Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.1996Die Wahrheit zwischen den Knöpfen
Ruine mit Festbeleuchtung: Harold Brodkeys gedankenreicher Roman "Die flüchtige Seele" · Von Paul Ingendaay
Einmal bin ich über diesem Buch eingeschlafen. Plötzlich, eine Kerze brannte nicht, fielen mir die Augen so rasch zu, daß keine Zeit blieb, mir zu sagen: Ich schlafe ein. Und eine halbe Stunde später weckte mich der Gedanke, daß es Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch fortlegen, das ich noch in Händen zu halten wähnte, und das Licht ausblasen; im Schlaf hatte ich weiter über das Gelesene nachgedacht, dieses Nachdenken aber hatte eine eigentümliche Wendung genommen: mir war, als sei ich selbst es, wovon das Buch sprach.
Harold Brodkeys Roman "Die flüchtige Seele" (The Runaway Soul) ist unendlich privat. Das heißt, er ist privat in einem Maß, das selbst Proust nicht erreicht hat, und er erweckt den Eindruck einer geradezu gähnenden Unendlichkeit. Damit ist freilich weniger die Müdigkeit gemeint, die auch den geduldigsten Leser bei der Lektüre befallen kann, sondern die ästhetische Wirkung, die Brodkey mit diesem ungewöhnlichen Buch erzielt: "Die flüchtige Seele", über 1300 Seiten lang, ist das Bewußtseinsprotokoll eines Mannes, der seine Kindheit, die Jugend- und Studienjahre heraufbeschwört und alle Figuren, die ihn umgeben, in die besondere Form seines Selbstgesprächs zwingt. Manchmal läßt er sie drei, vier Seiten lang reden, und die einzelnen Szenen erreichen an Umfang leicht das Zehnfache. Doch die Dialoge dienen nicht dazu, die Handlung voranzubringen. Denn es gibt keine Handlung.
Was es statt dessen gibt, stellt die abermalige Steigerung von Brodkeys Kunst durch Brodkeysche Mittel dar: ein ruheloses Denk- und Bewußtseinsgeschehen, das sich ständig neue Konstellationen sucht und die Figuren dafür wie Spielsoldaten übers Feld schiebt. Der Schauplatz könnte egal sein, der Autor macht ihn aus grauen Bauklötzchen, und es kommt ihm ersichtlich nicht darauf an. Auch die Figurenrede unterliegt einem besonderen Diktat. Sie wird gleichsam zitiert, auf Botschaften überprüft, die sie nicht enthält, und bleibt bei alldem nur ein Partikel, der in einem völlig vereinzelten Bewußtsein dahintreibt. Sowie es sich aufgebaut hat, beginnt schon die Zersetzung.
"Die flüchtige Seele" ist der Bericht einer Selbsterschaffung, die sich selbst mißtraut, weil sie der Sprache mißtraut, ihrem einzigen Mittel. Daran müßte ein Roman scheitern, und in gewisser Weise ist das als magnum opus angekündigte Werk, an dem der Autor dreißig Jahre geschrieben hat, ein Schlachtfeld, auf dem die Trümmer des Entwicklungsromans herumliegen; mag sie aufheben, wer will.
Nur läßt sich dem europäisch gebildeten Amerikaner Harold Brodkey theoretisch nicht beikommen, denn seinen Prämissen ist schwer zu widersprechen: Eine wiedergefundene Zeit, heute geschrieben, wäre bestenfalls Trost für Eskapisten, ansonsten Unterhaltungsmusik. In Wahrheit hat Brodkey mit seinem Buch einen Anti-Proust geschrieben. Es geht ihm nicht um ein Destillat namens Kunst, in dem das Leben "transzendiert", also als wertlose Hülle zurückgelassen würde, sondern um Weltbegegnung im umfassendsten und präzisesten Sinn: als unabschließbarer Prozeß, nicht als Ergebnis; als körperliche Empfindung im Jetzt, nicht als Resümee und gelassene Erkenntnis. Mit diesen Voraussetzungen konnte Brodkeys Roman wohl nur die prachtvoll illuminierte Ruine werden, die wir jetzt vor uns haben.
