In einer Zeit, in der die Orte immer austauschbarer werden, sie immer mehr ihre Authentizität verlieren, in der die Welt immer kleiner zu werden scheint, reist Klaus Böldl an den Rand der Welt, nach Island und auf die Färöer. Er entdeckt dort ein Land, an das man sich so nur noch in der Literatur erinnern konnte.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2003Es schwingt eine Hoteltür auf Grönland
Klaus Böldls „Ferne Inseln” sind eine wunderbare Sprachlandschaft unter dem hyperboreischen Licht
Fließend, so könnte man meinen, sei die Grenze zwischen der Reisereportage einerseits und dem Landschaftsporträt als literarischer Kunstform andererseits. Klaus Böldls Buch „Die fernen Inseln” klärt den Unterschied, obwohl es zunächst und strenggenommen nichts anderes ist als ein Reisebericht. Er führt in eine Weltgegend, die nur Minderheiten dazu verlocken dürfte, auf den Spuren des Autors zu wandeln: Island und die Färöer, eisige Eilande am äußersten Nordrand Europas, ziehen mit ihren spektakulären Panoramen vor allem temperaturresistente Abenteuertouristen an, die danach viel von überhöhten Bierpreisen zu erzählen wissen. Unwiderstehlich aber ist die Magie, die von Böldls Sprachlandschaft ausgeht. Sie bewirkt, dass man, auch wenn man gerade in Bayern oder in der Provence unterwegs ist, nicht müde wird, lesend in jene hyperboreischen Zonen einzutauchen. Ein wundersames Paradox liegt darin, dass der Sehnsuchtsort, den diese Schilderungen vor das innere Auge rufen, sich gleichwohl nicht im hohen Norden auffinden lässt, sondern allein in der Sphäre der Literatur – am Rand der Welt, doch in einem Verständnis, das über das topographische weit hinausgeht.
Der Autor Klaus Böldl ist Skandinavist, Übersetzer altnordischer Dichtungen und Verfasser einer Dissertation über die Rezeptionsgeschichte der Edda. In seinen belletristischen Arbeiten hat er sich bisher konsequent auf dem Terrain bewegt, das die Reichweite seines Fachs ihm vorgibt. Sein auf Grönland spielender Debütroman „Studie in Kristallbildung” und die Erzählung „Südlich von Abisko”, deren Held in Stockholm von Lappland träumt, ernteten hohes Lob, aber auch milde Skepsis, beides zu Recht. Im Korsett eines Plots konnte seine auf feinste Nuancen bedachte Prosa sich noch nicht völlig entfalten; die fiktionale Ebene schien die essayistisch-kontemplative, die Böldls Stärke ist, eher zu stören als zu stützen. Jetzt hat er die Form gefunden, die ihm entspricht: Befreit vom Ballast des Erfundenen, bewegt er sich anmutig zwischen Beobachtung, Beschreibung und Reflexion und entwirft Landschaftsbilder von atemberaubender Klarheit und Raumtiefe. Die Erfahrung, die der Leser dabei macht, hat Böldl als seine eigene schon formuliert: „Es kommt einem so vor”, heißt es mit Blick auf eine bestimmte Wetterlage, „als sei eine sonst nur in manchen Träumen erfahrene, als Dauerzustand wahrscheinlich gar nicht zu ertragende Deutlichkeit in die Welt gekommen.”
Gewiss verführen das Licht, das Farbenspiel von Wasser und Himmel, die Wolkenbildungen und Felsformationen, die greifbare Präsenz erdgeschichtlicher Prozesse auf den Inseln dazu, diese an Extremen reiche Landschaft mit Bedeutung aufzuladen, ihre grandiose Einsamkeit ans Metaphysische rühren zu sehen. Doch Böldls von romantischen Erzähltraditionen sanft gelenkte Kunst erweist sich gerade darin, dass er das Kleine, Unscheinbare dem Erhabenen gleichwertig an die Seite stellt, dass er die Spuren der alles kontaminierenden Zivilisation, die mit Wellblechschuppen und neonbeleuchteten Cafés, Tankstellen und Buswartehäuschen,Videotheken und Pizzahut-Filialen längst bis in die entlegensten Bezirke vorgedrungen ist, in seine ruhig- nüchterne Wahrnehmung einbezieht: Nicht selten sind es diese Requisiten aus einer anderen, hier exotisch anmutenden Welt, die das Bild erst komplettieren, indem sie es ins Surreale kippen lassen. Zugleich bleibt spürbar, dass dies alles nur ein Provisorium ist, jederzeit bedroht von dem „weiß glühenden Kern im Innersten dieses Planeten, auf dem wir ein Leben lang in stumpfsinniger Unbekümmertheit herumwandern”.
