Die "süße, unverdorbene, vorprofessionelle Atmosphäre", in der die Mitglieder naturwissenschaftlicher Amateurvereine ihrer Liebhaberei nachgehen, bekennt Oliver Sacks, habe ihn schon immer angezogen. Und wenn der berühmte Neurologe und Autor dann eines Tages mit der Amerikanischen Farngesellschaft auf Exkursion in die mexikanische Provinz Oaxaca fährt, dann kann man sich denken, dass es ihm im Gegensatz zu manch anderem Teilnehmer nicht nur um seltene Farne geht. Froh und vergnügt "angesichts der Vorstellung, eineinhalb Wochen dem strengen New Yorker Winter zu entgehen", lässt Sacks sich auf das kleine Abenteuer des ihm fremden Landes ein; und schon von dem Moment, wo die Maschine der AeroMexico abhebt, genießt er "das basarhafte Treiben" an Bord, das so völlig anders ist als das nüchterne öffentliche Leben in den USA. Mit unermüdlicher, gleichwohl gelassener Neugierde, offen und zuweilen selbstironisch, interessiert sich Sacks für das Land, die Leute, die Geschichte Mexikos, erzählt aus der Paläontologie wie aus der mexikanischen Revolution, lässt sich von seinen Farn-erfahrenen Reisegefährten belehren und besucht auch "El Gigante", die berühmte Riesenzypresse im Hof der Kirche Santa Maria del Tule, vor der schon Alexander von Humboldt staunend stand. Ein Buch, heiter und anregend wie ein Ausflug nach Mexiko.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2005Bloß irgendein blöder Farn
Oliver Sacks schreibt ein Bestimmungsbuch der menschlichen Natur
Tiere haben keine Hobbys. Zumindest hat man noch nie von Vierbeinern gehört, die Farne sammeln und bestimmen, wie es zum Beispiel der amerikanische Schriftsteller Oliver Sacks in seiner Freizeit unternimmt. Und mit ihm viele, viele andere Enthusiasten, die sich weltweit in Vereinen wie der "British Pteridological Society" zusammentun, um Farne zu erforschen. (Auch das Vereinswesen ist unter Tieren unbekannt und nicht mit der Rudelbildung zu verwechseln.) Sacks, der mit seinen neuropathologischen Erfolgsbüchern wie "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" international sehr bekannt wurde, ist seit Jahren Mitglied der "Amerikanischen Farngesellschaft". Mit einer Handvoll Gleichgesinnter aus diesem Kreis ist er vor einiger Zeit auf Entdeckungsreise nach Mexiko aufgebrochen, immer den Farnen auf der Spur. Sein kurzweiliges Reisetagebuch ist nun, passend zum Humboldt-Jahr, auch auf deutsch erschienen: 1803 war Alexander von Humboldt ebenfalls nach Oaxaca gereist und hatte seine Betrachtungen in den "Ansichten der Natur" niedergelegt.
Kautschukbäume, Koschenilleschildläuse, koschere Heuschrecken, Kandelaberkakteen: seine Ansichten der Natur dokumentiert Sacks in "Die feine New Yorker Farngesellschaft" so gut wie die sogenannte Pteridomanie, also den Farnenwahn, der schon im viktorianischen England um sich griff und offenbar bis heute manche Zeitgenossen in Bann hält. Unter Sacks' Mitstreitern befinden sich jedenfalls einige Exemplare, denen angesichts eines Elaphogossum geradezu schwindlig wird: "Oh!" ruft da beispielsweise John Mickel, der 1973 die New Yorker Sektion der altehrwürdigen Amerikanischen Farngesellschaft gegründet hatte. "Ist das nicht toll? Verschmierte Sporangien auf der Unterseite!" Mickel vergleicht Sporen gelegentlich mit Kaviar. Seine Freunde nennen solche Gefühlsausbrüche dann hinter vorgehaltener Hand "pteridologische Orgasmen", aber sie haben gut reden: Dieselben Spötter entschuldigen sich pflichtschuldigst, wenn sie einmal nicht die eingerollten Blatttriebe eines Farns, sondern ganz gewöhnliche Blütenpflanzen bewundern. "Blumen mit ihrer Unverhülltheit, ihrer Unverblümtheit, finde ich ein bißchen aufdringlich", gesteht auch Oliver Sacks. Und spätestens an dieser Stelle, keine fünfzig Seiten ins Buch hinein, stellt man fest: Sacks schreibt zwar vordergründig über Botanik, hintergründig jedoch abermals über zutiefst menschliche Phänomene wie schon in seinen Bestsellern zuvor. Doch ist dies Tagebuch natürlich keine Fallgeschichte schwerer Nervenstörungen, sondern eine schwerer Leidenschaften und Extravaganzen. Der Mensch, lernt man, ist erst dort ganz Mensch, wo er ein Hobby hat, nicht nur dort, wo er spielt. Denn auch Tiere spielen.