Der Ich-Erzähler, Brodkeys alter ego, heißt Wiley Silenowicz. Das ist nicht sein richtiger Name; als er zwei Jahre alt ist, stirbt seine Mutter, und der Vater, ein Trinker und Spieler, verkauft das Kind für 350 Dollar an die Kusine. Das kleinbürgerliche Haus der Adoptivfamilie in St. Louis/Missouri ist der Schauplatz des Kindheitsdramas, das Brodkey schon in den "Nahezu klassischen Stories" geschildert hat. Von dort kennen wir auch die Grundsituationen von Wileys Geschichte, die sich mit Brodkeys Lebensdaten einigermaßen decken: die halluzinatorisch registrierten Wahrnehmungen von Enge, Hitze und einem paradoxen Gemisch von Bedrängung und Isolation inmitten der als fremd empfundenen Familie; Launen und Mißgunst der älteren Halbschwester Nonie; die Feindseligkeit zwischen den Adoptiveltern, Lila und S. L. (kurz für Samuel Leonard), die beide um das kleine "Pisserchen" werben, im Grunde aber nur für ihr Versagen gegenüber dem hochbegabten Kind Absolution suchen.
Es ist keine schöne Geschichte, und sie geht noch kläglicher weiter. S. L. erleidet eine Reihe von Schlaganfällen, und die Familie verarmt. Nicht lange nach dem Tod des Adoptivvaters, Wiley ist vierzehn, erkrankt Lila an Krebs, an dem sie sterben wird. Inzwischen sind die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg eingetreten (eines der wenigen äußeren Ereignisse, auf die der Roman spärlich Bezug nimmt). Für Nonie, im Gegensatz zu ihrem Bruder eine "Kämpferin", gibt es bei der Air Force immerhin etwas zu tun. Wiley, schon als Schüler von zerquälter Intellektualität, wird von Menschen beiderlei Geschlechts begehrt; sein eigenes Begehren ist Stoff weitläufiger Selbstbefragung. Als Studenten sehen wir ihn mit seiner Freundin Ora Perkins in Harvard, die in einer Erzählung noch "Orra" hieß. So viel deutet sich schließlich an: Wiley wird, gleich seinem Autor, Schriftsteller werden.
Wie die späteren Erzählungen bereits ahnen ließen, strebt "Die flüchtige Seele" nicht Totalität und die endgültige Deutung des Erzählten an, sondern löst einzelne Episoden aus mehreren Jahrzehnten Lebenszeit heraus: von der Geburt des Erzählers im Jahr 1930 springt der Roman ins Jahr 1944, danach zurück (1932), dann sehr weit nach vorn (1956), dann wieder zurück (1934) und so fort. Dadurch kennen wir Nonie, Lila und S. L. nicht nur bis an die Schmerzgrenze genau, soll heißen: in einer Echtzeitversion von typischen Verhaltensweisen, Gesten und Floskeln, die uns ein sogenannter realistischer Roman niemals anbieten würde. Brodkey läßt auch eine Ahnung aufscheinen, wie sehr wir uns an die domestizierte und verkürzte "Wirklichkeit" des handelsüblichen Realismus gewöhnt haben. Unsere genauen, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit daherkommenden Romane sind Strichzeichnungen gegen dieses Riesengemälde.
Es sind aber sehr kleine Dinge, die der Autor auf seine Leinwand bringt. Etwa die Empfindungen des vierzehnjährigen Wiley nach dem Aufwachen, ein Gegenbild zum Beginn von Prousts "Recherche". Oder ein Tennismatch, bei dem Nonie mit dem Schläger auf ihre Gegnerin losgeht. Oder eine Zugfahrt Wileys mit seinem älteren, homosexuellen Cousin Daniel, der um ihn wirbt, jedoch abgewiesen wird: hundert Seiten Reden und Schweigen, die ein doppeltes Psychophysiogramm in progress ergeben.
In einem Interview hat der Autor jegliche Bewußtseinsregung als sexuell definiert, aber da umgekehrt auch jede Sexualität Ausdruck des Bewußtseins ist, vergehen bei Brodkey zwischen dem ersten geöffneten Hosenknopf und dem zweiten rund vierzig Seiten. Bevor man an den dritten denken kann, ist das Kapitel zu Ende. Dasselbe gilt für Hemd- und Blusenknöpfe. So wird "Die flüchtige Seele", die unentwegt von Sexualität handelt, unter der Last der Gedanken zu einem Buch von exhibitionistischer Keuschheit.