Das Element des Erzählens fließt immer wieder in die Anschauung ein, so dass jene Genremischung entsteht, wie wir sie von den Wanderungen eines Peter Handke oder W.G. Sebald kennen. Dabei ist Böldls Ton weniger preziös und gravitätisch als der Handkes, während er Sebalds Abgeklärtheit noch nicht ganz erreicht. Von den Vulkanausbrüchen wird berichtet, denen die Inseln ihre (vorläufige) Gestalt verdanken, von den Vorahnungen ihrer Bewohner, aber auch von einem neuzeitlichen Grindwalmassaker auf den Färöern. Und immer hallt die Landschaft wider vom Klang der Sagas, deren Gestalten aus dem Niemandsland zwischen Historie und Dichtung dem Erzähler auf Schritt und Tritt begegnen.
Vielleicht vermag ein Leser, der sich noch nie für isländische Literatur interessiert hat, ihm hier nicht so mühelos zu folgen wie bei seinen wie durch Zeitlupe verlangsamten, traumsicheren Erkundungen des Geländes, vielleicht hat in diesen Passagen die Belehrung zu sehr Vorrang vor der Poesie. Dafür, dass Böldls Blick von den Fesseln philologischer Fachgelehrsamkeit frei ist, bürgen andere Stellen, etwa die mit dem „Fenster am Dorfrand, das gekippt wurde und auf einmal statt der undeutlichen Gestalt dahinter den Wolkenhimmel abbildete”. Mit dieser unverwechselbaren Film-Spiegelung korrespondiert in seinem Erstling das „Tati-Geräusch” einer grönländischen Hotelschwingtür. Auch kommt ihm angesichts der märchenhaften Wandelbarkeit der Meeresoberfläche wie selbstverständlich eine Bemerkung Paul Cézannes über die Farbe als Ort der Begegnung von Gehirn und Weltall in den Sinn. Der Kosmos dieses Schriftstellers, soviel ist sicher, endet nicht in nordatlantischen Gefilden. Man wäre geneigt, ihn auch beim Vermessen südlicherer Landstriche zu begleiten.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
KLAUS BÖLDL: Die fernen Inseln. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 158 Seiten, 16,90 Euro.
Die Farbe ist der Ort der Begegnung von Gehirn und Weltall Foto: archivberlin/ E. Hellen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Klaus Böldls „Ferne Inseln” sind eine wunderbare Sprachlandschaft unter dem hyperboreischen Licht
Fließend, so könnte man meinen, sei die Grenze zwischen der Reisereportage einerseits und dem Landschaftsporträt als literarischer Kunstform andererseits. Klaus Böldls Buch „Die fernen Inseln” klärt den Unterschied, obwohl es zunächst und strenggenommen nichts anderes ist als ein Reisebericht. Er führt in eine Weltgegend, die nur Minderheiten dazu verlocken dürfte, auf den Spuren des Autors zu wandeln: Island und die Färöer, eisige Eilande am äußersten Nordrand Europas, ziehen mit ihren spektakulären Panoramen vor allem temperaturresistente Abenteuertouristen an, die danach viel von überhöhten Bierpreisen zu erzählen wissen. Unwiderstehlich aber ist die Magie, die von Böldls Sprachlandschaft ausgeht. Sie bewirkt, dass man, auch wenn man gerade in Bayern oder in der Provence unterwegs ist, nicht müde wird, lesend in jene hyperboreischen Zonen einzutauchen. Ein wundersames Paradox liegt darin, dass der Sehnsuchtsort, den diese Schilderungen vor das innere Auge rufen, sich gleichwohl nicht im hohen Norden auffinden lässt, sondern allein in der Sphäre der Literatur – am Rand der Welt, doch in einem Verständnis, das über das topographische weit hinausgeht.
