Ein Junge flieht. Die Schreie seiner Jäger verfolgen ihn. Tagsüber kauert er in einem staubigen Versteck. Nachts kämpft er sich in der Dunkelheit vor und sucht in vertrockneten Brunnen nach Wasser. Vor ihm liegt nichts als die ausgebrannte Ebene, eine Welt unerbittlicher Hitze und Gesetzlosigkeit. Und es gibt kein Zurück.
Auf seiner Flucht durch die karge, ausgedörrte Landschaft trifft der Junge auf einen alten Ziegenhirten. Inmitten einer von Misstrauen geprägten Welt ohne Moral oder Menschlichkeit entsteht ein ungewöhnliches Band zwischen den beiden. Der Junge, der nichts kennt als Angst vor der Hitze, Angst vor anderen Menschen und dem Tod, lernt gegenseitige Verantwortung und Rücksichtnahme kennen.
Doch als die Verfolger sie einholen, kämpfen er und der alte Mann nicht mehr für Gerechtigkeit, sondern einzig um ihr Überleben.
Eindringlich und mit poetischer Klarheit erzählt Jesús Carrasco einen intensiven und zeitlosen Roman zwischen packender Abenteuergeschichte und literarischer Parabel.
Auf seiner Flucht durch die karge, ausgedörrte Landschaft trifft der Junge auf einen alten Ziegenhirten. Inmitten einer von Misstrauen geprägten Welt ohne Moral oder Menschlichkeit entsteht ein ungewöhnliches Band zwischen den beiden. Der Junge, der nichts kennt als Angst vor der Hitze, Angst vor anderen Menschen und dem Tod, lernt gegenseitige Verantwortung und Rücksichtnahme kennen.
Doch als die Verfolger sie einholen, kämpfen er und der alte Mann nicht mehr für Gerechtigkeit, sondern einzig um ihr Überleben.
Eindringlich und mit poetischer Klarheit erzählt Jesús Carrasco einen intensiven und zeitlosen Roman zwischen packender Abenteuergeschichte und literarischer Parabel.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sabine Vogel ist selbst ganz überrascht davon, wie sehr sie "Die Flucht" von Jesús Carrasco gefangen genommen hat, denn eigentlich ist die Geschichte, die der spanische Autor darin erzählt, altbekannt: eine Junge flieht vor etwas in die Wüste, wird von einem alten Mann aufgenommen, der ihm das Überleben in der Wildnis beibringt, Showdown, Schluss. Was dieses Buch so besonders macht, ist Carrascos Sprache, die zwischen Drastik und Zartheit changiert, sein sorgsames Haushalten mit Ballast, er gibt keine Erklärungen, keine Psychologie, reduziert die Erzählung auf das Elementare, berichtet die Rezensentin begeistert. Carrasco hat einen Roman gedichtet, der auch als "zeitlose Parabel" funktioniert, weil er sich nur auf den basalsten Überlebenstrieb verlässt, um seine Geschichte zu motivieren, auf die "radikale Dinglichkeit", erklärt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2013Des Kaisers neue Kleinkunst
Aus der Ordnung geraten: Jesús Carrasco schürt in seinem Roman "Die Flucht" die literarische Klimakatastrophe
Nach dem Vorbild des Finanzmarkts neigt auch der Literaturmarkt zunehmend zu kurzlebigen Hypes und Hysterien. Das demonstriert die Blitzkarriere von Jesús Carrasco. Eigenen Angaben zufolge verdankt der vierzigjährige Wahlandalusier sein Schreiben der aktuellen Wirtschaftskrise. Davor war er fünfzehn Jahre als Werbetexter tätig. Der Verlust seines Arbeitsplatzes ließ ihn das Genre wechseln: vom Slogan zum Roman. Mit spektakulärem Erfolg. Sein Erstling "Intemperie" (wörtlich übersetzt etwa: "Rauhes Klima") machte ihn über Nacht zum Nachwuchsstar. Auf der Frankfurter Buchmesse 2012 wurde der Roman bejubelt und beworben als "eines der atemberaubendsten Debüts des weltweiten Literaturpanoramas".
