"Es war das Jahr des Herrn 1989. Die Menschen hörten von Kriegen und von Aufständen, doch sie ängstigten sich nicht, denn das alles musste sich ereignen." So beginnt der Roman "Die Flügel" des Autors Cartarescu aus Rumänien, das Finale der "Orbitor"-Trilogie. Hintergrund bildet die Wandlung der Gesellschaft während der Revolution in Bukarest. Auf den Straßen spielen sich tumultartige Szenen ab, in der Wohnung des Ich-Erzählers läuft tagein, tagaus der Fernseher, und er taucht ein in die Geschichten seiner Vorfahren. So entsteht ein Kaleidoskop von Bewusstseinssplittern - und eines der großartigsten, exzessivsten Werke der Weltliteratur.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.09.2014Ceauşescus Schmetterling
Illusionisten, Akrobaten und Pulloverträger tanzen um die Statuen des Diktators: Mit dem
Roman „Die Flügel“ schließt der rumänische Autor Mircea Cărtărescu seine „Orbitor“-Trilogie ab
VON JÖRG MAGENAU
Monströs ist dieses Buch und unlesbar. Das sagt der Autor selbst, der sich darin vorkommen lässt, als der, der es schreibt. Mal tritt er in der Stipendieneinsamkeit von Schloss Solitude auf, mal in der U-Bahn von Bukarest, wo er sein Manuskript auf den Knien hält und mit Kugelschreiber Seite um Seite füllt. Er schreibt ekstatisch, mit Rückenmark, Hirn und Hoden, und so heftig, dass die Buchstaben durchdrücken aufs nächste Blatt.
Dieser Durchschlag der Zeichen erscheint ihm als passendes Bild für das Verstreichen der Zeit, deren Vergangenheitsspuren sich in Gegenwart und Zukunft einprägen. Alles ist gleichzeitig da. Alles ist Text. Also müsste auch in diesem unlesbaren, monströsen Buch alles, was ist, enthalten sein und alle Zeiten zugleich ablaufen, so wie im ultimativen Buch vom Anfang und Ende der Zeiten, das mit der Apokalypse nur deshalb endet, weil jedes Buch irgendwo enden muss.
Man kommt rasch außer Atem, wenn man „Die Flügel“ von Mircea Cărtărescu lesen will. Der rumänische Autor, 1956 in Bukarest geboren, hat sich sehr viel vorgenommen in diesem abschließenden Teil seiner „Orbitor“-Trilogie. So überbordend und vollgestopft ist dieses dicke Buch, dass man sich gar nicht vorstellen kann, was in den ersten beiden Bänden eigentlich gewesen sein soll, was nicht hier noch einmal, immer noch, immer wieder ausgebreitet werden würde. Mircea schreibt über Mircea, über seine Herkunft aus der Ursuppe vor Milliarden Jahren, über die seltsamen Wege, die Proteinsubstanzen seit der Erfindung des Lebens gegangen sind, über Rumänien oder diesen Landstrich, der heute so heißt, über seine Familie und Kindheit, über Frauen, Körper, Geschlechtsteile und das Leben unter Ceauşescu bis zum trostlosen Ende des Diktators im Kugelhagel der Milizionäre, die, selber schlotternd vor Angst, ihn nur erschießen, weil sie fürchten, er könnte ansonsten zurückkehren und sie für ihren Ungehorsam bestrafen. Vater unser!
1978 veröffentlichte Cărtărescu erste Gedichte. Er gehört zu der rumänischen Dichtergeneration, die sich in den finsteren Achtzigerjahren in kleinen Zirkeln abseits der Öffentlichkeit versammelte. Unter der Parole „Die Poesie steigt hinab in die Straße“ vertraten sie eine Alltagspoesie, die mit den formelhaften Versatzstücken des sogenannten sozialistischen Realismus nichts zu tun hatte. Die Sprachschablonen der Ideologie sollten durch die unverfälschte Wirklichkeit ersetzt werden.
Das war kein politisches Programm, sondern eine Illusion jugendlichen Sturm und Drangs. Umso mehr nervte nach der Wende die Festlegung aufs Dissidententum. Cărtărescu musste erfahren, im westlichen Europa weniger mit seinen Gedichten, als mit seiner Herkunft Eindruck zu machen. Dissidenz, Zensur, Staatssicherheit waren die Fragen, die ihm bis zum Überdruss gestellt wurden. Und was früher, in der abgeschlossenen Welt des Sozialismus, so bedeutend und einzigartig und ja auch schon widerständig war: das eigene Ich – ging nun verloren in einer Welt, in der alles möglich zu sein schien.