Der Autor Klaus Böldl ist Skandinavist, Übersetzer altnordischer Dichtungen und Verfasser einer Dissertation über die Rezeptionsgeschichte der Edda. In seinen belletristischen Arbeiten hat er sich bisher konsequent auf dem Terrain bewegt, das die Reichweite seines Fachs ihm vorgibt. Sein auf Grönland spielender Debütroman „Studie in Kristallbildung” und die Erzählung „Südlich von Abisko”, deren Held in Stockholm von Lappland träumt, ernteten hohes Lob, aber auch milde Skepsis, beides zu Recht. Im Korsett eines Plots konnte seine auf feinste Nuancen bedachte Prosa sich noch nicht völlig entfalten; die fiktionale Ebene schien die essayistisch-kontemplative, die Böldls Stärke ist, eher zu stören als zu stützen. Jetzt hat er die Form gefunden, die ihm entspricht: Befreit vom Ballast des Erfundenen, bewegt er sich anmutig zwischen Beobachtung, Beschreibung und Reflexion und entwirft Landschaftsbilder von atemberaubender Klarheit und Raumtiefe. Die Erfahrung, die der Leser dabei macht, hat Böldl als seine eigene schon formuliert: „Es kommt einem so vor”, heißt es mit Blick auf eine bestimmte Wetterlage, „als sei eine sonst nur in manchen Träumen erfahrene, als Dauerzustand wahrscheinlich gar nicht zu ertragende Deutlichkeit in die Welt gekommen.”
Gewiss verführen das Licht, das Farbenspiel von Wasser und Himmel, die Wolkenbildungen und Felsformationen, die greifbare Präsenz erdgeschichtlicher Prozesse auf den Inseln dazu, diese an Extremen reiche Landschaft mit Bedeutung aufzuladen, ihre grandiose Einsamkeit ans Metaphysische rühren zu sehen. Doch Böldls von romantischen Erzähltraditionen sanft gelenkte Kunst erweist sich gerade darin, dass er das Kleine, Unscheinbare dem Erhabenen gleichwertig an die Seite stellt, dass er die Spuren der alles kontaminierenden Zivilisation, die mit Wellblechschuppen und neonbeleuchteten Cafés, Tankstellen und Buswartehäuschen,Videotheken und Pizzahut-Filialen längst bis in die entlegensten Bezirke vorgedrungen ist, in seine ruhig- nüchterne Wahrnehmung einbezieht: Nicht selten sind es diese Requisiten aus einer anderen, hier exotisch anmutenden Welt, die das Bild erst komplettieren, indem sie es ins Surreale kippen lassen. Zugleich bleibt spürbar, dass dies alles nur ein Provisorium ist, jederzeit bedroht von dem „weiß glühenden Kern im Innersten dieses Planeten, auf dem wir ein Leben lang in stumpfsinniger Unbekümmertheit herumwandern”.
Das Element des Erzählens fließt immer wieder in die Anschauung ein, so dass jene Genremischung entsteht, wie wir sie von den Wanderungen eines Peter Handke oder W.G. Sebald kennen. Dabei ist Böldls Ton weniger preziös und gravitätisch als der Handkes, während er Sebalds Abgeklärtheit noch nicht ganz erreicht. Von den Vulkanausbrüchen wird berichtet, denen die Inseln ihre (vorläufige) Gestalt verdanken, von den Vorahnungen ihrer Bewohner, aber auch von einem neuzeitlichen Grindwalmassaker auf den Färöern. Und immer hallt die Landschaft wider vom Klang der Sagas, deren Gestalten aus dem Niemandsland zwischen Historie und Dichtung dem Erzähler auf Schritt und Tritt begegnen.
