Anfang der siebziger Jahre ziehen die ersten weißen Hippiefamilien ins Zentrum Brooklyns, das zu der Zeit überwiegend von Schwarzen und Puertoricanern bewohnt wird. Dylan, der schüchterne Sohn des Malers Abraham Ebdus und dessen Frau Rachel sieht sich mit dem Umzug der Familie in eine bedrohliche Welt versetzt. Jede Zuneigung muß er sich erkämpfen wie das Stück Asphalt beim Spielen auf der Straße. Dennoch versucht seine Mutter ihn mit aller Macht in dem Viertel, in dem sie selbst aufwuchs, zu integrieren. Als sie eines Tages verschwindet und sich der Vater in die abstrakte Welt seiner Malerei flüchtet, ist der achtjährige Dylan auf sich allein gestellt. Beschützt von seinem gleichaltrigen schwarzen Freund Mingus Rude, den selbstbewußten Sohn eines vormals berühmten Jazzmusikers aus der Nachbarschaft, und begleitet von einem geheimnisvollen Ring, begibt er sich auf die Suche nach seiner Identität.
Jonathan Lethem erzählt die faszinierende Geschichte einer Freundschaft in einem pulsierenden Universum aus den Stimmen und Spielen der Straße, den mit Superkräften begabten Helden zerlesener Comichefte, der Energie von Funk und Punk, von Graffiti und Drogen.
Jonathan Lethem erzählt die faszinierende Geschichte einer Freundschaft in einem pulsierenden Universum aus den Stimmen und Spielen der Straße, den mit Superkräften begabten Helden zerlesener Comichefte, der Energie von Funk und Punk, von Graffiti und Drogen.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Für einen großen Wurf hält Jochen Förster den neuen Roman des 40-jährigen "Neo-Franzen aus Brooklyn", wie der Rezensent den Autor Jonathan Lethem charakterisiert. Bislang habe Lethem eher skurrile Genre-Kolportagen geschrieben, die hierzulande teilweise gar nicht erst übersetzt wurden, weiß Förster, weil diese Art Literatur in Deutschland, die von der Montage aus Science Fiction, Krimi- und Comicelementen lebt, nur wenige Abnehmer finde. Doch mit der "Festung der Einsamkeit" verhält es sich anders, prophezeit Förster, das Buch sei viel autobiografischer, ernster, aus einer Notwendigkeit heraus geschrieben. Der Roman schildert, um es kurz zusammenzufassen, das Schicksal zweier Freunde, die, beide von ihren Hippieeltern mehr oder weniger im Stich gelassen, in der Bronx aufwachsen, ungewöhnlich genug für das weiße Kind, das diese Sozialisation auf der Strasse seinen revoltierenden Eltern verdankt. Die Poesie dieser Kindheits- und Jugendjahre gehört zum Schönsten des ganzen Romans und zum Schönsten überhaupt, schwärmt Förster, was über diese Phase jemals geschrieben worden sei. Um so gnadenloser falle dann auch das Herauswachsen aus dieser Zeit aus, das der Roman in großen Sprünge verfolge. Höchst beeindruckt zeigt sich Förster, wie Lethem zwei höchst unterschiedlich verlaufende Biografien verfolgt und in einer klaren Sprache den großen Bogen spannt, der so vieles auf einmal abhandelt: Rassentrennung, Stadtentwicklung, das Scheitern der Utopien, Abschied von der Kindheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2004Die Jahre, die ihr kennt
Letztlich sind wir alle aus Brooklyn: Jonathan Lethems Roman "Die Festung der Einsamkeit"
Wir kennen diese Stadt. Wir kennen ihre Straßen, ihre Geschichten, ihre Menschen, wir kennen ihre Gerüche, und wir kennen sogar die Musik, die aus dem offenen Fenster kommt, wenn der Sommer so heiß ist und die Hitze nicht hinaus will aufs Meer und die Tage so still stehen, daß die Zeit ein anderes Maß annimmt und sich unter dem Druck der Sonne verformt wie ein Stück Metall oder ein Kronkorken im heißen Asphalt. Wir kennen diese Stadt, weil wir sie alle schon einmal gesehen haben, auch wenn wir nie dort waren.