Daß Wiley nach einer persönlichen Moral sucht, die ohne Vorbilder auskommen will, ohne Ort, Tradition und gesellschaftliche Bindung, hat man indessen schnell begriffen. Fraglich ist, ob sich radikale Vereinzelung so in einen Text verwandeln läßt, wie Brodkey es hier versucht. Kaum auf dem Papier, geraten Wileys Überlegungen in eine gigantische Umwälzanlage voller Einwände, Hypothesen und Modifikationen - das Grundgeräusch des Romans. Dadurch bleiben die Figuren eigentümlich blaß, obwohl wir pausenlos von ihnen hören: Wir erfahren einfach zuwenig, um uns dauerhaft für sie zu interessieren.
Merkwürdigerweise scheinen die beeindruckenden Szenen im letzten Drittel des Romans - Lilas Sterbemonologe oder Nonies Angst während eines Gewitters - der Ich-Bezogenheit des Erzählers mühsam abgerungen. Doch selbst die Konstruktion eines von Haß und zwanghafter Bindung geprägten Bruder/Schwester-Romans, wie Brodkey sich "Die flüchtige Seele" dachte, droht durch Wileys ausufernde Reflexionen pulverisiert zu werden. Schaut auch nur der Zipfel einer faßbaren Situation aus der Textmaschine, wird er schon wieder fortgerissen und untergemischt.
Der schleichenden Auszehrung des Romans durch Abstraktion kann auch die Übersetzung von Angela Praesent nicht abhelfen; im Gegenteil. Nun wäre es ungerecht, an einer imponierenden Gesamtleistung herumzukritteln, die mit zwei Jahren gedankenreicher Arbeit wohl nicht zu hoch veranschlagt ist und für die es erfahrungsgemäß wenig Dank gibt. Verlag, Lektor und Übersetzerin verdienen Lob für die Betreuung Brodkeys; sie haben dafür gesorgt, daß die Rezeption dieses schwierigen Autors in Deutschland um einiges glücklicher verlief als in Amerika. An einigen Stellen wird die Lektüre aber durch Anglizismen und "falsche Freunde" stark erschwert - durch Begriffe und Sprachwendungen also, die wegen der Nähe zwischen Ausgangs- und Zielsprache dazu verführen, sie umstandslos so ins Deutsche zu bringen, wie sie im Englischen aufmarschieren. Leider finden sich die Fehler gehäuft gerade dort, wo das Gelände ohnehin etwas unwegsamer ist. Wo Brodkey mit enervierender Zähigkeit ein Theorem aufs andere stapelt, macht die Übersetzung die Sache noch dürrer und theoretischer. Man kann zweierlei Meinung darüber sein, ob finality nicht auch einmal "Endlichkeit" heißen dürfte statt "Finalität", ob fragments nicht besser mit "Bruchstücke" und miracle nicht besser mit "Wunder" wiedergegeben wäre. Doch irgendwann schleicht sich ein Seminarton ein, der über die Wortwahl des Originals weit hinausgeht. Ständig heißt es "partiell" statt "teilweise", "piktoral" statt "bildhaft", "suburban" statt "vorstädtisch", "involviert" statt "verwickelt", und die moderne Schnecke hat kein tragbares, sondern ein transportables Häuschen auf dem Rücken. A classroom idea ist sicher keine "populärwissenschaftliche Vorstellung", sondern die gute alte "Schulbuchweisheit". Ziemlich scheußlich ist auch "intrinsisch" (intrinsic), was aber von "unambiguös" noch übertroffen wird (unambiguous, unzweideutig). Man darf es der Sprache nicht verdenken, daß sie mit einem kleinen Wortmonster wie "legitimisiert" (legitimized) grausame Rache nimmt.
Daneben vertraut die Übersetzung auf einen vulgärpsychologischen Jargon, der Brodkey schlecht bekommt. But I want to give what I am, heißt es denkbar schlicht im Original. In der deutschen Version: "Doch ich möchte mich einbringen, wie ich bin." Wenn es von jemandem heißt, er müsse um etwas kämpfen (to struggle), muß er sich auf deutsch "Akzeptanz erkämpfen". Auch mit dem Wortsinn ist es nicht immer zum besten bestellt. Wiley beschreibt seinen Cousin Daniel als appallingly handsome, was nichts mit Appeal zu tun hat, sondern mit Widerwillen und Ekel. Im Deutschen lesen wir die überraschende Mitteilung, der Cousin sehe "unheimlich gut aus".