Vielleicht vermag ein Leser, der sich noch nie für isländische Literatur interessiert hat, ihm hier nicht so mühelos zu folgen wie bei seinen wie durch Zeitlupe verlangsamten, traumsicheren Erkundungen des Geländes, vielleicht hat in diesen Passagen die Belehrung zu sehr Vorrang vor der Poesie. Dafür, dass Böldls Blick von den Fesseln philologischer Fachgelehrsamkeit frei ist, bürgen andere Stellen, etwa die mit dem „Fenster am Dorfrand, das gekippt wurde und auf einmal statt der undeutlichen Gestalt dahinter den Wolkenhimmel abbildete”. Mit dieser unverwechselbaren Film-Spiegelung korrespondiert in seinem Erstling das „Tati-Geräusch” einer grönländischen Hotelschwingtür. Auch kommt ihm angesichts der märchenhaften Wandelbarkeit der Meeresoberfläche wie selbstverständlich eine Bemerkung Paul Cézannes über die Farbe als Ort der Begegnung von Gehirn und Weltall in den Sinn. Der Kosmos dieses Schriftstellers, soviel ist sicher, endet nicht in nordatlantischen Gefilden. Man wäre geneigt, ihn auch beim Vermessen südlicherer Landstriche zu begleiten.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
KLAUS BÖLDL: Die fernen Inseln. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 158 Seiten, 16,90 Euro.
Die Farbe ist der Ort der Begegnung von Gehirn und Weltall Foto: archivberlin/ E. Hellen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003Die Glut dampft unterm Lesesessel
Reisebericht als Elementargedicht: Klaus Böldls "Ferne Inseln" stoßen ein Fenster zum Himmel auf / Von Heinrich Detering
In einer dieser unscheinbaren Szenen, die sich im Gedächtnis des Lesers verhaken, fällt der Blick des Erzählers auf "ein Fenster am Dorfrand, das gekippt wurde und auf einmal statt der undeutlichen Gestalt dahinter den Wolkenhimmel abbildete". Es ist der Himmel über den Färöerinseln im Nordatlantik, der sich da spiegelt, höher und weiter als sonst irgendwo. "Es gab da ein Muster", fährt der Erzähler fort, "dessen war ich nun sicher, auch wenn ich es noch nicht erkennen konnte." Im Unterschied zu ihm erkennt der Leser das Muster sogleich. Denn es ist dasselbe, dem dieses ganze wundersame Buch folgt; wie sein poetisches Emblem erscheint die Kippfigur. Auch Klaus Böldls Erzählung ist so ein Fenster, das mit einer kleinen, leisen Bewegung zum Spiegel eines Himmels werden kann, in dem das alltägliche Menschenleben beinahe spurlos aufgeht.
"Eine ferne und gleichzeitig traumhaft überdeutliche Inselwelt" schildert Böldl auch in diesem seinem dritten Prosatext: den äußersten Norden Europas, außer den Färöern auch Island und endlich die letzten Siedlungen der grönländischen Ostküste. Traumhaft, das ist ein Schlüsselwort. Wer dem Erzähler im Mittsommerlicht über die endlosen Uferwiesen und die vulkanischen Aschefelder Islands folgt, durch die Felswände der Färöer und endlich ins wie eine Apotheose dieser Welteinsamkeit erscheinende grönländische Eis, der gerät in eine erscheinende Traumsphäre, in der alles möglich und nichts ganz geheuer erscheint, in der das Geheimnisvolle und das Vertraute ineinander übergehen. Überwirklich ist es hier, im doppelten Sinne.