Seine Eindrücke und Einsichten notiert Sacks wie gewohnt mit leiser Ironie, was es um so unterhaltsamer macht zu verfolgen, wie er da durchs mexikanische Unterholz streift, mal schwer atmend, mal beschwingt, und seine Mitstreiter porträtiert: Einer sieht aus wie Charles Dickens. Ein zweiter begrüßt die Gruppe mit der Frage: "Haben Sie John Locke gelesen?", um gleich darauf mit zwei Bodenkundlern fließend norwegisch zu sprechen. Mit einem dritten tauscht Sacks giftige Grüße aus: "Mispickel!" - "Operment!" - "Realgar!" Dabei bleibt es nicht. Diese interessanten Spinner haben nämlich nicht nur Lieblingsarsensulfide, sondern auch Lieblingsfossilien. Die versteinerten Favoriten von Oliver Sacks zum Beispiel heißen Cacops und Eryops.
Unter den Farnforschern, die sich nach Oaxaca aufgemacht haben, ist der Schriftsteller aber eher ein Laie. "Bloß irgendein blöder Farn", denkt er, als er einmal die höchst seltene Llavea cordifolia betrachtet, und schämt sich sofort - denn "das ist natürlich ein Gedanke, den ich in dieser Gruppe nicht laut ausspreche!" Sacks ist zwar zutiefst fasziniert von der Botanik, doch darin längst nicht so bewandert wie etwa seine Vereinskameradin Nancy Bristow, eine Mathematikerin, deren Herz nicht nur den Farnen, sondern auch den Vögeln gehört und die ihm beiläufig die aerodynamischen Unterschiede zwischen Falken und Geiern erklärt. Sacks' Herz aber gehört zuallerletzt weder den Arsensulfiden noch den Fossilien oder den kryptogamen Pflanzen, sondern dem Menschen. Wann immer er ihn beschreibt, beiläufig, als Freizeitforscher und Amateur, als sonderbare Spezies und wunderbare Eigenart, wird dies kleine Journal zum feinen Bestimmungsbuch menschlicher Natur.
TOBIAS RÜTHER
Oliver Sacks: "Die feine New Yorker Farngesellschaft". Ein Ausflug nach Mexiko. Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Verlag Frederking & Thaler, München 2004. 172 Seiten, 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Oliver Sacks schreibt ein Bestimmungsbuch der menschlichen Natur
Tiere haben keine Hobbys. Zumindest hat man noch nie von Vierbeinern gehört, die Farne sammeln und bestimmen, wie es zum Beispiel der amerikanische Schriftsteller Oliver Sacks in seiner Freizeit unternimmt. Und mit ihm viele, viele andere Enthusiasten, die sich weltweit in Vereinen wie der "British Pteridological Society" zusammentun, um Farne zu erforschen. (Auch das Vereinswesen ist unter Tieren unbekannt und nicht mit der Rudelbildung zu verwechseln.) Sacks, der mit seinen neuropathologischen Erfolgsbüchern wie "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" international sehr bekannt wurde, ist seit Jahren Mitglied der "Amerikanischen Farngesellschaft". Mit einer Handvoll Gleichgesinnter aus diesem Kreis ist er vor einiger Zeit auf Entdeckungsreise nach Mexiko aufgebrochen, immer den Farnen auf der Spur. Sein kurzweiliges Reisetagebuch ist nun, passend zum Humboldt-Jahr, auch auf deutsch erschienen: 1803 war Alexander von Humboldt ebenfalls nach Oaxaca gereist und hatte seine Betrachtungen in den "Ansichten der Natur" niedergelegt.
Kautschukbäume, Koschenilleschildläuse, koschere Heuschrecken, Kandelaberkakteen: seine Ansichten der Natur dokumentiert Sacks in "Die feine New Yorker Farngesellschaft" so gut wie die sogenannte Pteridomanie, also den Farnenwahn, der schon im viktorianischen England um sich griff und offenbar bis heute manche Zeitgenossen in Bann hält. Unter Sacks' Mitstreitern befinden sich jedenfalls einige Exemplare, denen angesichts eines Elaphogossum geradezu schwindlig wird: "Oh!" ruft da beispielsweise John Mickel, der 1973 die New Yorker Sektion der altehrwürdigen Amerikanischen Farngesellschaft gegründet hatte. "Ist das nicht toll? Verschmierte Sporangien auf der Unterseite!" Mickel vergleicht Sporen gelegentlich mit Kaviar. Seine Freunde nennen solche Gefühlsausbrüche dann hinter vorgehaltener Hand "pteridologische Orgasmen", aber sie haben gut reden: Dieselben Spötter entschuldigen sich pflichtschuldigst, wenn sie einmal nicht die eingerollten Blatttriebe eines Farns, sondern ganz gewöhnliche Blütenpflanzen bewundern. "Blumen mit ihrer Unverhülltheit, ihrer Unverblümtheit, finde ich ein bißchen aufdringlich", gesteht auch Oliver Sacks. Und spätestens an dieser Stelle, keine fünfzig Seiten ins Buch hinein, stellt man fest: Sacks schreibt zwar vordergründig über Botanik, hintergründig jedoch abermals über zutiefst menschliche Phänomene wie schon in seinen Bestsellern zuvor. Doch ist dies Tagebuch natürlich keine Fallgeschichte schwerer Nervenstörungen, sondern eine schwerer Leidenschaften und Extravaganzen. Der Mensch, lernt man, ist erst dort ganz Mensch, wo er ein Hobby hat, nicht nur dort, wo er spielt. Denn auch Tiere spielen.