Jonathan Lethem hat also einen Heimatroman geschrieben. Ein Buch, das von zwei Jungen erzählt, die in Brooklyn aufwachsen, in den siebziger Jahren, in jenem New York, jenem Amerika vor der Renovierung, vor dem Boom, dem Crash, dem Boom und dem Crash, vor dem Hochglanz und dem Reichtum und dem Siegeszug dessen, was sich hier an diesen langen Nachmittagen einer endlosen, ziellosen, grundlosen Jugend formt. Es sind die Jahre von Soul und Funk, die Jahre des Kokains und des Cracks, die Jahre der Sprayer und der Graffiti, die Jahre der grell gemalten Schilder und der verstaubten Läden an der Ecke, die immer noch da sind und immer noch verstaubt sind, aber heute nicht mehr von Einwanderern betrieben werden, die Spanisch sprechen, sondern von Koreanern. Es sind die Jahre, in denen sich das Amerika formte, das wir heute kennen; Jahre, in denen es noch die Reste jenes Amerikas gab, das wir mitdenken, ohne es zu benennen, wenn wir von Sandwiches reden, Coca Cola oder NYC.
Und diese zwei Nachbarjungen, Dylan Ebdus und Mingus Rude, der eine weiß, der andere schwarz, zwei Jungen allein auf der Straße, zwei Jungen in jener Zeit, zwei Jungen ohne Mutter, "sie waren zur Freundschaft verdammt".
Die Geschichte ist amerikanisch, aber der Gehalt ist universell, zumindest globalisiert. Jonathan Lethem hat ein Buch geschrieben, das von Brooklyn erzählt und doch für die meisten von uns in Deutschland, die in den sechziger Jahren geboren wurden, in unserer eigenen Erinnerung spielt.
Das ist ja das seltsame Tauschverhältnis zwischen Amerika und uns, jenseits von allem Gerede über die Popkultur oder den Kulturimperialismus, wie das früher hieß und heute auch schon wieder: Es ist fast wie mit Dylan und den schwarzen Jungen, die ihm immer auf dem Weg zum Kiosk auflauern, wo er seine Comics kaufen will. Sie sagen, "hey, Whiteboy, hast du mal einen Dollar", dann drehen sie ihm den Arm auf den Rücken oder nehmen ihn in den Schwitzkasten, er gibt ihnen seinen Dollar, sie ziehen grinsend ab, aber was soll er machen, das ist die Straße, das ist der Weg, das ist das Versprechen, dort hinten ist der Kiosk, er wird auch morgen wieder kommen, sie werden auch morgen wieder dort stehen, er wird sich vielleicht einen Dollar in den Strumpf stopfen und zwei Quarter in der Hand halten, er will die Comics, die "Warlock" heißen oder "Der unglaubliche Hulk". Es ist ein Tauschverhältnis, bei dem die eine Seite etwas Reales einsetzt und die andere etwas Imaginäres bekommt. Einen Traum, eine Erinnerung, eine Geschichte. Und das Leben dauert so lange, bis man diese Geschichte hinter sich gebracht hat.
Der Punkt ist: Ihre Geschichten sind unsere Geschichten. Ihre Bilder sind unsere Bilder. Ihre Filme sind unsere Filme. Also ist eine Kindheit in Brooklyn so interessant wie eine Kindheit in Berlin. Das erklärt auch den Erfolg der dicken amerikanischen Romane, die zweimal pro Jahr auf den deutschen Buchmarkt geschaufelt werden, Franzen und Powers und wie sie alle heißen: Sie erzählen aus einer Welt, die wir kennen. Und im Zweifelsfall interessiert uns ein Zirkusbrand in Connecticut oder ein Weihnachtsessen im Mittleren Westen mehr als der Untergang der "Wilhelm Gustloff".