Also kehrt er in seiner Roman-Trilogie in die heroische Zeit des Dichtens und Trachtens zurück, wo das Wort noch Systeme erschütterte, und imaginiert sich als allmächtigen Autor, der die Welt in der Sprache erschafft, Satz für Satz ad infinitum. Die Herkunft von der Lyrik ist dabei unverkennbar. Für Cărtărescu gelten im Erzählen nicht die Gesetze der Logik oder der Kausalität, sondern der traumhaft-wahnhafte Rausch, in dem alles möglich ist, weil alle Grenzen sich auflösen.
Starke Momente entstehen immer dann, wenn er das konkrete Erleben nicht ganz aus den Augen verliert. Das Schlangestehen nach Brot im Dezember 1989 erinnert in der Eindrücklichkeit, in der da das Murren der Menge, ihre Willenlosigkeit und ihr Opportunismus beschrieben werden, an eine ähnliche Szene in Péter Nádas’ „Parallelgeschichten“ aus Budapest im Jahr 1956. Auch die Allgegenwart des Sexuellen, der Körper und ihrer pulsierenden, gierigen Geschlechtlichkeit ist Nádas vergleichbar, bei Cărtărescu jedoch viel hässlicher, roher, liebloser. Sein Blick auf Frauen lässt zwischen Marienfiguren und Huren nur wenige Abstufungen zu. Die exzessive Fixierung aufs Geschlechtliche ermüdet jedoch auf Dauer.
Was in diesem Roman geschieht, lässt sich bei Tageslicht kaum nacherzählen. Ceauşescu in zwölffacher Ausführung mit all seinen Doppelgängern – das ist ja noch purer Realismus. Doch wenn in Ceauşescu wie ein Schmetterling in der Puppe ein 13. Diktator heranreift und schließlich hervorbricht, wundert man sich schon lange über gar nichts mehr. Der Schmetterling als Sinnbild der Seele und der Vergänglichkeit spielt eine zentrale Rolle: Am Ende sind es die Statuen Bukarests, die sich nach der sogenannten Revolution im sogenannten Haus des Volkes versammeln, wo aus jeder von ihnen ein Schmetterling entsteht, während die Statuenreste wie Kokonhüllen als Trümmer zurückbleiben.
Ansonsten: ein Mann, in dessen Kopf ein Fötus heranreift, vielleicht als Sinnbild für die neue Zeit. Eine zehn Meter große Frau in folkloristischer Bauernbluse als Allegorie des revolutionären Rumäniens, die dem Bild von Constantin David Rosenthal im Nationalmuseum entsprungen ist und die, in einer wüsten Szene, von all den kleinen Revolutionären wie einst Gulliver im Reich der Liliputaner beklettert und begrapscht wird, bis sie in dem riesigen Geschlecht wie in einer Höhle verschwinden.
„Die Flügel“ ist voll mit Bildern wie diesen. Aber stark ist der Roman nur dann, wenn er den Versuchungen des Symbolismus und der Verfremdung ins Surreale widersteht. Wenn da zum Beispiel ein Securitate-Mann seitenlang vor sich hin räsoniert und mit seinen Kollegen die Vor- und Nachteile verschiedener Foltermethoden aufs sachlichste erörtert, öffnet sich der Blick in den Abgrund der menschlichen Seele. Und die Ahnungslosigkeit, in der die aus dem Zirkus entsprungenen Revolutionäre des Dezember 1989 (Illusionisten, Akrobaten, Pulloverträger) nicht handeln, sondern bloß getrieben sind vom Augenblick, lässt ahnen, wie absurd geschichtliche Abläufe manchmal funktionieren.
Doch da liegt auch das grundsätzliche Problem dieses Blicks auf die Welt, dem das Kosmische, das Sein und der große Strom des Lebens näher liegen als die Auseinandersetzung mit den momenthaften Details. „Diese Blätter sind das sinnlose Tagebuch meines Umherirrens. Sie erzählen nicht mehr die Geschichte Mirceas, sondern lediglich die Geschichte seines in die Geschichte abgestürzten Daseins.“ Doch ein anderes Dasein kann es nun mal nicht geben, jedenfalls keines, von dem sich erzählen ließe. So bleiben nur der Fatalismus und die Gefahr, dass bei allem Reichtum der Phantasie, bei aller Verschwendungslust der Sprache doch alles einerlei ist.
