Seit Otto Schily ein Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika vorgeschlagen hat, ist eine heftige Debatte um die europäische Flüchtlingspolitik entbrannt. Rupert Neudeck liefert alle Informationen, um sich ein eigenes Urteil zu diesem Thema zu bilden. Er zeigt, wo Asylpolitik und Entwicklungshilfe den Menschen helfen und wo sie versagen. Dabei beantwortet er Fragen, die viele Menschen kaum zu stellen wagen, um nicht als ausländerfeindlich zu gelten: Soll jeder Flüchtling nach Europa kommen dürfen? Verkraften die hiesigen Sozialsysteme noch mehr Menschen aus anderen Ländern? Neudeck entwirft eine Politik, die Flüchtlingen hilft, aber die Interessen der Länder, die sie aufnehmen sollen, nicht aus dem Auge verliert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2005"Wir haben nichts im Griff"
Rupert Neudecks Abrechnung mit der deutschen Asylpolitik
Rupert Neudeck: "Die Flüchtlinge kommen". Warum sich unsere Asylpolitik ändern muß. Verlag Diederichs/H. Hugendubel, München 2005. 252 Seiten, 19,95 [Euro].
"Schuldbewußtsein" - zitiert der Geopolitiker der Humanität Rupert Neudeck nun die türkisch-deutsche Soziologin Necla Kelek - "scheint hierzulande wichtiger zu sein als die Verteidigung der Verfassung." In der deutschen Migrations- und Entwicklungspolitik ist dies belegt. Seinen Prüfbericht über den Murks am Bau der guten Werke und ihrer sedimentären Statik beschließt Neudeck: "Wir haben nichts im Griff." Längst hätten auch in der Frage der Zuwanderung Parteien und Politiker "das Ohr nicht mehr am Volk". Mut zu strategischer Entschiedenheit müsse wohlmeinende Allerweltspolitik ablösen. Ein Staatssekretär hatte Neudeck geraten, Menschen zu retten - aber nicht zu viele.
Die Staatsvernunft des Machbaren muß aus Zeitgeistfallen heraus. Ist doch Deutschlands soziale Würde in Gefahr. Einmal bedroht durch die Angst bei uns, zu bloßen Jetons der Global Players zu werden. Zum anderen aus Sorge, bei Massenarbeitslosigkeit, Staatsbankrott und Integrationsversagen die Migrantenflut überhaupt nicht mehr eindeichen zu können. Nach Schätzung Klaus Töpfers (UN-Unep) in Nairobi bewegt sich ein Treck von zirka 18 Millionen Afrikanern Richtung Norden. Für Neudeck ist zudem die Kiewer Visaaffäre ein Indiz für zunehmende Migration von Ost nach West.
Bleiben wäre für viele Afrikaner Selbstmord. Neudeck dokumentiert Korruptionsskandale und Herrschaftswillkür von Diktatoren, Warlords und Clans. Um so bitterer stimmt Neudeck der Illusionismus der EU-Geldgeber bei ihren Projektkontrollen in Afrika. Mit Luxusbetreuung und Kulissenzauber würden die Delegationen geleimt. Besonders werden Joschka Fischer, Frau Wieczorek-Zeul, Günter Verheugen und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit ("ein Monstrum") gezaust. Den Schuldenerlaß von 55 Milliarden Dollar (G-8-Gipfel in Köln) für achtzehn der ärmsten Länder nutzte man dort teilweise für neue Rüstungskäufe. Beklemmend wirken die Beispiele verpfuschter Armutsbekämpfung und einer streuenden Entwicklungspolitik, die Neudeck als "zerhackt" bezeichnet: "Denn für solche Fragen muß man Herz haben und nicht nur Verstand."
Innenpolitisch hapert es bei uns an beidem. Statt "mit gelassenem Stolz" die Eigeninteressen eines Rechts- und Sozialstaates zu behaupten, gebe es zuviel an "Multikulti-Rührseligkeit". So erlaubte man Zuwanderern, Deutschkursen auszuweichen und in Selbstisolation Gegenkulturen zur Lebenswelt zu verfestigen. Das Selbstverständliche zeigt sich blockiert: "Die Beherrschung der deutschen Sprache wird die entscheidende Voraussetzung für jede Art von Integration sein." Als positives Beispiel sieht Neudeck die Integration der 50 000 Vietnamesen. Sie hätten - ohne sich selbst zu veruntreuen - schnell Deutsch erlernt und wollten nicht ausgehalten werden. Ein junger Vietnamese, den einst die "Cap Anamur" rettete, erhielt 2004 eines von drei begehrten Harvard-Stipendien für Abiturienten aus Deutschland. Auch Eritreer und Afghanen stellt Neudeck als Beispiele gelungener Integration vor.