So ein dicker Roman ist auch "Die Festung der Einsamkeit", ein Buch so sprunghaft und poetisch und verloren wie eine Kindheit, hier oder dort, eine Kindheit im Windschatten der Erwachsenenprobleme, in einer Stillstandswelt, in der Veränderung gar nicht zu haben ist oder ganz plötzlich und gerafft. "Du entwickelst dich vor aller Augen und zugleich heimlich, wurdest schlacksig und behaart, drehtest dir einen Milchzahn heraus, spucktest Blut und spieltest weiter, behauptetest, bestimmte Wörter zu kennen, die du noch nie zuvor gehört hattest. Und der Tag kam, an dem du trafst, den Ball irgendwie ins Feld kriegtest und das erste Laufmal erreichtest, noch bevor der Schläger klappernd auf der Straße liegen blieb." So entsteht Jugend.
Dieser erste Teil von Lethems stark autobiographisch angelegtem Roman ist so dicht und sprachlich so überzeugend und eigen gefaßt wie selten ein Buch über dieses Mysterium einer Welt, die im Entstehen beobachtet wird, jenseits der Psychologie, jenseits der Kausalität und doch im Fadenkreuz all dessen, was später noch kommen wird. Da sind Dylan und seine Eltern, Rachel und Abraham, sie ein Hippie, bevor es Hippies gab, er ein einst begabter junger Maler, der sich in der Arbeit an einem Zeichentrickfilm verloren hat. Dylan ist praktisch das einzige weiße Kind in der Gegend, er lebt wie ein Versuchskaninchen den Idealismus seiner Mutter, und er hat ein Leben lang Zeit, mit den Demütigungen eines umgekehrten Rassismus klarzukommen. Dann verschwindet seine Mutter, Dylan geht als eines von drei weißen Kindern auf die öffentliche Schule, in die Rachel ihn gesteckt hat, eine fremde, harte Welt, die einsam macht, und nur die Freundschaft mit Mingus rettet ihn, irgendwie. "Brooklyn", heißt es einmal, "war einfach zu verstehen im Vergleich zu seiner Mutter."
Es sind fast vierhundert Seiten, auf denen Lethem nicht nur von Gummibällen erzählt und den Problemen, die pinken Dinger auf dem Straßenboden mit den brüchigen Schieferplatten wieder zu fangen, ein Spiel, das die Jungen der Gegend mit fast religiöser Hingabe spielten; Lethem erzählt vom Alltag in New York, von Schultagen, von Nachmittagen, von Vätern, von Söhnen ohne Mütter, er erzählt von den Schwierigkeiten, erwachsen zu werden, und fast nebenbei gibt er noch eine kulturgeschichtliche Lektion, wie all das entstand, der Rap, die Comics, und was das alles in den Köpfen der Kinder angestellt hat, die in dieser Welt von Superhelden und Alltagskriminellen aufwuchsen; vor allem aber erzählt Lethem von dem seltsamen Kontinuum, das man Jugend nennen kann, eine schwer zu greifende Masse Zeit, für die Lethem seine ganz eigene Sprache findet, seine eigene Ordnung, seine eigene Poesie. Er erzählt klar und vor allem optisch, jenseits eines simplen Realismus, mit Sätzen, die einsam aneinanderlehnen, damit sie nicht umfallen oder frieren. "Die Wintertage waren das flüchtige Rauschen zwischen dem Umschalten des Fernsehsenders. Auf den Straßen verrottete der Schnee wie schwarzes krankes Zahnfleisch."
Das entstehende Bewußtsein ist die Hauptfigur in diesem Buch, das seine Charaktere in diesem ersten Teil eher begleitet als beschreibt. Da stehen Dylan und Mingus, es sind ihre ersten Ausflüge mit ihrem fetten Marker, mit dem sie überall, wo sie nur können, das "Dose" hinterlassen, das ihr "Tag", das ihr Zeichen ist, sie stehen also auf der Brücke über dem East River, "die Brücke war ein Streiten und Flehen mit dem sie umgebenden Raum", sie betrachten das große "Tag", das Sprühbild auf der Brücke, und "die unter ihnen dahineilenden Wagen hatten keine Ahnung. Menschen in Autos waren sowieso keine New Yorker, sie hatten da wohl etwas völlig falsch verstanden. Die beiden Jungen auf dem Fußgängerweg standen augenscheinlich still, doch sie bewegten sich schneller als die Autos."