„Wir müssen die Geschichte aufgeben wie eine anmaßende, traurige und hohle Erzählung“, sagt der Mann mit dem Fötus im Gehirn. Vielleicht stellte sich das 1989 für osteuropäische Intellektuelle so dar, die es satthatten, Geschichte als notwendigen Fortschritt hin zum Besseren und zum Kommunismus herunterbeten zu sollen. Da mag es eine Befreiung gewesen sein zu entdecken, dass der Mensch nicht im Mittelpunkt der Geschichte steht, so wie er auch die Zentralstellung im Sonnensystem und in der Galaxie längst verloren hat. „Wir sind von einer unbekannten Macht auf die Erde gepfropft worden, die am Ende der Zeiten kommen wird, um ihren Acker abzumähen.“
Bis dahin aber setzt Cărtărescu den Schriftsteller als Schöpfer des Universums ein. Alles was ist, ist Text, sagt er in guter alter postmoderner Tradition. Das Leben ist „Texistenz“, das „Manuskript ist die Welt“ oder zumindest „das Innenfutter der Wirklichkeit“. Schon deshalb muss er immer weiterschreiben, immer hitzigere Albträume produzieren nach Götterart. Das Universum als unlesbarer, monströser Roman: unmöglich, ihm dorthin zu folgen.
Ist der Mann, in dessen Kopf
ein Fötus heranreift, ein
Sinnbild der neuen Zeit?
Vor der Fontäne, nach dem Sozialismus: Eine junge Frau balanciert auf dem Brunnenrand, im Hintergrund das Parlament, erbaut in der Ära Ceauşescu als „Haus des Volkes“ und Monument der Macht in der Hauptstadt Bukarest.
Foto: AFP
Mircea Cărtărescu: Die Flügel. Roman. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014. 672 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Illusionisten, Akrobaten und Pulloverträger tanzen um die Statuen des Diktators: Mit dem
Roman „Die Flügel“ schließt der rumänische Autor Mircea Cărtărescu seine „Orbitor“-Trilogie ab
VON JÖRG MAGENAU
Monströs ist dieses Buch und unlesbar. Das sagt der Autor selbst, der sich darin vorkommen lässt, als der, der es schreibt. Mal tritt er in der Stipendieneinsamkeit von Schloss Solitude auf, mal in der U-Bahn von Bukarest, wo er sein Manuskript auf den Knien hält und mit Kugelschreiber Seite um Seite füllt. Er schreibt ekstatisch, mit Rückenmark, Hirn und Hoden, und so heftig, dass die Buchstaben durchdrücken aufs nächste Blatt.
Dieser Durchschlag der Zeichen erscheint ihm als passendes Bild für das Verstreichen der Zeit, deren Vergangenheitsspuren sich in Gegenwart und Zukunft einprägen. Alles ist gleichzeitig da. Alles ist Text. Also müsste auch in diesem unlesbaren, monströsen Buch alles, was ist, enthalten sein und alle Zeiten zugleich ablaufen, so wie im ultimativen Buch vom Anfang und Ende der Zeiten, das mit der Apokalypse nur deshalb endet, weil jedes Buch irgendwo enden muss.
Man kommt rasch außer Atem, wenn man „Die Flügel“ von Mircea Cărtărescu lesen will. Der rumänische Autor, 1956 in Bukarest geboren, hat sich sehr viel vorgenommen in diesem abschließenden Teil seiner „Orbitor“-Trilogie. So überbordend und vollgestopft ist dieses dicke Buch, dass man sich gar nicht vorstellen kann, was in den ersten beiden Bänden eigentlich gewesen sein soll, was nicht hier noch einmal, immer noch, immer wieder ausgebreitet werden würde. Mircea schreibt über Mircea, über seine Herkunft aus der Ursuppe vor Milliarden Jahren, über die seltsamen Wege, die Proteinsubstanzen seit der Erfindung des Lebens gegangen sind, über Rumänien oder diesen Landstrich, der heute so heißt, über seine Familie und Kindheit, über Frauen, Körper, Geschlechtsteile und das Leben unter Ceauşescu bis zum trostlosen Ende des Diktators im Kugelhagel der Milizionäre, die, selber schlotternd vor Angst, ihn nur erschießen, weil sie fürchten, er könnte ansonsten zurückkehren und sie für ihren Ungehorsam bestrafen. Vater unser!