In dieser überscharfen Klarheit, in der die durch nichts getrübte Luft den Landschaftsräumen eine unwirkliche Weite gibt, tauchen zuweilen einsame Figuren auf. Wie in extrem verlangsamten Zeitlupenaufnahmen bewegen sie sich, immer sonderbar schweigsam und fern - die Leute, denen der Wanderer beim Heuwenden zusieht, "jeder so weit vom andern entfernt, daß nichts geredet werden konnte oder mußte", oder, auf der Terrasse eines Zweifamilienhauses, "ein steinaltes Ehepaar völlig reglos vor seinen Kaffeetassen, wie erstarrt im kalten Dunst". Da ist wieder die Kippfigur, verborgen in den Adjektiven. Denn noch ehe das Wort "erstarrt" gefallen ist, sind die beiden Steinalten ja, mit ebendieser Metapher, schon im Begriff, wieder zum Bestandteil des Felsgrundes zu werden, aus dem sie herausgewachsen scheinen, gehen flüchtige Zivilisation und dauernde Natur ineinander über wie der Nebeldunst und der erkaltende Dampf aus den Kaffeetassen. Solche Kleinstereignisse spielen sich hier ab, mehr nicht, und doch so welthaltig wie nur irgendein Romangeschehen.
Weil kein romantisches Wunschbild Böldls Kameraauge besticht, entgeht ihm nichts - der unvergängliche Plastikmüll am Wegrand sowenig wie die Farben des Mooses auf der Landebahn bei Reykjavík. Gerade aus der Konsequenz dieses Hyperrealismus aber entstehen hier vor den Augen des Lesers immer wieder metaphysische Landschaften, so abgründig, so unheimlich und vieldeutig wie nur je ein romantischer Text. Jederzeit können die Perspektiven kippen. Dann wird der Asphalt der aufgegebenen Straßenbauprojekte, die irgendwo in der Einsamkeit enden, geräuschlos "durchbrochen vom seit Jahrmillionen unbeirrbar sich fort und fort arbeitenden Gras", und die Bodenwärme des Lavafeldes dringt herauf aus jener "Glut im Erdinnern, von der uns ja alle nur eine hauchdünne Erdschicht trennt". Wer diesem Wanderer durch seine vier großen Kapitel folgt, wird manchmal sogar eine Ahnung des planetarischen Glutkerns spüren, von dem auch der sichere Lesesessel nur einen Hauch weit entfernt ist.
So einsam Böldls Urlandschaften oft aussehen, sie sind doch seit einem Jahrtausend erfüllt von Stimmen, die nicht zur Ruhe kommen. Wie etwa W. G. Sebalds Ostengland in den "Ringen des Saturn" - mit denen Böldls Buch auch im Rang vergleichbar ist - hallen diese nordischen Gegenden wider von Erinnerungen. Kein Berg, keine Bucht, die nicht irgendwann Schauplätze einer Saga gewesen wären, von Geschichte und Literatur in einem. Das beschriebene ist auch hier ein beschriftetes Land, und diese Schrift ist nicht weniger überwältigend gegenwärtig als die Natur. Da Klaus Böldl ein Kenner und exzellenter Übersetzer dieser altnordischen Dichtung ist, folgt er auch den Schriftspuren, die durch die Landschaften führen. Schöne und rätselhafte Geschichten hat er zu erzählen, von Helden- und Götterkämpfen, von Elfenzauber und Bannflüchen. Ob diese archaischen Welten selbst womöglich aus den alten Handschriften heraufgestiegen sind, mit deren Entzifferung wir den Erzähler manchmal beschäftigt sehen, oder die Mythen der Jahrhunderte aus dem Land, das bleibt hier ebenso in der Schwebe wie die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Traum. Immer wieder überkommt den Wanderer und mit ihm den Leser das Gefühl eines Déjà-vu, als nehme in den Felsen und Flechten, in Vulkanen und Eisbergen eine traumhaft vorgewußte Welt nur äußere Gestalt an. "Rollende Sphären" hat Thomas Mann diesen Wechseltausch von Mythos und Geschichte, Himmel und Erde genannt. Böldl sieht den Sphären beim Rollen, beim Rollentausch zu und erkundet die Schwindelgefühle, die dieser Anblick auslöst.