Diese Kindheitsschilderungen haben einen ganz eigenen Rhythmus, es ist der Rhythmus jener schwarzen Musik, die Lethem und auch Dylan so wichtig ist. Im Unterschied zu älteren Kollegen wie etwa Philip Roth erzählt der vierzigjährige Lethem präziser am Randstein entlang, mehr an den Dingen hängend, fast klebend, wie Kaugummi an der Sohle eines Turnschuhs, nah an den Personen, die als Ganzes interessant sind und nicht als Stellvertreter, als Erklärung für etwas. Das Soziale ist nicht der Ort seiner Geschichte, es ist eher ein verschmierter Raum, voller Zeichen und Spuren, die man deuten kann, wenn man wissen will, wo man herkommt, die aber auch in der Erklärung ihr Rätsel behalten. Und das ist auch besser so. Denn wenn man doch, gezwungen oder nicht, sich daran macht, das Knäuel an Kränkungen zu entwirren, das die eigene Jugend war, dann verflüchtigt sich dieser Traum, der immer auch ein Albtraum war, es geht die Sprache verloren und auch die Bedeutung, die nicht in Worte zu fassen ist. Lethem hat es trotzdem getan, vielleicht sich selbst zuliebe oder auch Dylan. Jedenfalls hat er an diesen wunderbaren ersten Teil, der, wie es sich gehört, mit einem Schuß zu Ende geht, einen zweiten gefügt, unterbrochen nur von einigen Seiten über den Vater von Mingus Rude, der einmal ein berühmter Musiker gewesen war. Der Rest, immer noch zweihundertsechzig Seiten, ist Pflichtaufgabe, ist Didaktik, etwas verklemmte Moral und leicht unglaubwürdig surreales Superheldentum.
Die Sprache hat hier jede Eigenheit verloren, die sie vorher ausgezeichnet hat, die Geschichte, die erst ganz für sich und aus sich heraus gelebt hat, wird nun durchgeführt als Beispiel einer männlichen Sinnsuche. Dylan ist fast vierzig, er ist ein ziemlich erfolgloser Musikjournalist mit einer schwierigen Beziehung zu einer schönen jungen Schwarzen, er lebt in Berkeley und versucht, in Hollywood ein Drehbuch loszuwerden, das so tief in seine Vergangenheit führt, daß er es gar nicht merkt. Es ist ein wenig so, als müsse er, um sich selbst zu erlösen, seinen Peiniger befreien.
Aber die Festung der Einsamkeit wird er nie verlassen, in die ihn seine Kindheit geführt hat. Es sind die Straßen, die Geschichten, die Menschen, die wir alle kennen.
GEORG DIEZ
Jonathan Lethem: Die Festung der Einsamkeit. Tropen Verlag 2004. 24,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Letztlich sind wir alle aus Brooklyn: Jonathan Lethems Roman "Die Festung der Einsamkeit"
Wir kennen diese Stadt. Wir kennen ihre Straßen, ihre Geschichten, ihre Menschen, wir kennen ihre Gerüche, und wir kennen sogar die Musik, die aus dem offenen Fenster kommt, wenn der Sommer so heiß ist und die Hitze nicht hinaus will aufs Meer und die Tage so still stehen, daß die Zeit ein anderes Maß annimmt und sich unter dem Druck der Sonne verformt wie ein Stück Metall oder ein Kronkorken im heißen Asphalt. Wir kennen diese Stadt, weil wir sie alle schon einmal gesehen haben, auch wenn wir nie dort waren.
