Als Neugeborenes war Katharine Norbury in einem Liverpooler Kloster zurückgelassen worden. Ihre Adoptiveltern zogen sie liebevoll auf, lehrten sie, die Wunder der Natur zu erkennen, und doch hatte sie stets das Gefühl, etwas Unnennbares zu vermissen. Nach der Diagnose einer schweren Krankheit und der Fehlgeburt eines lang ersehnten zweiten Kindes beschließt sie, zusammen mit ihrer neunjährigen Tochter Evie einem Flusslauf von der Meermündung bis zu dessen Quelle zu folgen. Was als Trauerarbeit und Ablenkung gedacht war, gerät im Laufe der Reise durch eine beeindruckende Natur mehr und mehr zu einer Suche nach dem Leben selbst. Am Ende findet Katharine nicht nur die Quelle des Flusses, sondern auch ihren eigenen Ursprung.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2017Gegen den
Strom
Katharine Norburys „Die Fischtreppe“
Als Katharine Norburys zweites Kind in ihr stirbt, gerät sie in eine tiefe Krise. Sie erinnert sich an „Der Quell am Ende der Welt“, einen weitgehend autobiografischen Roman von Neil M. Gunn, der ebenfalls ein Kind verloren hat. Gunn lässt seine trauernde Hauptfigur eine Wanderung von der nordschottischen Küste zur Quelle des Flusses Dunbeath Water machen.
Erst als Norburys Ich-Erzählerin in „Fischtreppe“, ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen ersten Roman, ins Meer hinausschaut, begreift man so recht, was das mit ihrer Situation zu tun hat. Das Ungestalte, alles Verschlingende des Meeres steht, wie zu Zeiten, in denen jede Schiffsreise lebensgefährlich war, für den Tod. Die Quelle im Hinterland hingegen steht für die Möglichkeiten, die der junge Fluss einmal hatte. Wie Gunns Figur will Norbury dem Tod den Rücken zukehren, zurück zu den Möglichkeiten. Daher die Reise zur Quelle.
Zum Zeitpunkt des Geschehens wohnt sie als Frau eines weniger bekannten englischen Autors in Barcelona. In den langen spanischen Sommerferien fährt sie mit der elfjährigen Tochter nach Cheshire, zur eigenen Mutter. Dort muss sie erkennen, dass es bis nach Nordschottland immer noch 750 Meilen Autofahrt sind. Der Dunbeath selbst ist gerade mal fünfzehn Meilen lang. Norbury entscheidet sich für näher gelegene Flüsse. Ihre Quellwanderungen sind zwar eine Suche nach dem eigenen Ursprung, doch fällt ihr die Suchbewegung schwer. Sie kennt ihre biologischen Eltern nicht. Ihre Adoptivfamilie ist nett und liebevoll. Sie hatte es gut, aber das reicht in dieser Krise nicht aus.
In groben Zügen folgt Norbury dem Handlungsmuster Gunns. Doch indem sie ihre Geschichte radikal personalisiert, gewinnt sie einen eigenen Zugang. Eher als ein Roman ist ihr Buch eine eigenwillige Lebens- und Reiseerzählung von der Art, wie sie Norburys Mentor Robert Macfarlane in „Die Karte der Wildnis“ und „Alte Wege“ vorgelegt hat. Sie sind beide ebenfalls bei Matthes & Seitz erschienen und haben dazu beigetragen, Nature Writing dem deutschsprachigen Publikum wieder ins Bewusstsein zu rücken. Bei Norbury gibt es weniger Kulturgeschichte und mehr Privates zu erfahren. Doch auch hier überzeugt der Versuch, sich der Natur weder naturwissenschaftlich noch romantisierend, aber mit geschärften Sinnen zu nähern.
Gespannt folgt man Norbury auf einer Leuchtturmwanderung im Süden Englands, bei der Suche nach dem Brunnen Merlins, auf den Wegen entlang der Flüsse und Gewässer, die den Kapiteln ihre Namen geben wie Humber, Mersey, Afon Geirch, Ffynnon Fawr, Caherdaniel und, am Ende musste es doch sein, der Dunbeath. Die Wanderung dorthin wird jene einsame Angelegenheit, die Norbury vorausgesehen hat.