Ob dieser Satz in seiner übertriebenen Bescheidenheit einem zeitweiligen Ausflug des Autors in sein ursprüngliches Tätigkeitsfeld zu verdanken ist, sei dahingestellt. Wirksamkeit bewies er allemal. Der Roman wurde in dreizehn Länder und Territorien verkauft. Von Französisch bis "World English" (sic), von Israel bis nach Brasilien - binnen kurzem war der Debütant zum Kaiser des globalisierten Weltliteraturmarkts geworden, in dessen Reich die Sonne nicht untergeht. Wohlgemerkt noch bevor das Buch je einen realen Leser gefunden hatte. Denn erstmals publiziert wurde es auf Spanisch erst 2013 und fast gleichzeitig auch auf Deutsch: unter dem Titel "Die Flucht".
Schlägt man es nun auf, mag die Ekstase der Spekulanten überraschen. Des neuen Kaisers erzählerische Kleider erweisen sich als reichlich altbackene Kleinkunst. Stil, Szenario und Figuren erinnern an ein Spanien der dreißiger Jahre, am Vorabend des Bürgerkriegs. In einer ländlichen Einöde, die kaum durch die Zivilisation erschlossen ist, wird ein namenloser kleiner Junge von Verfolgern gehetzt. Vergeblich sucht er nach Unterschlupf, Nahrung und Wasser, eine Dürrekatastrophe hat die einst fruchtbare Landschaft zur Wüste werden lassen. Die Wälder sind verdorrt, die Brunnen ausgetrocknet, die Dörfer Ruinen. Wie wir verbrämt-verschämt erfahren, hat ein Polizeiwachtmeister mit dem Willkürgehabe eines Wildwest-Sheriffs den Jungen unter schweigender Duldung des Vaters jahrelang vergewaltigt, bis er floh. Nun sucht er seinen Besitz zurückzugewinnen.
Inmitten dieser Unbarmherzigkeit des Klimas und der Menschen wäre der Junge allein dem Untergang geweiht, käme da nicht ein guter Hirte des Wegs, der den Verlorenen aufliest und sich mal neutestamentarisch als barmherziger Retter erweist, mal alttestamentarisch als gerechter Rächer, der die Bösewichte dem Orkus zuführt. Wobei er als frommer Mann gewissenhaft darauf achtet, dass die Leichen danach vorschriftsmäßig beräumt werden. Als sei der Überfrachtung eines an aufdringlichem Symbolwert kaum zu übertreffenden Berufsbildes damit noch nicht Genüge getan, studiert der - trotz aller Wildnis tadellos alphabetisierte - Viehhüter zudem allnächtlich die Bibel. Mit subtilen Sätzen wie "Christus musste auch leiden" lehrt er den Jungen, sein Kreuz zu tragen, und erteilt ihm Erbauungslektionen zur Ikonographie der Lichtstrahlen im Heiligenschein von Jesusfiguren: "Einer steht für die Erinnerung, der zweite für die Vernunft und der dritte für den Willen."
Zu solch katholischem Kitsch gesellt sich stilistischer. Die Ziegen des Hirten hinterlassen eine "Kotspur wie einen Kometenschwanz". Tags recken die Bauern ihre "kräftigen, sonnengegerbten Arme, die den Pflug in der Erde versenkten". Nachts brennt Feuer mit "honigsämiger Flamme, die das Holz verzehrt", darüber leuchten "Sterne hoch oben wie Intarsien einer Glaskugel". Von seinen "Häschern" bedrängt, versinkt der Junge "in einem Loch aus Angst" - und erliegt dann doch der Faszination des Bösen "wie ein Indianer, betört vom Flittertand, mit dem der Konquistador lockt".
Im Kontrast zu solch blumigen Entgleisungen, die durchaus nicht der präzise gearbeiteten Übersetzung von Petra Strien anzulasten sind, setzt Carrasco inhaltlich auf die titelgebende Rauhheit des natürlichen und sozialen Klimas. Die Dialoge sind spärlich, die Handlung reduziert sich weitgehend auf das hier bereits Resümierte, und eine extreme Reduktion der Beschreibungen macht eine zeitliche und räumliche Zuordnung unmöglich. Trägt die Welt des Romans auch spärliche Züge des Industriezeitalters in Form von Eisenbahnen, Motorrädern, Getreidesilos, wird auf den Jungen doch ein märchenhaft anmutendes Kopfgeld in Höhe von "50 Talern" ausgeschrieben.