Mag sein, daß diese Einwände wenig zählen für jene, die sich dem Roman ausliefern. Bei Brodkey weiß man genauer, warum man liest, als bei der belletristischen Ware der Saison. Jetzt, fünf Wochen nach seinem Tod, den er sich seit seiner Aids-Erkrankung im Jahr 1993 in mehreren Essays vorgestellt, den er kommentiert und gedeutet hat, ist der Blick auf alle Teile seines Werks freigegeben, ohne daß die Brodkey-Legende ständig miterzählt werden müßte. Zu korrigieren wäre allerdings manches, etwa die Rede von den märchenhaften Vorschüssen, die er für die "Flüchtige Seele" von wechselnden Verlagen seit den sechziger Jahren erhalten haben soll.
Die Verwertungsbedingungen des amerikanischen Buchmarktes sind es auch, die Harold Brodkey fast wie eine mittelalterliche Erscheinung wirken lassen. Als er mit sechsundzwanzig, nach dem Erzählband "Erste Liebe und andere Sorgen" (1958), die übliche Laufbahn hätte einschlagen können, zog er sich zurück, vertraute seinem Eigensinn und hob sich gleichsam selbst aus der Literaturgeschichte. Die letzte Seite der "Flüchtigen Seele" stellt eine Fortsetzung in Aussicht, die nicht mehr geschrieben wurde. Sie hätte von der Zeit nach Nonies Tod handeln sollen. "Doch laßt uns einen Moment lang innehalten", lauten die Zeilen, mit denen Wiley Silenowicz schließt. "Laßt uns still sein. Oder lassen Sie vielmehr mich... eine Weile schweigen."
Harold Brodkey: "Die flüchtige Seele". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Angela Praesent. Rowohlt Verlag, Reinbek 1995. 1343 Seiten, geb., 58,- DM.
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Ruine mit Festbeleuchtung: Harold Brodkeys gedankenreicher Roman "Die flüchtige Seele" · Von Paul Ingendaay
Einmal bin ich über diesem Buch eingeschlafen. Plötzlich, eine Kerze brannte nicht, fielen mir die Augen so rasch zu, daß keine Zeit blieb, mir zu sagen: Ich schlafe ein. Und eine halbe Stunde später weckte mich der Gedanke, daß es Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch fortlegen, das ich noch in Händen zu halten wähnte, und das Licht ausblasen; im Schlaf hatte ich weiter über das Gelesene nachgedacht, dieses Nachdenken aber hatte eine eigentümliche Wendung genommen: mir war, als sei ich selbst es, wovon das Buch sprach.
Harold Brodkeys Roman "Die flüchtige Seele" (The Runaway Soul) ist unendlich privat. Das heißt, er ist privat in einem Maß, das selbst Proust nicht erreicht hat, und er erweckt den Eindruck einer geradezu gähnenden Unendlichkeit. Damit ist freilich weniger die Müdigkeit gemeint, die auch den geduldigsten Leser bei der Lektüre befallen kann, sondern die ästhetische Wirkung, die Brodkey mit diesem ungewöhnlichen Buch erzielt: "Die flüchtige Seele", über 1300 Seiten lang, ist das Bewußtseinsprotokoll eines Mannes, der seine Kindheit, die Jugend- und Studienjahre heraufbeschwört und alle Figuren, die ihn umgeben, in die besondere Form seines Selbstgesprächs zwingt. Manchmal läßt er sie drei, vier Seiten lang reden, und die einzelnen Szenen erreichen an Umfang leicht das Zehnfache. Doch die Dialoge dienen nicht dazu, die Handlung voranzubringen. Denn es gibt keine Handlung.