1978 veröffentlichte Cărtărescu erste Gedichte. Er gehört zu der rumänischen Dichtergeneration, die sich in den finsteren Achtzigerjahren in kleinen Zirkeln abseits der Öffentlichkeit versammelte. Unter der Parole „Die Poesie steigt hinab in die Straße“ vertraten sie eine Alltagspoesie, die mit den formelhaften Versatzstücken des sogenannten sozialistischen Realismus nichts zu tun hatte. Die Sprachschablonen der Ideologie sollten durch die unverfälschte Wirklichkeit ersetzt werden.
Das war kein politisches Programm, sondern eine Illusion jugendlichen Sturm und Drangs. Umso mehr nervte nach der Wende die Festlegung aufs Dissidententum. Cărtărescu musste erfahren, im westlichen Europa weniger mit seinen Gedichten, als mit seiner Herkunft Eindruck zu machen. Dissidenz, Zensur, Staatssicherheit waren die Fragen, die ihm bis zum Überdruss gestellt wurden. Und was früher, in der abgeschlossenen Welt des Sozialismus, so bedeutend und einzigartig und ja auch schon widerständig war: das eigene Ich – ging nun verloren in einer Welt, in der alles möglich zu sein schien.
Also kehrt er in seiner Roman-Trilogie in die heroische Zeit des Dichtens und Trachtens zurück, wo das Wort noch Systeme erschütterte, und imaginiert sich als allmächtigen Autor, der die Welt in der Sprache erschafft, Satz für Satz ad infinitum. Die Herkunft von der Lyrik ist dabei unverkennbar. Für Cărtărescu gelten im Erzählen nicht die Gesetze der Logik oder der Kausalität, sondern der traumhaft-wahnhafte Rausch, in dem alles möglich ist, weil alle Grenzen sich auflösen.
Starke Momente entstehen immer dann, wenn er das konkrete Erleben nicht ganz aus den Augen verliert. Das Schlangestehen nach Brot im Dezember 1989 erinnert in der Eindrücklichkeit, in der da das Murren der Menge, ihre Willenlosigkeit und ihr Opportunismus beschrieben werden, an eine ähnliche Szene in Péter Nádas’ „Parallelgeschichten“ aus Budapest im Jahr 1956. Auch die Allgegenwart des Sexuellen, der Körper und ihrer pulsierenden, gierigen Geschlechtlichkeit ist Nádas vergleichbar, bei Cărtărescu jedoch viel hässlicher, roher, liebloser. Sein Blick auf Frauen lässt zwischen Marienfiguren und Huren nur wenige Abstufungen zu. Die exzessive Fixierung aufs Geschlechtliche ermüdet jedoch auf Dauer.
Was in diesem Roman geschieht, lässt sich bei Tageslicht kaum nacherzählen. Ceauşescu in zwölffacher Ausführung mit all seinen Doppelgängern – das ist ja noch purer Realismus. Doch wenn in Ceauşescu wie ein Schmetterling in der Puppe ein 13. Diktator heranreift und schließlich hervorbricht, wundert man sich schon lange über gar nichts mehr. Der Schmetterling als Sinnbild der Seele und der Vergänglichkeit spielt eine zentrale Rolle: Am Ende sind es die Statuen Bukarests, die sich nach der sogenannten Revolution im sogenannten Haus des Volkes versammeln, wo aus jeder von ihnen ein Schmetterling entsteht, während die Statuenreste wie Kokonhüllen als Trümmer zurückbleiben.
Ansonsten: ein Mann, in dessen Kopf ein Fötus heranreift, vielleicht als Sinnbild für die neue Zeit. Eine zehn Meter große Frau in folkloristischer Bauernbluse als Allegorie des revolutionären Rumäniens, die dem Bild von Constantin David Rosenthal im Nationalmuseum entsprungen ist und die, in einer wüsten Szene, von all den kleinen Revolutionären wie einst Gulliver im Reich der Liliputaner beklettert und begrapscht wird, bis sie in dem riesigen Geschlecht wie in einer Höhle verschwinden.