Doch der Loch Braighe na h’Aibhne, der Quellteich am Ende der Welt, enttäuscht sie nicht: „Auf seiner Oberfläche, weich wie Zinn, spiegelten sich die Wolken. Salzweiße Steine lagen an einem Ufer mit pulvrigem, kristallenem Sand, sauber und ohne jegliche Spuren, der Torf färbte das Weiße korkbraun.“ Die sanfte Genauigkeit im Gebrauch der Wörter für Natur und Anverwandtes, die Sorge der Erzählerin für ihre Umgebung kommt auch in Sigrid Ruschmeiers Übersetzung zum Tragen. Einmal steht die leidenschaftliche Schwimmerin vor der Quelle, verzichtet aber auf das Eintauchen, von dem sie lange geträumt hat: „Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie lange es dauern würde, bis die Stille des Teichs wiederhergestellt sein würde.“ Sie nimmt lediglich eine Handvoll Quarz auf, und lässt sie in ihre Hosentasche rieseln, „auf die seidenglatten grünen Haselnüsse, die noch darin lagen“.
Norbury wandert die fünfzehn Meilen unwegsames Gelände zum Meer zurück, am Hafen sieht sie ein Liebespaar auf einer Bank: „Die Nasen berührten sich fast (…), plötzlich blitzte es hinter ihnen hoch über dem Wasser silbern auf“, ein Lachs, „er musste genau in dem Moment in die Mündung geschwommen sein, in dem ich sie erreicht hatte.“ Als Benutzer einer „Fischtreppe“, einer von Menschen konstruierten Reihe von flachen, abgestuften Becken, die Fischen erlauben, springend und schwimmend stromaufwärts zu gelangen, kommt er ihr wie ein naher Verwandter vor.
Solche empfindsamen Bilder des Zusammenhangs von Mensch und Natur klingen manchmal sehr nach Happy End. Aber das Erreichen der Quelle ist nicht das Ende des Buchs. Es folgt ein zweiter, kleinerer Teil, der es in sich hat. Die Frage nach den Eltern ist nicht erledigt. Der Adoptivvater ist tot, die Adoptivmutter plötzlich schwer krank, sie scheint zu sterben. Als sie sich dennoch erholt, hat die Ich-Erzählerin Zeit, sich um sich selber zu kümmern, und zu entdecken, dass sie Brustkrebs hat, bösartigen.
Plötzlich spitzt sich die Frage nach der biologischen Mutter zu. Norbury hat lange im Internet gesucht, Register durchgesehen. Erst eine Frau, die dergleichen professionell erledigt, findet die Mutter. Was folgt, gehört zu den besten Seiten des Buchs. Ihre Dichte verdanken sie paradoxerweise der trockenen Härte der biologischen Mutter. Nach einer folgenreichen Untreue während eines Australienurlaubs hatte sie wieder zu ihrem Verlobten zurückgefunden – und hat nun noch nach Jahrzehnten keinerlei Verständnis für den Wunsch der Tochter, sie zu sehen, empfindet ihn als „Zumutung“. Sie gibt Hinweise auf die Krankengeschichte, aber verweigert jeden Kontakt. Auch ein Halbbruder kann nicht vermitteln.
Das Ineinander von Krankengeschichte und verweigerter Anerkennung liest sich wie ein Spannungsroman, der keine künstliche Dramaturgie braucht. Die Dringlichkeit spricht für sich und beschert dem anfangs so zarten, weitschweifig-detailverliebten Buch ein kontrastreiches, rasantes Ende.