Auf die Urgestalt des Geschauten antwortet dieser Schriftsteller mit einer äußersten Sensibilität des Stils. Böldls vielgerühmte Nordland-Erzählungen "Studie in Kristallbildung" und "Südlich von Abisko" standen noch unter dem selbst auferlegten Zwang, die Landschaften am roten Faden einer Geschichte erzählen zu müssen. Befreit vom Zwang zum Plot, in der an Sebald oder Handke erinnernden Mischform aus Essay und Erzählung, wird nun sein Reisebericht zum Elementargedicht. Hätte Handke sein im Spätwerk immer neu proklamiertes Programm einmal verwirklicht und die Welt in ihrer unheimlichen und berückenden Fremdheit sich selbst erzählen lassen - es müßte sich ungefähr so anhören wie Böldls Prosa. Ruhig und gesammelt sind diese manchmal weiten Satzperioden, von strenger und zarter, manchmal spröder Prägnanz und großer Leuchtkraft. Von allen Eindrücken dieses eindringlichen Buches wird keiner dem Leser so lange nachgehen wie der Klang seiner Prosa.
Einmal nur, ganz beiläufig, erwähnt Böldl als Lehrmeister Cézanne, mit dem Diktum, die Farbe sei der Ort, an dem unser Gehirn und das Weltall sich begegnen. Es spricht für die Qualität dieses Buches, daß es dieses Zitat trägt - nicht zuletzt übrigens auch in der Nuanciertheit seiner Farbdarstellungen. Böldls Sainte-Victoire ist der Snaefallsjökull. Am Ende ist auch für den Leser wie für den Reisenden selbst kaum zu entscheiden, "was den stärkeren Eindruck gemacht hat: die von Wirklichkeit strotzenden Dinge oder das wie selten sonst wahrnehmbare Nichts zwischen diesen Dingen, in das man ja irgendwann eingehen wird". Unheimlich sind diese Übergänge vom Realismus ins Metaphysische, aber tröstlich manchmal auch. Vorerst genügt es, sich mit dem Wanderer am Anblick der vier oder fünf Schafe zu freuen, die am Sund zwischen Bordoy und Kalsoy grasen und "bereitwillig dazu einluden, im Licht ihrer unendlich gleichförmigen Existenz auszuruhen". Wer dieser Einladung folgen möchte, sollte Böldls Buch lesen.
Klaus Böldl: "Die fernen Inseln". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 158 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reisebericht als Elementargedicht: Klaus Böldls "Ferne Inseln" stoßen ein Fenster zum Himmel auf / Von Heinrich Detering
In einer dieser unscheinbaren Szenen, die sich im Gedächtnis des Lesers verhaken, fällt der Blick des Erzählers auf "ein Fenster am Dorfrand, das gekippt wurde und auf einmal statt der undeutlichen Gestalt dahinter den Wolkenhimmel abbildete". Es ist der Himmel über den Färöerinseln im Nordatlantik, der sich da spiegelt, höher und weiter als sonst irgendwo. "Es gab da ein Muster", fährt der Erzähler fort, "dessen war ich nun sicher, auch wenn ich es noch nicht erkennen konnte." Im Unterschied zu ihm erkennt der Leser das Muster sogleich. Denn es ist dasselbe, dem dieses ganze wundersame Buch folgt; wie sein poetisches Emblem erscheint die Kippfigur. Auch Klaus Böldls Erzählung ist so ein Fenster, das mit einer kleinen, leisen Bewegung zum Spiegel eines Himmels werden kann, in dem das alltägliche Menschenleben beinahe spurlos aufgeht.
"Eine ferne und gleichzeitig traumhaft überdeutliche Inselwelt" schildert Böldl auch in diesem seinem dritten Prosatext: den äußersten Norden Europas, außer den Färöern auch Island und endlich die letzten Siedlungen der grönländischen Ostküste. Traumhaft, das ist ein Schlüsselwort. Wer dem Erzähler im Mittsommerlicht über die endlosen Uferwiesen und die vulkanischen Aschefelder Islands folgt, durch die Felswände der Färöer und endlich ins wie eine Apotheose dieser Welteinsamkeit erscheinende grönländische Eis, der gerät in eine erscheinende Traumsphäre, in der alles möglich und nichts ganz geheuer erscheint, in der das Geheimnisvolle und das Vertraute ineinander übergehen. Überwirklich ist es hier, im doppelten Sinne.