„Die Flügel“ ist voll mit Bildern wie diesen. Aber stark ist der Roman nur dann, wenn er den Versuchungen des Symbolismus und der Verfremdung ins Surreale widersteht. Wenn da zum Beispiel ein Securitate-Mann seitenlang vor sich hin räsoniert und mit seinen Kollegen die Vor- und Nachteile verschiedener Foltermethoden aufs sachlichste erörtert, öffnet sich der Blick in den Abgrund der menschlichen Seele. Und die Ahnungslosigkeit, in der die aus dem Zirkus entsprungenen Revolutionäre des Dezember 1989 (Illusionisten, Akrobaten, Pulloverträger) nicht handeln, sondern bloß getrieben sind vom Augenblick, lässt ahnen, wie absurd geschichtliche Abläufe manchmal funktionieren.
Doch da liegt auch das grundsätzliche Problem dieses Blicks auf die Welt, dem das Kosmische, das Sein und der große Strom des Lebens näher liegen als die Auseinandersetzung mit den momenthaften Details. „Diese Blätter sind das sinnlose Tagebuch meines Umherirrens. Sie erzählen nicht mehr die Geschichte Mirceas, sondern lediglich die Geschichte seines in die Geschichte abgestürzten Daseins.“ Doch ein anderes Dasein kann es nun mal nicht geben, jedenfalls keines, von dem sich erzählen ließe. So bleiben nur der Fatalismus und die Gefahr, dass bei allem Reichtum der Phantasie, bei aller Verschwendungslust der Sprache doch alles einerlei ist.
„Wir müssen die Geschichte aufgeben wie eine anmaßende, traurige und hohle Erzählung“, sagt der Mann mit dem Fötus im Gehirn. Vielleicht stellte sich das 1989 für osteuropäische Intellektuelle so dar, die es satthatten, Geschichte als notwendigen Fortschritt hin zum Besseren und zum Kommunismus herunterbeten zu sollen. Da mag es eine Befreiung gewesen sein zu entdecken, dass der Mensch nicht im Mittelpunkt der Geschichte steht, so wie er auch die Zentralstellung im Sonnensystem und in der Galaxie längst verloren hat. „Wir sind von einer unbekannten Macht auf die Erde gepfropft worden, die am Ende der Zeiten kommen wird, um ihren Acker abzumähen.“
Bis dahin aber setzt Cărtărescu den Schriftsteller als Schöpfer des Universums ein. Alles was ist, ist Text, sagt er in guter alter postmoderner Tradition. Das Leben ist „Texistenz“, das „Manuskript ist die Welt“ oder zumindest „das Innenfutter der Wirklichkeit“. Schon deshalb muss er immer weiterschreiben, immer hitzigere Albträume produzieren nach Götterart. Das Universum als unlesbarer, monströser Roman: unmöglich, ihm dorthin zu folgen.
Ist der Mann, in dessen Kopf
ein Fötus heranreift, ein
Sinnbild der neuen Zeit?
Vor der Fontäne, nach dem Sozialismus: Eine junge Frau balanciert auf dem Brunnenrand, im Hintergrund das Parlament, erbaut in der Ära Ceauşescu als „Haus des Volkes“ und Monument der Macht in der Hauptstadt Bukarest.
Foto: AFP
Mircea Cărtărescu: Die Flügel. Roman. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014. 672 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Den dritten und letzten Band von Mircea Cartarescus Romantrilogie "Orbitor" liest Andreas Breitenstein mit Mühe zwar, aber auch mit Gewinn. Wie der Autor Ceausescus Schreckensherrschaft und ihr Scheitern in kosmische Dimensionen treibt und sich für seine pralle Darstellung bei Religion, Wissenschaft und Kulturgeschichte bedient, hat Breitenstein beeindruckt. Das vielstimmige Sprachspiel aus Ironie, Erkenntnis, Horror und Satire lässt den Rezensenten an Proust und Joyce denken, an Ionescu und Bruno Schulz, die Bibel und Dante. Überwältigt von der allegorischen Dichte und dem psychedelischen Manierismus der Visionen und Erinnerungen in diesem Buch kann der Rezensent nur staunen, wie unterhaltsam der Totalverzicht auf Erzählökonomie sein kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2014Landkarten des Schmerzes
Der rumänische Autor Mircea Cartarescu beschließt mit dem Roman "Die Flügel" seine Trilogie über die blutige Revolution in seiner Heimat im Jahr 1989.