Neudeck geht es nicht um Meisterpläne, sondern um Optimierung des Mitteleinsatzes für praktische und stabile Solidarität. Dafür fordert er die Bildung eines Korps von "Migrantenstewards", die Fremde heimischer machen, indem man auf Zeit mit ihnen zusammenlebt, sich zuvor mit ihrer Tradition und Lebensweise vertraut gemacht hat. Zugleich hätten alle Reformen bei einer ehrlichen, nicht schöngeredeten Konstellationsanalyse von Verteilungsstress, ethnischer Separierung, der Spaltung in Gruppen mit und ohne Nachkommen sowie bei der Arbeitsmarktlage anzusetzen. Entsprechend fordert Neudeck eine Kontingentierung auf bedarfsorientiert ausgesuchte 20 000 Zuwanderer pro Jahr, ausnahmsweise maximal 40 000.
Doch solch mühsam behauptete Staatsvernunft unterliegt dann doch wieder Neudecks Welterbarmen. Denn man müsse allen Menschen in Not helfen. Und auch die Illegalen amnestieren. Zumal der Personalbedarf im Gaststättengewerbe, vor allem bei den Pflegediensten steige.
Seinem Fazit zur Denkökonomie gestundeter Katastrophen hält Neudeck selber stand mit einem Wort Václav Havels, welches das Buch beschließt: "Hoffnung ist eben nicht Optimismus. Es ist nicht die Überzeugung, daß etwas gut ausgeht, sondern die Gewißheit, daß etwas Sinn hat, ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht." Neudecks Buch mahnt, die Frage nach deutscher Integrationskraft und deutscher Staatsräson nicht wie Schierlingsbecher durch Ressorts zu schieben. Unter anderem deshalb nicht, weil - so Marieluise Beck, die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration - "faktisch die Integrationsdebatte eine Islamdebatte geworden ist".
MANFRED FUNKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rupert Neudecks Abrechnung mit der deutschen Asylpolitik
Rupert Neudeck: "Die Flüchtlinge kommen". Warum sich unsere Asylpolitik ändern muß. Verlag Diederichs/H. Hugendubel, München 2005. 252 Seiten, 19,95 [Euro].
"Schuldbewußtsein" - zitiert der Geopolitiker der Humanität Rupert Neudeck nun die türkisch-deutsche Soziologin Necla Kelek - "scheint hierzulande wichtiger zu sein als die Verteidigung der Verfassung." In der deutschen Migrations- und Entwicklungspolitik ist dies belegt. Seinen Prüfbericht über den Murks am Bau der guten Werke und ihrer sedimentären Statik beschließt Neudeck: "Wir haben nichts im Griff." Längst hätten auch in der Frage der Zuwanderung Parteien und Politiker "das Ohr nicht mehr am Volk". Mut zu strategischer Entschiedenheit müsse wohlmeinende Allerweltspolitik ablösen. Ein Staatssekretär hatte Neudeck geraten, Menschen zu retten - aber nicht zu viele.
Die Staatsvernunft des Machbaren muß aus Zeitgeistfallen heraus. Ist doch Deutschlands soziale Würde in Gefahr. Einmal bedroht durch die Angst bei uns, zu bloßen Jetons der Global Players zu werden. Zum anderen aus Sorge, bei Massenarbeitslosigkeit, Staatsbankrott und Integrationsversagen die Migrantenflut überhaupt nicht mehr eindeichen zu können. Nach Schätzung Klaus Töpfers (UN-Unep) in Nairobi bewegt sich ein Treck von zirka 18 Millionen Afrikanern Richtung Norden. Für Neudeck ist zudem die Kiewer Visaaffäre ein Indiz für zunehmende Migration von Ost nach West.
Bleiben wäre für viele Afrikaner Selbstmord. Neudeck dokumentiert Korruptionsskandale und Herrschaftswillkür von Diktatoren, Warlords und Clans. Um so bitterer stimmt Neudeck der Illusionismus der EU-Geldgeber bei ihren Projektkontrollen in Afrika. Mit Luxusbetreuung und Kulissenzauber würden die Delegationen geleimt. Besonders werden Joschka Fischer, Frau Wieczorek-Zeul, Günter Verheugen und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit ("ein Monstrum") gezaust. Den Schuldenerlaß von 55 Milliarden Dollar (G-8-Gipfel in Köln) für achtzehn der ärmsten Länder nutzte man dort teilweise für neue Rüstungskäufe. Beklemmend wirken die Beispiele verpfuschter Armutsbekämpfung und einer streuenden Entwicklungspolitik, die Neudeck als "zerhackt" bezeichnet: "Denn für solche Fragen muß man Herz haben und nicht nur Verstand."