Was es statt dessen gibt, stellt die abermalige Steigerung von Brodkeys Kunst durch Brodkeysche Mittel dar: ein ruheloses Denk- und Bewußtseinsgeschehen, das sich ständig neue Konstellationen sucht und die Figuren dafür wie Spielsoldaten übers Feld schiebt. Der Schauplatz könnte egal sein, der Autor macht ihn aus grauen Bauklötzchen, und es kommt ihm ersichtlich nicht darauf an. Auch die Figurenrede unterliegt einem besonderen Diktat. Sie wird gleichsam zitiert, auf Botschaften überprüft, die sie nicht enthält, und bleibt bei alldem nur ein Partikel, der in einem völlig vereinzelten Bewußtsein dahintreibt. Sowie es sich aufgebaut hat, beginnt schon die Zersetzung.
"Die flüchtige Seele" ist der Bericht einer Selbsterschaffung, die sich selbst mißtraut, weil sie der Sprache mißtraut, ihrem einzigen Mittel. Daran müßte ein Roman scheitern, und in gewisser Weise ist das als magnum opus angekündigte Werk, an dem der Autor dreißig Jahre geschrieben hat, ein Schlachtfeld, auf dem die Trümmer des Entwicklungsromans herumliegen; mag sie aufheben, wer will.
Nur läßt sich dem europäisch gebildeten Amerikaner Harold Brodkey theoretisch nicht beikommen, denn seinen Prämissen ist schwer zu widersprechen: Eine wiedergefundene Zeit, heute geschrieben, wäre bestenfalls Trost für Eskapisten, ansonsten Unterhaltungsmusik. In Wahrheit hat Brodkey mit seinem Buch einen Anti-Proust geschrieben. Es geht ihm nicht um ein Destillat namens Kunst, in dem das Leben "transzendiert", also als wertlose Hülle zurückgelassen würde, sondern um Weltbegegnung im umfassendsten und präzisesten Sinn: als unabschließbarer Prozeß, nicht als Ergebnis; als körperliche Empfindung im Jetzt, nicht als Resümee und gelassene Erkenntnis. Mit diesen Voraussetzungen konnte Brodkeys Roman wohl nur die prachtvoll illuminierte Ruine werden, die wir jetzt vor uns haben.
Der Ich-Erzähler, Brodkeys alter ego, heißt Wiley Silenowicz. Das ist nicht sein richtiger Name; als er zwei Jahre alt ist, stirbt seine Mutter, und der Vater, ein Trinker und Spieler, verkauft das Kind für 350 Dollar an die Kusine. Das kleinbürgerliche Haus der Adoptivfamilie in St. Louis/Missouri ist der Schauplatz des Kindheitsdramas, das Brodkey schon in den "Nahezu klassischen Stories" geschildert hat. Von dort kennen wir auch die Grundsituationen von Wileys Geschichte, die sich mit Brodkeys Lebensdaten einigermaßen decken: die halluzinatorisch registrierten Wahrnehmungen von Enge, Hitze und einem paradoxen Gemisch von Bedrängung und Isolation inmitten der als fremd empfundenen Familie; Launen und Mißgunst der älteren Halbschwester Nonie; die Feindseligkeit zwischen den Adoptiveltern, Lila und S. L. (kurz für Samuel Leonard), die beide um das kleine "Pisserchen" werben, im Grunde aber nur für ihr Versagen gegenüber dem hochbegabten Kind Absolution suchen.
Es ist keine schöne Geschichte, und sie geht noch kläglicher weiter. S. L. erleidet eine Reihe von Schlaganfällen, und die Familie verarmt. Nicht lange nach dem Tod des Adoptivvaters, Wiley ist vierzehn, erkrankt Lila an Krebs, an dem sie sterben wird. Inzwischen sind die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg eingetreten (eines der wenigen äußeren Ereignisse, auf die der Roman spärlich Bezug nimmt). Für Nonie, im Gegensatz zu ihrem Bruder eine "Kämpferin", gibt es bei der Air Force immerhin etwas zu tun. Wiley, schon als Schüler von zerquälter Intellektualität, wird von Menschen beiderlei Geschlechts begehrt; sein eigenes Begehren ist Stoff weitläufiger Selbstbefragung. Als Studenten sehen wir ihn mit seiner Freundin Ora Perkins in Harvard, die in einer Erzählung noch "Orra" hieß. So viel deutet sich schließlich an: Wiley wird, gleich seinem Autor, Schriftsteller werden.