HANS-PETER KUNISCH
Katharine Norbury: Die Fischtreppe. Eine Reise stromaufwärts. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Roman. Matthes & Seitz. Berlin 2017. 285 S., 20 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Eine Leuchtturmwanderung im
Süden Englands wird zur Suche
nach den Brunnen Merlins
Die Suche nach den Ursprüngen
wird zu einem Spannungsroman,
der keine Dramaturgie braucht
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Strom
Katharine Norburys „Die Fischtreppe“
Als Katharine Norburys zweites Kind in ihr stirbt, gerät sie in eine tiefe Krise. Sie erinnert sich an „Der Quell am Ende der Welt“, einen weitgehend autobiografischen Roman von Neil M. Gunn, der ebenfalls ein Kind verloren hat. Gunn lässt seine trauernde Hauptfigur eine Wanderung von der nordschottischen Küste zur Quelle des Flusses Dunbeath Water machen.
Erst als Norburys Ich-Erzählerin in „Fischtreppe“, ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen ersten Roman, ins Meer hinausschaut, begreift man so recht, was das mit ihrer Situation zu tun hat. Das Ungestalte, alles Verschlingende des Meeres steht, wie zu Zeiten, in denen jede Schiffsreise lebensgefährlich war, für den Tod. Die Quelle im Hinterland hingegen steht für die Möglichkeiten, die der junge Fluss einmal hatte. Wie Gunns Figur will Norbury dem Tod den Rücken zukehren, zurück zu den Möglichkeiten. Daher die Reise zur Quelle.
Zum Zeitpunkt des Geschehens wohnt sie als Frau eines weniger bekannten englischen Autors in Barcelona. In den langen spanischen Sommerferien fährt sie mit der elfjährigen Tochter nach Cheshire, zur eigenen Mutter. Dort muss sie erkennen, dass es bis nach Nordschottland immer noch 750 Meilen Autofahrt sind. Der Dunbeath selbst ist gerade mal fünfzehn Meilen lang. Norbury entscheidet sich für näher gelegene Flüsse. Ihre Quellwanderungen sind zwar eine Suche nach dem eigenen Ursprung, doch fällt ihr die Suchbewegung schwer. Sie kennt ihre biologischen Eltern nicht. Ihre Adoptivfamilie ist nett und liebevoll. Sie hatte es gut, aber das reicht in dieser Krise nicht aus.
In groben Zügen folgt Norbury dem Handlungsmuster Gunns. Doch indem sie ihre Geschichte radikal personalisiert, gewinnt sie einen eigenen Zugang. Eher als ein Roman ist ihr Buch eine eigenwillige Lebens- und Reiseerzählung von der Art, wie sie Norburys Mentor Robert Macfarlane in „Die Karte der Wildnis“ und „Alte Wege“ vorgelegt hat. Sie sind beide ebenfalls bei Matthes & Seitz erschienen und haben dazu beigetragen, Nature Writing dem deutschsprachigen Publikum wieder ins Bewusstsein zu rücken. Bei Norbury gibt es weniger Kulturgeschichte und mehr Privates zu erfahren. Doch auch hier überzeugt der Versuch, sich der Natur weder naturwissenschaftlich noch romantisierend, aber mit geschärften Sinnen zu nähern.
Gespannt folgt man Norbury auf einer Leuchtturmwanderung im Süden Englands, bei der Suche nach dem Brunnen Merlins, auf den Wegen entlang der Flüsse und Gewässer, die den Kapiteln ihre Namen geben wie Humber, Mersey, Afon Geirch, Ffynnon Fawr, Caherdaniel und, am Ende musste es doch sein, der Dunbeath. Die Wanderung dorthin wird jene einsame Angelegenheit, die Norbury vorausgesehen hat.