Ein Embryo wächst im Schädel eines philosophierenden Säufers heran, der dreizehnte und grausamste Doppelgänger des Diktators in dessen Lunge. Die Stadt gleicht einem fahlen Tier mit abgeschürfter Haut und gebrochenen Rippen, deren Bewohner in Betonkäfigen hausen. In der gespenstigen Stille einer Revolutionsnacht werden die Statuen lebendig und steigen von ihren Sockeln herab. Eine Horde abgehalfterter Gaukler exekutiert die neue Macht und kürt eine Riesenfrau aus dem Zirkus zum Symbol des Aufstandes. In einer wüsten Fress- und Vergewaltigungsorgie im erstürmten Regierungspalast kriechen die Artisten in den Schoß ihrer Marianne, nachdem sie den greisen Tyrannen und seine Frau gefesselt und erschossen haben. Dieser hatte in seiner Gigantomanie den Palast des Volkes als größtes Gebäude der Welt errichten lassen. Wie ein gewaltiger Hagelbrocken war der Koloss auf die Stadt herabgestürzt und in ihrem zertrümmerten Märtyrerleib steckengeblieben. Jetzt wird der monströse Bau zur Bühne für ein Weltuntergangsspektakel, das sich im Jahr des Herrn 1989 zuträgt.
Mit dem siebenhundert Seiten starken Roman "Die Flügel" beschließt der 1956 in Bukarest geborene Dichter und Romancier Mircea Cartarescu seine Orbitor-Trilogie. Darin hatte er die Wirklichkeit zu einer bizarren, surrealen "Texistenz" verformt, mit einem Schreiben, das, wie er behauptet, für ihn Droge und Selbsterkenntnis zugleich sei. In seiner überbordenden Bildhaftigkeit und mäandernden Erzählstruktur, die biblische und alttestamentarische Motive, albtraumhaften Sequenzen aus dem Rumänien Ceausescus und schauermärchenhafte Phantasmen miteinander verstrickt, gleicht auch dieser jetzt auf Deutsch vorliegende, 2007 im Original erschienene Roman einem zu Worten zusammengeschmolzenen Triptychon von Hieronymus Bosch oder den düsteren Film-Allegorien Andrej Tarkowskijs. Um sich in diesem gespenstigen Irrgarten der Sprache zurechtzufinden, mag es ratsam erscheinen, sich beim Lesen am roten Strang des Erzählens festhalten.
Es geht, zumindest vordergründig, um die Revolution in Rumänien 1989. Wenn wir in diesen Wochen der friedlichen Umstürze vor fünfundzwanzig Jahren gedenken, wird leicht vergessen, dass das Jahr 1989 mit einem Blutbad auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens begann und an Weihnachten mit der Hinrichtung von Nicolae Ceausescu und seiner im Volk ebenso verhassten Frau Elena ein nicht minder blutiges Ende fand. Mehr als tausend rumänische Bürger waren zu diesem Zeitpunkt den Auseinandersetzungen zwischen Gegnern der Diktatur, Armee und der berüchtigten Securitate zum Opfer gefallen. Der rumänische Realsozialismus, das wissen wir auch aus den Werken Herta Müllers, bildet ein unerschöpfliches Reservoir für bitter-böse Kafkaesken. Im Roman "Die Flügel" nimmt der junge, noch bei den Eltern lebende Schriftsteller Mircea den Leser mit auf seine Wanderungen durch das durch Kälte und Hunger gepeinigte Bukarest. In den eigenen Erinnerungen und den Erzählungen seiner Eltern wird deutlich, wie sich Rumänien unter der Herrschaft des gelernten Schusters Ceausescu in ein europäisches Nordkorea verwandelte. Den Erinnerungen des Vaters, der sich aus einfachen Verhältnissen zum journalistischen Parteikader hocharbeitete und immer mehr den Glauben an den Kommunismus verlor, steht der Monolog eines Rentners und Spitzels gegenüber, der die sadomasochistischen Foltermethoden der Securitate beschreibt. Die ganze rumänische Wirklichkeit, schon das Spiel der Kinder auf den Straßen und in den Kellern der heruntergekommenen Neubausiedlungen, ist von Lüge und Machtexzessen geprägt, von seelischer wie körperlicher Verwahrlosung. Zum Ende hin wird ein über das ganze Buch hin schwebendes Geheimnis gelüftet, indem ein verloren geglaubter Zwillingsbruder des Erzählers auftaucht. Als Kind in Bukarest geraubt, führte der Weg dieses schmerzunempfindlichen Monsters über das Studio einer alten Domina in Amsterdam zu brutalen Orgien der Fremdenlegionäre bis hin zu Söldnertruppen der Islamisten.