Wie die späteren Erzählungen bereits ahnen ließen, strebt "Die flüchtige Seele" nicht Totalität und die endgültige Deutung des Erzählten an, sondern löst einzelne Episoden aus mehreren Jahrzehnten Lebenszeit heraus: von der Geburt des Erzählers im Jahr 1930 springt der Roman ins Jahr 1944, danach zurück (1932), dann sehr weit nach vorn (1956), dann wieder zurück (1934) und so fort. Dadurch kennen wir Nonie, Lila und S. L. nicht nur bis an die Schmerzgrenze genau, soll heißen: in einer Echtzeitversion von typischen Verhaltensweisen, Gesten und Floskeln, die uns ein sogenannter realistischer Roman niemals anbieten würde. Brodkey läßt auch eine Ahnung aufscheinen, wie sehr wir uns an die domestizierte und verkürzte "Wirklichkeit" des handelsüblichen Realismus gewöhnt haben. Unsere genauen, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit daherkommenden Romane sind Strichzeichnungen gegen dieses Riesengemälde.
Es sind aber sehr kleine Dinge, die der Autor auf seine Leinwand bringt. Etwa die Empfindungen des vierzehnjährigen Wiley nach dem Aufwachen, ein Gegenbild zum Beginn von Prousts "Recherche". Oder ein Tennismatch, bei dem Nonie mit dem Schläger auf ihre Gegnerin losgeht. Oder eine Zugfahrt Wileys mit seinem älteren, homosexuellen Cousin Daniel, der um ihn wirbt, jedoch abgewiesen wird: hundert Seiten Reden und Schweigen, die ein doppeltes Psychophysiogramm in progress ergeben.
In einem Interview hat der Autor jegliche Bewußtseinsregung als sexuell definiert, aber da umgekehrt auch jede Sexualität Ausdruck des Bewußtseins ist, vergehen bei Brodkey zwischen dem ersten geöffneten Hosenknopf und dem zweiten rund vierzig Seiten. Bevor man an den dritten denken kann, ist das Kapitel zu Ende. Dasselbe gilt für Hemd- und Blusenknöpfe. So wird "Die flüchtige Seele", die unentwegt von Sexualität handelt, unter der Last der Gedanken zu einem Buch von exhibitionistischer Keuschheit.
Daß Wiley nach einer persönlichen Moral sucht, die ohne Vorbilder auskommen will, ohne Ort, Tradition und gesellschaftliche Bindung, hat man indessen schnell begriffen. Fraglich ist, ob sich radikale Vereinzelung so in einen Text verwandeln läßt, wie Brodkey es hier versucht. Kaum auf dem Papier, geraten Wileys Überlegungen in eine gigantische Umwälzanlage voller Einwände, Hypothesen und Modifikationen - das Grundgeräusch des Romans. Dadurch bleiben die Figuren eigentümlich blaß, obwohl wir pausenlos von ihnen hören: Wir erfahren einfach zuwenig, um uns dauerhaft für sie zu interessieren.
Merkwürdigerweise scheinen die beeindruckenden Szenen im letzten Drittel des Romans - Lilas Sterbemonologe oder Nonies Angst während eines Gewitters - der Ich-Bezogenheit des Erzählers mühsam abgerungen. Doch selbst die Konstruktion eines von Haß und zwanghafter Bindung geprägten Bruder/Schwester-Romans, wie Brodkey sich "Die flüchtige Seele" dachte, droht durch Wileys ausufernde Reflexionen pulverisiert zu werden. Schaut auch nur der Zipfel einer faßbaren Situation aus der Textmaschine, wird er schon wieder fortgerissen und untergemischt.