Jonathan Lethem hat also einen Heimatroman geschrieben. Ein Buch, das von zwei Jungen erzählt, die in Brooklyn aufwachsen, in den siebziger Jahren, in jenem New York, jenem Amerika vor der Renovierung, vor dem Boom, dem Crash, dem Boom und dem Crash, vor dem Hochglanz und dem Reichtum und dem Siegeszug dessen, was sich hier an diesen langen Nachmittagen einer endlosen, ziellosen, grundlosen Jugend formt. Es sind die Jahre von Soul und Funk, die Jahre des Kokains und des Cracks, die Jahre der Sprayer und der Graffiti, die Jahre der grell gemalten Schilder und der verstaubten Läden an der Ecke, die immer noch da sind und immer noch verstaubt sind, aber heute nicht mehr von Einwanderern betrieben werden, die Spanisch sprechen, sondern von Koreanern. Es sind die Jahre, in denen sich das Amerika formte, das wir heute kennen; Jahre, in denen es noch die Reste jenes Amerikas gab, das wir mitdenken, ohne es zu benennen, wenn wir von Sandwiches reden, Coca Cola oder NYC.
Und diese zwei Nachbarjungen, Dylan Ebdus und Mingus Rude, der eine weiß, der andere schwarz, zwei Jungen allein auf der Straße, zwei Jungen in jener Zeit, zwei Jungen ohne Mutter, "sie waren zur Freundschaft verdammt".
Die Geschichte ist amerikanisch, aber der Gehalt ist universell, zumindest globalisiert. Jonathan Lethem hat ein Buch geschrieben, das von Brooklyn erzählt und doch für die meisten von uns in Deutschland, die in den sechziger Jahren geboren wurden, in unserer eigenen Erinnerung spielt.
Das ist ja das seltsame Tauschverhältnis zwischen Amerika und uns, jenseits von allem Gerede über die Popkultur oder den Kulturimperialismus, wie das früher hieß und heute auch schon wieder: Es ist fast wie mit Dylan und den schwarzen Jungen, die ihm immer auf dem Weg zum Kiosk auflauern, wo er seine Comics kaufen will. Sie sagen, "hey, Whiteboy, hast du mal einen Dollar", dann drehen sie ihm den Arm auf den Rücken oder nehmen ihn in den Schwitzkasten, er gibt ihnen seinen Dollar, sie ziehen grinsend ab, aber was soll er machen, das ist die Straße, das ist der Weg, das ist das Versprechen, dort hinten ist der Kiosk, er wird auch morgen wieder kommen, sie werden auch morgen wieder dort stehen, er wird sich vielleicht einen Dollar in den Strumpf stopfen und zwei Quarter in der Hand halten, er will die Comics, die "Warlock" heißen oder "Der unglaubliche Hulk". Es ist ein Tauschverhältnis, bei dem die eine Seite etwas Reales einsetzt und die andere etwas Imaginäres bekommt. Einen Traum, eine Erinnerung, eine Geschichte. Und das Leben dauert so lange, bis man diese Geschichte hinter sich gebracht hat.
Der Punkt ist: Ihre Geschichten sind unsere Geschichten. Ihre Bilder sind unsere Bilder. Ihre Filme sind unsere Filme. Also ist eine Kindheit in Brooklyn so interessant wie eine Kindheit in Berlin. Das erklärt auch den Erfolg der dicken amerikanischen Romane, die zweimal pro Jahr auf den deutschen Buchmarkt geschaufelt werden, Franzen und Powers und wie sie alle heißen: Sie erzählen aus einer Welt, die wir kennen. Und im Zweifelsfall interessiert uns ein Zirkusbrand in Connecticut oder ein Weihnachtsessen im Mittleren Westen mehr als der Untergang der "Wilhelm Gustloff".