Landkarten des Schmerzes vermessend, hatte er sich die "furchtbaren Hormone des Grauens in den Mittelpunkt des Herzens" gespritzt, um sich im revolutionsschwangeren Bukarest mit verwahrlosten Waisenknaben - den Opfern der größenwahnsinnigen Bevölkerungspolitik des Diktators - zu vergnügen und gleichzeitig seine verlorene Familie zu suchen.
Dieses Buch ist trotz seines kathartischen Endes nichts zur gemütlichen Kontemplation, es lässt sich nur als Parforceritt bewältigen. Der Autor erspart dem Leser nichts an menschlichen Abgründen. Hier werden Herzen herausgerissen und Leichen ausgeweidet, hier fließen Körperflüssigkeiten aller Art in kaum zu ertragenden Mengen, hier werden Wörter und Wortkaskaden ersonnen, die man nur mühsam in der Sprache verorten kann. Der Übersetzer Ferdinand Leupold hat ganze Arbeit geleistet bei diesem in sich verschachtelten Roman, der so grandios über zwei Ahnen de Autors erzählt, die in Bellagio im vorletzten Jahrhundert aufeinandertreffen, wie über Seidenraupen, in geschorene Frauenschädel eintätowierte Geheimnisse und Sehnsucht in malerischer Landschaft. Bei aller Sprach- und Erzählkunst grenzt die überbordende Lust am rauschhaften Exzess immer wieder auch an Kitsch.
SABINE BERKING.
Mircea Cartarescu: "Die Flügel". Roman. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leupold.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014, 670 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der rumänische Autor Mircea Cartarescu beschließt mit dem Roman "Die Flügel" seine Trilogie über die blutige Revolution in seiner Heimat im Jahr 1989.
Ein Embryo wächst im Schädel eines philosophierenden Säufers heran, der dreizehnte und grausamste Doppelgänger des Diktators in dessen Lunge. Die Stadt gleicht einem fahlen Tier mit abgeschürfter Haut und gebrochenen Rippen, deren Bewohner in Betonkäfigen hausen. In der gespenstigen Stille einer Revolutionsnacht werden die Statuen lebendig und steigen von ihren Sockeln herab. Eine Horde abgehalfterter Gaukler exekutiert die neue Macht und kürt eine Riesenfrau aus dem Zirkus zum Symbol des Aufstandes. In einer wüsten Fress- und Vergewaltigungsorgie im erstürmten Regierungspalast kriechen die Artisten in den Schoß ihrer Marianne, nachdem sie den greisen Tyrannen und seine Frau gefesselt und erschossen haben. Dieser hatte in seiner Gigantomanie den Palast des Volkes als größtes Gebäude der Welt errichten lassen. Wie ein gewaltiger Hagelbrocken war der Koloss auf die Stadt herabgestürzt und in ihrem zertrümmerten Märtyrerleib steckengeblieben. Jetzt wird der monströse Bau zur Bühne für ein Weltuntergangsspektakel, das sich im Jahr des Herrn 1989 zuträgt.
Mit dem siebenhundert Seiten starken Roman "Die Flügel" beschließt der 1956 in Bukarest geborene Dichter und Romancier Mircea Cartarescu seine Orbitor-Trilogie. Darin hatte er die Wirklichkeit zu einer bizarren, surrealen "Texistenz" verformt, mit einem Schreiben, das, wie er behauptet, für ihn Droge und Selbsterkenntnis zugleich sei. In seiner überbordenden Bildhaftigkeit und mäandernden Erzählstruktur, die biblische und alttestamentarische Motive, albtraumhaften Sequenzen aus dem Rumänien Ceausescus und schauermärchenhafte Phantasmen miteinander verstrickt, gleicht auch dieser jetzt auf Deutsch vorliegende, 2007 im Original erschienene Roman einem zu Worten zusammengeschmolzenen Triptychon von Hieronymus Bosch oder den düsteren Film-Allegorien Andrej Tarkowskijs. Um sich in diesem gespenstigen Irrgarten der Sprache zurechtzufinden, mag es ratsam erscheinen, sich beim Lesen am roten Strang des Erzählens festhalten.