Durch solch gezielte Anachronismen entsteht ein Kosmos unbestimmbarer archaischer Ferne, der den Anschein der Allgemeingültigkeit erwecken will: als Parabel einer existentiellen Endzeit. Genau das konsequente Unterlaufen einer identifizierbaren Kontextualisierung verleiht dem Roman aber einen eigentümlich reaktionären Subtext, der nur zu gut in dies Zeitalter der Restauration passt. Bei Carrasco ist das Individuum schutzlos der natürlichen und menschlichen Klimakatastrophe ausgeliefert. Ursachenforschung ist nicht nötig: Das Unheil kommt wie eine biblische Plage über die daran unbeteiligten Menschen.
Vor diesem Fatum kann nur die unbeirrbare christliche Ethik des Hirten retten. Da sie nach dem Zusammenbruch aller weltlichen Strukturen auch in der Einsamkeit intakt bleibt, ist sie allein in der Lage, einer Natur zu trotzen, die - sei es durch Dürre, sei es durch homosexuelle Gewalttaten des Polizeiwachtmeisters - aus der Ordnung geraten ist. Dass es heutzutage eher umgekehrt die Polizeiwachtmeister sind, die unsere Kinder vor den pädophilen Übergriffen der guten Hirten schützen müssen, lässt sich dabei elegant im mythisch flottierenden Urgrund versenken.
FLORIAN BORCHMEYER
Jesús Carrasco: "Die Flucht".
Roman.
Aus dem Spanischen von Petra Strien. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 208 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus der Ordnung geraten: Jesús Carrasco schürt in seinem Roman "Die Flucht" die literarische Klimakatastrophe
Nach dem Vorbild des Finanzmarkts neigt auch der Literaturmarkt zunehmend zu kurzlebigen Hypes und Hysterien. Das demonstriert die Blitzkarriere von Jesús Carrasco. Eigenen Angaben zufolge verdankt der vierzigjährige Wahlandalusier sein Schreiben der aktuellen Wirtschaftskrise. Davor war er fünfzehn Jahre als Werbetexter tätig. Der Verlust seines Arbeitsplatzes ließ ihn das Genre wechseln: vom Slogan zum Roman. Mit spektakulärem Erfolg. Sein Erstling "Intemperie" (wörtlich übersetzt etwa: "Rauhes Klima") machte ihn über Nacht zum Nachwuchsstar. Auf der Frankfurter Buchmesse 2012 wurde der Roman bejubelt und beworben als "eines der atemberaubendsten Debüts des weltweiten Literaturpanoramas".
Ob dieser Satz in seiner übertriebenen Bescheidenheit einem zeitweiligen Ausflug des Autors in sein ursprüngliches Tätigkeitsfeld zu verdanken ist, sei dahingestellt. Wirksamkeit bewies er allemal. Der Roman wurde in dreizehn Länder und Territorien verkauft. Von Französisch bis "World English" (sic), von Israel bis nach Brasilien - binnen kurzem war der Debütant zum Kaiser des globalisierten Weltliteraturmarkts geworden, in dessen Reich die Sonne nicht untergeht. Wohlgemerkt noch bevor das Buch je einen realen Leser gefunden hatte. Denn erstmals publiziert wurde es auf Spanisch erst 2013 und fast gleichzeitig auch auf Deutsch: unter dem Titel "Die Flucht".
Schlägt man es nun auf, mag die Ekstase der Spekulanten überraschen. Des neuen Kaisers erzählerische Kleider erweisen sich als reichlich altbackene Kleinkunst. Stil, Szenario und Figuren erinnern an ein Spanien der dreißiger Jahre, am Vorabend des Bürgerkriegs. In einer ländlichen Einöde, die kaum durch die Zivilisation erschlossen ist, wird ein namenloser kleiner Junge von Verfolgern gehetzt. Vergeblich sucht er nach Unterschlupf, Nahrung und Wasser, eine Dürrekatastrophe hat die einst fruchtbare Landschaft zur Wüste werden lassen. Die Wälder sind verdorrt, die Brunnen ausgetrocknet, die Dörfer Ruinen. Wie wir verbrämt-verschämt erfahren, hat ein Polizeiwachtmeister mit dem Willkürgehabe eines Wildwest-Sheriffs den Jungen unter schweigender Duldung des Vaters jahrelang vergewaltigt, bis er floh. Nun sucht er seinen Besitz zurückzugewinnen.