Innenpolitisch hapert es bei uns an beidem. Statt "mit gelassenem Stolz" die Eigeninteressen eines Rechts- und Sozialstaates zu behaupten, gebe es zuviel an "Multikulti-Rührseligkeit". So erlaubte man Zuwanderern, Deutschkursen auszuweichen und in Selbstisolation Gegenkulturen zur Lebenswelt zu verfestigen. Das Selbstverständliche zeigt sich blockiert: "Die Beherrschung der deutschen Sprache wird die entscheidende Voraussetzung für jede Art von Integration sein." Als positives Beispiel sieht Neudeck die Integration der 50 000 Vietnamesen. Sie hätten - ohne sich selbst zu veruntreuen - schnell Deutsch erlernt und wollten nicht ausgehalten werden. Ein junger Vietnamese, den einst die "Cap Anamur" rettete, erhielt 2004 eines von drei begehrten Harvard-Stipendien für Abiturienten aus Deutschland. Auch Eritreer und Afghanen stellt Neudeck als Beispiele gelungener Integration vor.
Neudeck geht es nicht um Meisterpläne, sondern um Optimierung des Mitteleinsatzes für praktische und stabile Solidarität. Dafür fordert er die Bildung eines Korps von "Migrantenstewards", die Fremde heimischer machen, indem man auf Zeit mit ihnen zusammenlebt, sich zuvor mit ihrer Tradition und Lebensweise vertraut gemacht hat. Zugleich hätten alle Reformen bei einer ehrlichen, nicht schöngeredeten Konstellationsanalyse von Verteilungsstress, ethnischer Separierung, der Spaltung in Gruppen mit und ohne Nachkommen sowie bei der Arbeitsmarktlage anzusetzen. Entsprechend fordert Neudeck eine Kontingentierung auf bedarfsorientiert ausgesuchte 20 000 Zuwanderer pro Jahr, ausnahmsweise maximal 40 000.
Doch solch mühsam behauptete Staatsvernunft unterliegt dann doch wieder Neudecks Welterbarmen. Denn man müsse allen Menschen in Not helfen. Und auch die Illegalen amnestieren. Zumal der Personalbedarf im Gaststättengewerbe, vor allem bei den Pflegediensten steige.
Seinem Fazit zur Denkökonomie gestundeter Katastrophen hält Neudeck selber stand mit einem Wort Václav Havels, welches das Buch beschließt: "Hoffnung ist eben nicht Optimismus. Es ist nicht die Überzeugung, daß etwas gut ausgeht, sondern die Gewißheit, daß etwas Sinn hat, ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht." Neudecks Buch mahnt, die Frage nach deutscher Integrationskraft und deutscher Staatsräson nicht wie Schierlingsbecher durch Ressorts zu schieben. Unter anderem deshalb nicht, weil - so Marieluise Beck, die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration - "faktisch die Integrationsdebatte eine Islamdebatte geworden ist".
MANFRED FUNKE
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "Prüfbericht über den Murks am Bau der guten Werke und ihrer sedimentären Statik" lobt Rezensent Manfred Funke diese Studie über Missstände in der deutschen Asylpolitik. Funke zufolge kritisiert Rupert Neudeck darin, dass die Asylpolitik weniger um Realitäten als um die Pflege des notorischen deutschen Schuldgefühls besorgt ist. Diesem Kontext seien wirtschaftliche Interessen ebenso untergeordnet, wie die Verteidigung der Verfassung. Zur Klärung des Blicks sieht der Rezensent Neudeck Korruptionsskandale und Herrschaftswillkür von Diktatoren, Warlords und Clans ebenso dokumentieren, wie die Umleitung von Entwicklungshilfe in Waffenkäufe. Die Möglichkeiten von Zuwanderern, sich sämtlichen Integrationsangeboten des Staates zu entziehen, wird Funke zufolge gegeißelt, wie der Illusionismus von EU-Geldgebern bei Projektkontrollen in Afrika, wo sie mit Kulissenzauber und Luxusbetreuung um die Klarsicht gebracht würden. Neudeck plädiere deswegen gegen "Multikulti-Rührseligkeit" und für Optimierung der Mitteleinsätze, bedarfsorientierte Flüchtlingskontingentierung, Stärkung deutscher Integrationskraft und Staatsräson.
© Perlentaucher Medien GmbH
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