt, er habe der verdorbenen Stadt den Rücken gekehrt und eine Arche Noah auf dem Land gebaut. Daß so schlecht gelesen wird, setzt ihn trotz der wechselnden Qualitäten seines neuen Buchs ins Recht. Die Autobahn dröhnt, das Haus besitzt Zentralheizung, der Dichter besitzt einen Computer, und auch die Gentechnik wäre im Recht, wenn es nur zum Besten des Menschen wäre. Noch deutlicher ist das Bekenntnis zur literarischen Moderne. Baudelaire, der Dichter der Großstadt, ist ein Vorbild, dem er gleichen möchte. Und wenn sich Botho Strauß wünscht, es möge einer kommen und "die Stadt abräumen", dann ist das viel weniger eine reaktionäre Phantasie als eine Anknüpfung an den Futurismus der zwanziger Jahre, an die destruktiven Phantasien von Filippo Tommaso Marinetti. Der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts gelten die besten Stücke dieses Buches. Auch das ist kein Zufall. "Es gibt diese tiefe Sehnsucht nach Unbesonnenheit, die zurückführt zu den frühen Manifesten der Moderne." Denn unbesonnen zu sein, eine Prüfung, eine Selbstprüfung auszulassen ist das letzte, was man Botho Strauß nachsagen könnte. "Die Fehler des Kopisten" ist ein Buch der Bedenklichkeiten. Das ist kein geringes Verdienst und eine große Verlegenheit.
Botho Strauß: "Die Fehler des Kopisten". Carl Hanser Verlag, München und Wien 1997. 208S., geb., 35,- DM.
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