Inmitten dieser Unbarmherzigkeit des Klimas und der Menschen wäre der Junge allein dem Untergang geweiht, käme da nicht ein guter Hirte des Wegs, der den Verlorenen aufliest und sich mal neutestamentarisch als barmherziger Retter erweist, mal alttestamentarisch als gerechter Rächer, der die Bösewichte dem Orkus zuführt. Wobei er als frommer Mann gewissenhaft darauf achtet, dass die Leichen danach vorschriftsmäßig beräumt werden. Als sei der Überfrachtung eines an aufdringlichem Symbolwert kaum zu übertreffenden Berufsbildes damit noch nicht Genüge getan, studiert der - trotz aller Wildnis tadellos alphabetisierte - Viehhüter zudem allnächtlich die Bibel. Mit subtilen Sätzen wie "Christus musste auch leiden" lehrt er den Jungen, sein Kreuz zu tragen, und erteilt ihm Erbauungslektionen zur Ikonographie der Lichtstrahlen im Heiligenschein von Jesusfiguren: "Einer steht für die Erinnerung, der zweite für die Vernunft und der dritte für den Willen."
Zu solch katholischem Kitsch gesellt sich stilistischer. Die Ziegen des Hirten hinterlassen eine "Kotspur wie einen Kometenschwanz". Tags recken die Bauern ihre "kräftigen, sonnengegerbten Arme, die den Pflug in der Erde versenkten". Nachts brennt Feuer mit "honigsämiger Flamme, die das Holz verzehrt", darüber leuchten "Sterne hoch oben wie Intarsien einer Glaskugel". Von seinen "Häschern" bedrängt, versinkt der Junge "in einem Loch aus Angst" - und erliegt dann doch der Faszination des Bösen "wie ein Indianer, betört vom Flittertand, mit dem der Konquistador lockt".
Im Kontrast zu solch blumigen Entgleisungen, die durchaus nicht der präzise gearbeiteten Übersetzung von Petra Strien anzulasten sind, setzt Carrasco inhaltlich auf die titelgebende Rauhheit des natürlichen und sozialen Klimas. Die Dialoge sind spärlich, die Handlung reduziert sich weitgehend auf das hier bereits Resümierte, und eine extreme Reduktion der Beschreibungen macht eine zeitliche und räumliche Zuordnung unmöglich. Trägt die Welt des Romans auch spärliche Züge des Industriezeitalters in Form von Eisenbahnen, Motorrädern, Getreidesilos, wird auf den Jungen doch ein märchenhaft anmutendes Kopfgeld in Höhe von "50 Talern" ausgeschrieben.
Durch solch gezielte Anachronismen entsteht ein Kosmos unbestimmbarer archaischer Ferne, der den Anschein der Allgemeingültigkeit erwecken will: als Parabel einer existentiellen Endzeit. Genau das konsequente Unterlaufen einer identifizierbaren Kontextualisierung verleiht dem Roman aber einen eigentümlich reaktionären Subtext, der nur zu gut in dies Zeitalter der Restauration passt. Bei Carrasco ist das Individuum schutzlos der natürlichen und menschlichen Klimakatastrophe ausgeliefert. Ursachenforschung ist nicht nötig: Das Unheil kommt wie eine biblische Plage über die daran unbeteiligten Menschen.
Vor diesem Fatum kann nur die unbeirrbare christliche Ethik des Hirten retten. Da sie nach dem Zusammenbruch aller weltlichen Strukturen auch in der Einsamkeit intakt bleibt, ist sie allein in der Lage, einer Natur zu trotzen, die - sei es durch Dürre, sei es durch homosexuelle Gewalttaten des Polizeiwachtmeisters - aus der Ordnung geraten ist. Dass es heutzutage eher umgekehrt die Polizeiwachtmeister sind, die unsere Kinder vor den pädophilen Übergriffen der guten Hirten schützen müssen, lässt sich dabei elegant im mythisch flottierenden Urgrund versenken.
FLORIAN BORCHMEYER
Jesús Carrasco: "Die Flucht".
Roman.
Aus dem Spanischen von Petra Strien. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 208 S., geb., 18,95 [Euro].
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