Doch der Loch Braighe na h’Aibhne, der Quellteich am Ende der Welt, enttäuscht sie nicht: „Auf seiner Oberfläche, weich wie Zinn, spiegelten sich die Wolken. Salzweiße Steine lagen an einem Ufer mit pulvrigem, kristallenem Sand, sauber und ohne jegliche Spuren, der Torf färbte das Weiße korkbraun.“ Die sanfte Genauigkeit im Gebrauch der Wörter für Natur und Anverwandtes, die Sorge der Erzählerin für ihre Umgebung kommt auch in Sigrid Ruschmeiers Übersetzung zum Tragen. Einmal steht die leidenschaftliche Schwimmerin vor der Quelle, verzichtet aber auf das Eintauchen, von dem sie lange geträumt hat: „Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie lange es dauern würde, bis die Stille des Teichs wiederhergestellt sein würde.“ Sie nimmt lediglich eine Handvoll Quarz auf, und lässt sie in ihre Hosentasche rieseln, „auf die seidenglatten grünen Haselnüsse, die noch darin lagen“.
Norbury wandert die fünfzehn Meilen unwegsames Gelände zum Meer zurück, am Hafen sieht sie ein Liebespaar auf einer Bank: „Die Nasen berührten sich fast (…), plötzlich blitzte es hinter ihnen hoch über dem Wasser silbern auf“, ein Lachs, „er musste genau in dem Moment in die Mündung geschwommen sein, in dem ich sie erreicht hatte.“ Als Benutzer einer „Fischtreppe“, einer von Menschen konstruierten Reihe von flachen, abgestuften Becken, die Fischen erlauben, springend und schwimmend stromaufwärts zu gelangen, kommt er ihr wie ein naher Verwandter vor.
Solche empfindsamen Bilder des Zusammenhangs von Mensch und Natur klingen manchmal sehr nach Happy End. Aber das Erreichen der Quelle ist nicht das Ende des Buchs. Es folgt ein zweiter, kleinerer Teil, der es in sich hat. Die Frage nach den Eltern ist nicht erledigt. Der Adoptivvater ist tot, die Adoptivmutter plötzlich schwer krank, sie scheint zu sterben. Als sie sich dennoch erholt, hat die Ich-Erzählerin Zeit, sich um sich selber zu kümmern, und zu entdecken, dass sie Brustkrebs hat, bösartigen.
Plötzlich spitzt sich die Frage nach der biologischen Mutter zu. Norbury hat lange im Internet gesucht, Register durchgesehen. Erst eine Frau, die dergleichen professionell erledigt, findet die Mutter. Was folgt, gehört zu den besten Seiten des Buchs. Ihre Dichte verdanken sie paradoxerweise der trockenen Härte der biologischen Mutter. Nach einer folgenreichen Untreue während eines Australienurlaubs hatte sie wieder zu ihrem Verlobten zurückgefunden – und hat nun noch nach Jahrzehnten keinerlei Verständnis für den Wunsch der Tochter, sie zu sehen, empfindet ihn als „Zumutung“. Sie gibt Hinweise auf die Krankengeschichte, aber verweigert jeden Kontakt. Auch ein Halbbruder kann nicht vermitteln.
Das Ineinander von Krankengeschichte und verweigerter Anerkennung liest sich wie ein Spannungsroman, der keine künstliche Dramaturgie braucht. Die Dringlichkeit spricht für sich und beschert dem anfangs so zarten, weitschweifig-detailverliebten Buch ein kontrastreiches, rasantes Ende.
HANS-PETER KUNISCH
Katharine Norbury: Die Fischtreppe. Eine Reise stromaufwärts. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Roman. Matthes & Seitz. Berlin 2017. 285 S., 20 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Eine Leuchtturmwanderung im
Süden Englands wird zur Suche
nach den Brunnen Merlins
Die Suche nach den Ursprüngen
wird zu einem Spannungsroman,
der keine Dramaturgie braucht
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Das Buch kann ruhigen Gewissens allen ganzheitlich denkenden und fühlenden Lesern (und andern erst recht) empfohlen werden, denn es liegt ein leiser, feinfühlig verfasster Roman vor, optimistisch und holistisch, der niemals in platte esoterische Gewässer abdriftet, dennoch ganzheitlich genannt werden darf - und, wie respektvoll festgehalten, zugleich ein gut geschriebenes Stück Literatur darstellt. Endlich.« - Manfred Stangl, Pappelblatt Manfred Stangl Pappelblatt 20180101