In dieser überscharfen Klarheit, in der die durch nichts getrübte Luft den Landschaftsräumen eine unwirkliche Weite gibt, tauchen zuweilen einsame Figuren auf. Wie in extrem verlangsamten Zeitlupenaufnahmen bewegen sie sich, immer sonderbar schweigsam und fern - die Leute, denen der Wanderer beim Heuwenden zusieht, "jeder so weit vom andern entfernt, daß nichts geredet werden konnte oder mußte", oder, auf der Terrasse eines Zweifamilienhauses, "ein steinaltes Ehepaar völlig reglos vor seinen Kaffeetassen, wie erstarrt im kalten Dunst". Da ist wieder die Kippfigur, verborgen in den Adjektiven. Denn noch ehe das Wort "erstarrt" gefallen ist, sind die beiden Steinalten ja, mit ebendieser Metapher, schon im Begriff, wieder zum Bestandteil des Felsgrundes zu werden, aus dem sie herausgewachsen scheinen, gehen flüchtige Zivilisation und dauernde Natur ineinander über wie der Nebeldunst und der erkaltende Dampf aus den Kaffeetassen. Solche Kleinstereignisse spielen sich hier ab, mehr nicht, und doch so welthaltig wie nur irgendein Romangeschehen.
Weil kein romantisches Wunschbild Böldls Kameraauge besticht, entgeht ihm nichts - der unvergängliche Plastikmüll am Wegrand sowenig wie die Farben des Mooses auf der Landebahn bei Reykjavík. Gerade aus der Konsequenz dieses Hyperrealismus aber entstehen hier vor den Augen des Lesers immer wieder metaphysische Landschaften, so abgründig, so unheimlich und vieldeutig wie nur je ein romantischer Text. Jederzeit können die Perspektiven kippen. Dann wird der Asphalt der aufgegebenen Straßenbauprojekte, die irgendwo in der Einsamkeit enden, geräuschlos "durchbrochen vom seit Jahrmillionen unbeirrbar sich fort und fort arbeitenden Gras", und die Bodenwärme des Lavafeldes dringt herauf aus jener "Glut im Erdinnern, von der uns ja alle nur eine hauchdünne Erdschicht trennt". Wer diesem Wanderer durch seine vier großen Kapitel folgt, wird manchmal sogar eine Ahnung des planetarischen Glutkerns spüren, von dem auch der sichere Lesesessel nur einen Hauch weit entfernt ist.
So einsam Böldls Urlandschaften oft aussehen, sie sind doch seit einem Jahrtausend erfüllt von Stimmen, die nicht zur Ruhe kommen. Wie etwa W. G. Sebalds Ostengland in den "Ringen des Saturn" - mit denen Böldls Buch auch im Rang vergleichbar ist - hallen diese nordischen Gegenden wider von Erinnerungen. Kein Berg, keine Bucht, die nicht irgendwann Schauplätze einer Saga gewesen wären, von Geschichte und Literatur in einem. Das beschriebene ist auch hier ein beschriftetes Land, und diese Schrift ist nicht weniger überwältigend gegenwärtig als die Natur. Da Klaus Böldl ein Kenner und exzellenter Übersetzer dieser altnordischen Dichtung ist, folgt er auch den Schriftspuren, die durch die Landschaften führen. Schöne und rätselhafte Geschichten hat er zu erzählen, von Helden- und Götterkämpfen, von Elfenzauber und Bannflüchen. Ob diese archaischen Welten selbst womöglich aus den alten Handschriften heraufgestiegen sind, mit deren Entzifferung wir den Erzähler manchmal beschäftigt sehen, oder die Mythen der Jahrhunderte aus dem Land, das bleibt hier ebenso in der Schwebe wie die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Traum. Immer wieder überkommt den Wanderer und mit ihm den Leser das Gefühl eines Déjà-vu, als nehme in den Felsen und Flechten, in Vulkanen und Eisbergen eine traumhaft vorgewußte Welt nur äußere Gestalt an. "Rollende Sphären" hat Thomas Mann diesen Wechseltausch von Mythos und Geschichte, Himmel und Erde genannt. Böldl sieht den Sphären beim Rollen, beim Rollentausch zu und erkundet die Schwindelgefühle, die dieser Anblick auslöst.