So ein dicker Roman ist auch "Die Festung der Einsamkeit", ein Buch so sprunghaft und poetisch und verloren wie eine Kindheit, hier oder dort, eine Kindheit im Windschatten der Erwachsenenprobleme, in einer Stillstandswelt, in der Veränderung gar nicht zu haben ist oder ganz plötzlich und gerafft. "Du entwickelst dich vor aller Augen und zugleich heimlich, wurdest schlacksig und behaart, drehtest dir einen Milchzahn heraus, spucktest Blut und spieltest weiter, behauptetest, bestimmte Wörter zu kennen, die du noch nie zuvor gehört hattest. Und der Tag kam, an dem du trafst, den Ball irgendwie ins Feld kriegtest und das erste Laufmal erreichtest, noch bevor der Schläger klappernd auf der Straße liegen blieb." So entsteht Jugend.
Dieser erste Teil von Lethems stark autobiographisch angelegtem Roman ist so dicht und sprachlich so überzeugend und eigen gefaßt wie selten ein Buch über dieses Mysterium einer Welt, die im Entstehen beobachtet wird, jenseits der Psychologie, jenseits der Kausalität und doch im Fadenkreuz all dessen, was später noch kommen wird. Da sind Dylan und seine Eltern, Rachel und Abraham, sie ein Hippie, bevor es Hippies gab, er ein einst begabter junger Maler, der sich in der Arbeit an einem Zeichentrickfilm verloren hat. Dylan ist praktisch das einzige weiße Kind in der Gegend, er lebt wie ein Versuchskaninchen den Idealismus seiner Mutter, und er hat ein Leben lang Zeit, mit den Demütigungen eines umgekehrten Rassismus klarzukommen. Dann verschwindet seine Mutter, Dylan geht als eines von drei weißen Kindern auf die öffentliche Schule, in die Rachel ihn gesteckt hat, eine fremde, harte Welt, die einsam macht, und nur die Freundschaft mit Mingus rettet ihn, irgendwie. "Brooklyn", heißt es einmal, "war einfach zu verstehen im Vergleich zu seiner Mutter."
Es sind fast vierhundert Seiten, auf denen Lethem nicht nur von Gummibällen erzählt und den Problemen, die pinken Dinger auf dem Straßenboden mit den brüchigen Schieferplatten wieder zu fangen, ein Spiel, das die Jungen der Gegend mit fast religiöser Hingabe spielten; Lethem erzählt vom Alltag in New York, von Schultagen, von Nachmittagen, von Vätern, von Söhnen ohne Mütter, er erzählt von den Schwierigkeiten, erwachsen zu werden, und fast nebenbei gibt er noch eine kulturgeschichtliche Lektion, wie all das entstand, der Rap, die Comics, und was das alles in den Köpfen der Kinder angestellt hat, die in dieser Welt von Superhelden und Alltagskriminellen aufwuchsen; vor allem aber erzählt Lethem von dem seltsamen Kontinuum, das man Jugend nennen kann, eine schwer zu greifende Masse Zeit, für die Lethem seine ganz eigene Sprache findet, seine eigene Ordnung, seine eigene Poesie. Er erzählt klar und vor allem optisch, jenseits eines simplen Realismus, mit Sätzen, die einsam aneinanderlehnen, damit sie nicht umfallen oder frieren. "Die Wintertage waren das flüchtige Rauschen zwischen dem Umschalten des Fernsehsenders. Auf den Straßen verrottete der Schnee wie schwarzes krankes Zahnfleisch."
Das entstehende Bewußtsein ist die Hauptfigur in diesem Buch, das seine Charaktere in diesem ersten Teil eher begleitet als beschreibt. Da stehen Dylan und Mingus, es sind ihre ersten Ausflüge mit ihrem fetten Marker, mit dem sie überall, wo sie nur können, das "Dose" hinterlassen, das ihr "Tag", das ihr Zeichen ist, sie stehen also auf der Brücke über dem East River, "die Brücke war ein Streiten und Flehen mit dem sie umgebenden Raum", sie betrachten das große "Tag", das Sprühbild auf der Brücke, und "die unter ihnen dahineilenden Wagen hatten keine Ahnung. Menschen in Autos waren sowieso keine New Yorker, sie hatten da wohl etwas völlig falsch verstanden. Die beiden Jungen auf dem Fußgängerweg standen augenscheinlich still, doch sie bewegten sich schneller als die Autos."