Der schleichenden Auszehrung des Romans durch Abstraktion kann auch die Übersetzung von Angela Praesent nicht abhelfen; im Gegenteil. Nun wäre es ungerecht, an einer imponierenden Gesamtleistung herumzukritteln, die mit zwei Jahren gedankenreicher Arbeit wohl nicht zu hoch veranschlagt ist und für die es erfahrungsgemäß wenig Dank gibt. Verlag, Lektor und Übersetzerin verdienen Lob für die Betreuung Brodkeys; sie haben dafür gesorgt, daß die Rezeption dieses schwierigen Autors in Deutschland um einiges glücklicher verlief als in Amerika. An einigen Stellen wird die Lektüre aber durch Anglizismen und "falsche Freunde" stark erschwert - durch Begriffe und Sprachwendungen also, die wegen der Nähe zwischen Ausgangs- und Zielsprache dazu verführen, sie umstandslos so ins Deutsche zu bringen, wie sie im Englischen aufmarschieren. Leider finden sich die Fehler gehäuft gerade dort, wo das Gelände ohnehin etwas unwegsamer ist. Wo Brodkey mit enervierender Zähigkeit ein Theorem aufs andere stapelt, macht die Übersetzung die Sache noch dürrer und theoretischer. Man kann zweierlei Meinung darüber sein, ob finality nicht auch einmal "Endlichkeit" heißen dürfte statt "Finalität", ob fragments nicht besser mit "Bruchstücke" und miracle nicht besser mit "Wunder" wiedergegeben wäre. Doch irgendwann schleicht sich ein Seminarton ein, der über die Wortwahl des Originals weit hinausgeht. Ständig heißt es "partiell" statt "teilweise", "piktoral" statt "bildhaft", "suburban" statt "vorstädtisch", "involviert" statt "verwickelt", und die moderne Schnecke hat kein tragbares, sondern ein transportables Häuschen auf dem Rücken. A classroom idea ist sicher keine "populärwissenschaftliche Vorstellung", sondern die gute alte "Schulbuchweisheit". Ziemlich scheußlich ist auch "intrinsisch" (intrinsic), was aber von "unambiguös" noch übertroffen wird (unambiguous, unzweideutig). Man darf es der Sprache nicht verdenken, daß sie mit einem kleinen Wortmonster wie "legitimisiert" (legitimized) grausame Rache nimmt.
Daneben vertraut die Übersetzung auf einen vulgärpsychologischen Jargon, der Brodkey schlecht bekommt. But I want to give what I am, heißt es denkbar schlicht im Original. In der deutschen Version: "Doch ich möchte mich einbringen, wie ich bin." Wenn es von jemandem heißt, er müsse um etwas kämpfen (to struggle), muß er sich auf deutsch "Akzeptanz erkämpfen". Auch mit dem Wortsinn ist es nicht immer zum besten bestellt. Wiley beschreibt seinen Cousin Daniel als appallingly handsome, was nichts mit Appeal zu tun hat, sondern mit Widerwillen und Ekel. Im Deutschen lesen wir die überraschende Mitteilung, der Cousin sehe "unheimlich gut aus".
Mag sein, daß diese Einwände wenig zählen für jene, die sich dem Roman ausliefern. Bei Brodkey weiß man genauer, warum man liest, als bei der belletristischen Ware der Saison. Jetzt, fünf Wochen nach seinem Tod, den er sich seit seiner Aids-Erkrankung im Jahr 1993 in mehreren Essays vorgestellt, den er kommentiert und gedeutet hat, ist der Blick auf alle Teile seines Werks freigegeben, ohne daß die Brodkey-Legende ständig miterzählt werden müßte. Zu korrigieren wäre allerdings manches, etwa die Rede von den märchenhaften Vorschüssen, die er für die "Flüchtige Seele" von wechselnden Verlagen seit den sechziger Jahren erhalten haben soll.
Die Verwertungsbedingungen des amerikanischen Buchmarktes sind es auch, die Harold Brodkey fast wie eine mittelalterliche Erscheinung wirken lassen. Als er mit sechsundzwanzig, nach dem Erzählband "Erste Liebe und andere Sorgen" (1958), die übliche Laufbahn hätte einschlagen können, zog er sich zurück, vertraute seinem Eigensinn und hob sich gleichsam selbst aus der Literaturgeschichte. Die letzte Seite der "Flüchtigen Seele" stellt eine Fortsetzung in Aussicht, die nicht mehr geschrieben wurde. Sie hätte von der Zeit nach Nonies Tod handeln sollen. "Doch laßt uns einen Moment lang innehalten", lauten die Zeilen, mit denen Wiley Silenowicz schließt. "Laßt uns still sein. Oder lassen Sie vielmehr mich... eine Weile schweigen."
Harold Brodkey: "Die flüchtige Seele". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Angela Praesent. Rowohlt Verlag, Reinbek 1995. 1343 Seiten, geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Große Romankunst des 20. Jahrhunderts. Frankfurter Rundschau