Seine Eindrücke und Einsichten notiert Sacks wie gewohnt mit leiser Ironie, was es um so unterhaltsamer macht zu verfolgen, wie er da durchs mexikanische Unterholz streift, mal schwer atmend, mal beschwingt, und seine Mitstreiter porträtiert: Einer sieht aus wie Charles Dickens. Ein zweiter begrüßt die Gruppe mit der Frage: "Haben Sie John Locke gelesen?", um gleich darauf mit zwei Bodenkundlern fließend norwegisch zu sprechen. Mit einem dritten tauscht Sacks giftige Grüße aus: "Mispickel!" - "Operment!" - "Realgar!" Dabei bleibt es nicht. Diese interessanten Spinner haben nämlich nicht nur Lieblingsarsensulfide, sondern auch Lieblingsfossilien. Die versteinerten Favoriten von Oliver Sacks zum Beispiel heißen Cacops und Eryops.
Unter den Farnforschern, die sich nach Oaxaca aufgemacht haben, ist der Schriftsteller aber eher ein Laie. "Bloß irgendein blöder Farn", denkt er, als er einmal die höchst seltene Llavea cordifolia betrachtet, und schämt sich sofort - denn "das ist natürlich ein Gedanke, den ich in dieser Gruppe nicht laut ausspreche!" Sacks ist zwar zutiefst fasziniert von der Botanik, doch darin längst nicht so bewandert wie etwa seine Vereinskameradin Nancy Bristow, eine Mathematikerin, deren Herz nicht nur den Farnen, sondern auch den Vögeln gehört und die ihm beiläufig die aerodynamischen Unterschiede zwischen Falken und Geiern erklärt. Sacks' Herz aber gehört zuallerletzt weder den Arsensulfiden noch den Fossilien oder den kryptogamen Pflanzen, sondern dem Menschen. Wann immer er ihn beschreibt, beiläufig, als Freizeitforscher und Amateur, als sonderbare Spezies und wunderbare Eigenart, wird dies kleine Journal zum feinen Bestimmungsbuch menschlicher Natur.
TOBIAS RÜTHER
Oliver Sacks: "Die feine New Yorker Farngesellschaft". Ein Ausflug nach Mexiko. Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Verlag Frederking & Thaler, München 2004. 172 Seiten, 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wer mit einem liebevollen Blick auf die Schrullen seiner Mitmenschen ausgestattet ist, wird an diesem Buch seine helle Freude haben, daran lässt Rezensentin Eva-Elisabeth Fischer keinen Zweifel. Schon in seinen neurologischen Fallbeschreibungen "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" hatte Oliver Sacks zur Genugtuung der Rezensentin die Abweichung von der Norm niemals als etwas Bedrohliches dargestellt, und so konnte sie auch seine seltsame Exkursion mit einer Farngesellschaft ins mexikanische Oaxaca genießen. Versammelt hat sich hier nach Darstellung der Rezensentin ein Club angegrauter Amateurforscher, deren "subtile Art der Sublimierung" sie arg an viktorianische Glanzzeiten erinnerte. Mit Humor beschreibe Sacks den schwer nachvollziehbaren Enthusiasmus der Farnliebhaber, auch seine eigene Vorliebe für ihre Schönheit verhüllende Pflanzen; zu Hochtouren laufe er aber auf, versichert Fischer, wenn er chemische Stoffe in Pflanzen schildert, die offenbar sehr bedeutsam für die Entwicklung von Serotoninblockern gewesen sind, oder wenn er in den geometrischen Mustern von Palästen eine universelle halluzinatorische Formkonstante entdeckt. Dann, jubelt Fischer, erkennt der Leser, wie Sacks - Alexander von Humboldt nicht unähnlich - ein "aus der Mode gekommenes Denken" und damit ein universales Weltbild kultiviert hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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