Auf die Urgestalt des Geschauten antwortet dieser Schriftsteller mit einer äußersten Sensibilität des Stils. Böldls vielgerühmte Nordland-Erzählungen "Studie in Kristallbildung" und "Südlich von Abisko" standen noch unter dem selbst auferlegten Zwang, die Landschaften am roten Faden einer Geschichte erzählen zu müssen. Befreit vom Zwang zum Plot, in der an Sebald oder Handke erinnernden Mischform aus Essay und Erzählung, wird nun sein Reisebericht zum Elementargedicht. Hätte Handke sein im Spätwerk immer neu proklamiertes Programm einmal verwirklicht und die Welt in ihrer unheimlichen und berückenden Fremdheit sich selbst erzählen lassen - es müßte sich ungefähr so anhören wie Böldls Prosa. Ruhig und gesammelt sind diese manchmal weiten Satzperioden, von strenger und zarter, manchmal spröder Prägnanz und großer Leuchtkraft. Von allen Eindrücken dieses eindringlichen Buches wird keiner dem Leser so lange nachgehen wie der Klang seiner Prosa.
Einmal nur, ganz beiläufig, erwähnt Böldl als Lehrmeister Cézanne, mit dem Diktum, die Farbe sei der Ort, an dem unser Gehirn und das Weltall sich begegnen. Es spricht für die Qualität dieses Buches, daß es dieses Zitat trägt - nicht zuletzt übrigens auch in der Nuanciertheit seiner Farbdarstellungen. Böldls Sainte-Victoire ist der Snaefallsjökull. Am Ende ist auch für den Leser wie für den Reisenden selbst kaum zu entscheiden, "was den stärkeren Eindruck gemacht hat: die von Wirklichkeit strotzenden Dinge oder das wie selten sonst wahrnehmbare Nichts zwischen diesen Dingen, in das man ja irgendwann eingehen wird". Unheimlich sind diese Übergänge vom Realismus ins Metaphysische, aber tröstlich manchmal auch. Vorerst genügt es, sich mit dem Wanderer am Anblick der vier oder fünf Schafe zu freuen, die am Sund zwischen Bordoy und Kalsoy grasen und "bereitwillig dazu einluden, im Licht ihrer unendlich gleichförmigen Existenz auszuruhen". Wer dieser Einladung folgen möchte, sollte Böldls Buch lesen.
Klaus Böldl: "Die fernen Inseln". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 158 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Überscharfe Klarheit zeichnet nach Ansicht von Rezensent Heinrich Detering dieses "wundersame" Buch ebenso aus, wie die kleinen, leisen Bewegungen, mit denen die Erzählungen immer wieder das Fenster zum Himmel aufgestoßen haben. Sichtlich gefesselt ist der Rezensent dem Autor Klaus Böldl "im Mittsommerlicht über die endlosen Uferwiesen und die vulkanischen Aschefelder Islands" gefolgt. Im "Hyperrealismus" der Beschreibung entstehen dabei vor seinen Augen "immer wieder metaphysische Landschaften, so abgründig, so unheimlich und vieldeutig, wie nur je ein romantischer Text", die er oft unheimlich, manchmal jedoch auch tröstlich findet. Während der Lektüre der vier Kapitel spürte der Rezensent, eigenem Bekunden zufolge, manches mal "sogar eine Ahnung des planetarischen Glutkerns", der plötzlich von seinem sicheren Lesesessel nur "einen Hauch weit entfernt" war. Das Buch, dessen Autor, lesen wir, Cezanne seinen Lehrmeister nennt ("Böldls 'St. Victoire ist der Snaefallsjökull") sieht der Rezensent gleichrangig neben W.G. Sebalds "Ringe des Saturn" stehen.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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Von allen Eindrücken dieses so eindrücklichen Buches wird keiner dem Leser so lange nachgehen wie der Klang seiner Prosa. Frankfurter Allgemeine Zeitung