Ignaz Kolisch (1837-1889) lebte vier Leben: er war ein Schachspieler von Weltklasse, außergewöhnlich erfolgreiches Finanzgenie, großzügiger Rentier und, schließlich, Journalist aus Leidenschaft - was so weit ging, dass er eine Tageszeitung kaufte, die Wiener Allgemeine Zeitung, und in den Jahren 1886-1888 die sonntäglichen Feuilletons schrieb. Seine Feder, gleichsam gutmütig und frech, locker und prickelnd, wechselte zwischen persönlichen Erinnerungen, Gesellschaftskritik, politischer und sozialer Polemik sowie der Finanzwelt. Daraus resultiert ein farbenprächtiges Bild Westeuropas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Vorwort, Bilder, Anhänge und mehr als 1000 Fußnoten runden diese Wiederentdeckung ab. Leseprobe vom Anfang des Feuilletons Nr. 26: [26] Reich und arm. Seit undenklichen Zeiten bemühen sich Poeten und Philosophen, Prediger und Moralisten, die Eitelkeit von Geld und Geldeswerth nachzuweisen, ohne - zur Schande der Menschheit sei es gesagt - einen nennenswerthen Erfolg zu erzielen. Von jeher verlangte es in Zeitschriften und Romanen die gebieterische Mode, jeden Reichen und Besitzenden als habgierigen Nimmersatt darzustellen, während "arm aber ehrlich" als untrennbarer Begriff galt, und wenn es heutigen Tages auch schon einige kühne Neuerer gibt, welche in aufrichtiger Unparteilichkeit zugeben, daß man vermögend, aber doch rechtschaffen sein kann, so macht sich neben dieser verschwindend kleinen Minorität eine zahlreiche Schule breit, die jeden Unglücklichen, welcher seine Lage zu verbessern sucht, mit dem niederschmetternden Epithet eines "Strebers" der Verachtung der Mitwelt preisgibt. Trotz der nahezu einstimmigen Verurtheilung des Reichthums, welche die Besitzenden, hätten sie nur das geringste Ehrgefühl im Leibe, veranlassen müßte, sich schleunigst ihrer Glücksgüter zu entledigen, sind mir bislang noch wenig Zurückgebliebene über Quer gekommen, welche nicht bereit gewesen wären, das Stigma des Emporkömmlings ihrer unbefleckten Stirne aufdrücken zu lassen, wenn sich ihnen nur dazu eine passende Gelegenheit geboten hätte. Der Widerspruch zwischen der Anschauung der großen Massen und den intimsten Gedanken jedes Einzelnen, aus denen sie sich zusammensetzt, muß offenbar einen geheimnißvollen, bis nun noch unaufgeklärten Hintergrund haben. (...) [Auszug von S. 171; das Feuilleton Nr. 26 endet auf S. 176]
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