Es geht, zumindest vordergründig, um die Revolution in Rumänien 1989. Wenn wir in diesen Wochen der friedlichen Umstürze vor fünfundzwanzig Jahren gedenken, wird leicht vergessen, dass das Jahr 1989 mit einem Blutbad auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens begann und an Weihnachten mit der Hinrichtung von Nicolae Ceausescu und seiner im Volk ebenso verhassten Frau Elena ein nicht minder blutiges Ende fand. Mehr als tausend rumänische Bürger waren zu diesem Zeitpunkt den Auseinandersetzungen zwischen Gegnern der Diktatur, Armee und der berüchtigten Securitate zum Opfer gefallen. Der rumänische Realsozialismus, das wissen wir auch aus den Werken Herta Müllers, bildet ein unerschöpfliches Reservoir für bitter-böse Kafkaesken. Im Roman "Die Flügel" nimmt der junge, noch bei den Eltern lebende Schriftsteller Mircea den Leser mit auf seine Wanderungen durch das durch Kälte und Hunger gepeinigte Bukarest. In den eigenen Erinnerungen und den Erzählungen seiner Eltern wird deutlich, wie sich Rumänien unter der Herrschaft des gelernten Schusters Ceausescu in ein europäisches Nordkorea verwandelte. Den Erinnerungen des Vaters, der sich aus einfachen Verhältnissen zum journalistischen Parteikader hocharbeitete und immer mehr den Glauben an den Kommunismus verlor, steht der Monolog eines Rentners und Spitzels gegenüber, der die sadomasochistischen Foltermethoden der Securitate beschreibt. Die ganze rumänische Wirklichkeit, schon das Spiel der Kinder auf den Straßen und in den Kellern der heruntergekommenen Neubausiedlungen, ist von Lüge und Machtexzessen geprägt, von seelischer wie körperlicher Verwahrlosung. Zum Ende hin wird ein über das ganze Buch hin schwebendes Geheimnis gelüftet, indem ein verloren geglaubter Zwillingsbruder des Erzählers auftaucht. Als Kind in Bukarest geraubt, führte der Weg dieses schmerzunempfindlichen Monsters über das Studio einer alten Domina in Amsterdam zu brutalen Orgien der Fremdenlegionäre bis hin zu Söldnertruppen der Islamisten.
Landkarten des Schmerzes vermessend, hatte er sich die "furchtbaren Hormone des Grauens in den Mittelpunkt des Herzens" gespritzt, um sich im revolutionsschwangeren Bukarest mit verwahrlosten Waisenknaben - den Opfern der größenwahnsinnigen Bevölkerungspolitik des Diktators - zu vergnügen und gleichzeitig seine verlorene Familie zu suchen.
Dieses Buch ist trotz seines kathartischen Endes nichts zur gemütlichen Kontemplation, es lässt sich nur als Parforceritt bewältigen. Der Autor erspart dem Leser nichts an menschlichen Abgründen. Hier werden Herzen herausgerissen und Leichen ausgeweidet, hier fließen Körperflüssigkeiten aller Art in kaum zu ertragenden Mengen, hier werden Wörter und Wortkaskaden ersonnen, die man nur mühsam in der Sprache verorten kann. Der Übersetzer Ferdinand Leupold hat ganze Arbeit geleistet bei diesem in sich verschachtelten Roman, der so grandios über zwei Ahnen de Autors erzählt, die in Bellagio im vorletzten Jahrhundert aufeinandertreffen, wie über Seidenraupen, in geschorene Frauenschädel eintätowierte Geheimnisse und Sehnsucht in malerischer Landschaft. Bei aller Sprach- und Erzählkunst grenzt die überbordende Lust am rauschhaften Exzess immer wieder auch an Kitsch.
SABINE BERKING.
Mircea Cartarescu: "Die Flügel". Roman. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leupold.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014, 670 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein Stück wirklicher 'Weltliteratur'." Alexander Cammann, Die Zeit, 19.03.15
"Mircea Cartarescu versteht in einer Weise zu erzählen, die überwältigt und packt." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 04.11.14
"Eine Geisterbahnfahrt durchs Ende der Diktatur des Nicolae Ceausescu, ein auseinanderschießendes Erzählgewitter, in das man hineingesogen wird von Cartarescu, dem Höllenbreughel der Literatur." Elmar Krekeler, SWR2, 09.11.14
"Mircea Cartarescu versteht in einer Weise zu erzählen, die überwältigt und packt." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 04.11.14
"Eine Geisterbahnfahrt durchs Ende der Diktatur des Nicolae Ceausescu, ein auseinanderschießendes Erzählgewitter, in das man hineingesogen wird von Cartarescu, dem Höllenbreughel der Literatur." Elmar Krekeler, SWR2, 09.11.14