Diese Kindheitsschilderungen haben einen ganz eigenen Rhythmus, es ist der Rhythmus jener schwarzen Musik, die Lethem und auch Dylan so wichtig ist. Im Unterschied zu älteren Kollegen wie etwa Philip Roth erzählt der vierzigjährige Lethem präziser am Randstein entlang, mehr an den Dingen hängend, fast klebend, wie Kaugummi an der Sohle eines Turnschuhs, nah an den Personen, die als Ganzes interessant sind und nicht als Stellvertreter, als Erklärung für etwas. Das Soziale ist nicht der Ort seiner Geschichte, es ist eher ein verschmierter Raum, voller Zeichen und Spuren, die man deuten kann, wenn man wissen will, wo man herkommt, die aber auch in der Erklärung ihr Rätsel behalten. Und das ist auch besser so. Denn wenn man doch, gezwungen oder nicht, sich daran macht, das Knäuel an Kränkungen zu entwirren, das die eigene Jugend war, dann verflüchtigt sich dieser Traum, der immer auch ein Albtraum war, es geht die Sprache verloren und auch die Bedeutung, die nicht in Worte zu fassen ist. Lethem hat es trotzdem getan, vielleicht sich selbst zuliebe oder auch Dylan. Jedenfalls hat er an diesen wunderbaren ersten Teil, der, wie es sich gehört, mit einem Schuß zu Ende geht, einen zweiten gefügt, unterbrochen nur von einigen Seiten über den Vater von Mingus Rude, der einmal ein berühmter Musiker gewesen war. Der Rest, immer noch zweihundertsechzig Seiten, ist Pflichtaufgabe, ist Didaktik, etwas verklemmte Moral und leicht unglaubwürdig surreales Superheldentum.
Die Sprache hat hier jede Eigenheit verloren, die sie vorher ausgezeichnet hat, die Geschichte, die erst ganz für sich und aus sich heraus gelebt hat, wird nun durchgeführt als Beispiel einer männlichen Sinnsuche. Dylan ist fast vierzig, er ist ein ziemlich erfolgloser Musikjournalist mit einer schwierigen Beziehung zu einer schönen jungen Schwarzen, er lebt in Berkeley und versucht, in Hollywood ein Drehbuch loszuwerden, das so tief in seine Vergangenheit führt, daß er es gar nicht merkt. Es ist ein wenig so, als müsse er, um sich selbst zu erlösen, seinen Peiniger befreien.
Aber die Festung der Einsamkeit wird er nie verlassen, in die ihn seine Kindheit geführt hat. Es sind die Straßen, die Geschichten, die Menschen, die wir alle kennen.
GEORG DIEZ
Jonathan Lethem: Die Festung der Einsamkeit. Tropen Verlag 2004. 24,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit diesem wunderbaren Buch hat Jonathan Lethem eine Mission erfüllt. Die Festung der Einsamkeit ist eine brilliant erzählte Liebeserklärung an den Stadtteil seiner Jugend.
Stern
Mit seinem Roman Die Festung der Einsamkeit drängt Jonathan Lethem in die Hall-of-Fame der US-Literatur!
Die Welt
Mit seinem neuen Roman Die Festung der Einsamkeit ist Jonathan Lethem ein großer, verehrungswürdiger Wurf gelungen.
taz
Ein reiches, vielfach funkelndes und mitreißend groovendes Buch!
FAZ
Stern
Mit seinem Roman Die Festung der Einsamkeit drängt Jonathan Lethem in die Hall-of-Fame der US-Literatur!
Die Welt
Mit seinem neuen Roman Die Festung der Einsamkeit ist Jonathan Lethem ein großer, verehrungswürdiger Wurf gelungen.
taz
Ein reiches, vielfach funkelndes und mitreißend groovendes Buch!
FAZ