"Es war das Jahr des Herrn 1989. Die Menschen hörten von Kriegen und von Aufständen, doch sie ängstigten sich nicht, denn das alles musste sich ereignen." So beginnt der Roman "Die Flügel" des Autors Cartarescu aus Rumänien, das Finale der "Orbitor"-Trilogie. Hintergrund bildet die Wandlung der Gesellschaft während der Revolution in Bukarest. Auf den Straßen spielen sich tumultartige Szenen ab, in der Wohnung des Ich-Erzählers läuft tagein, tagaus der Fernseher, und er taucht ein in die Geschichten seiner Vorfahren. So entsteht ein Kaleidoskop von Bewusstseinssplittern - und eines der großartigsten, exzessivsten Werke der Weltliteratur.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Den dritten und letzten Band von Mircea Cartarescus Romantrilogie "Orbitor" liest Andreas Breitenstein mit Mühe zwar, aber auch mit Gewinn. Wie der Autor Ceausescus Schreckensherrschaft und ihr Scheitern in kosmische Dimensionen treibt und sich für seine pralle Darstellung bei Religion, Wissenschaft und Kulturgeschichte bedient, hat Breitenstein beeindruckt. Das vielstimmige Sprachspiel aus Ironie, Erkenntnis, Horror und Satire lässt den Rezensenten an Proust und Joyce denken, an Ionescu und Bruno Schulz, die Bibel und Dante. Überwältigt von der allegorischen Dichte und dem psychedelischen Manierismus der Visionen und Erinnerungen in diesem Buch kann der Rezensent nur staunen, wie unterhaltsam der Totalverzicht auf Erzählökonomie sein kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2014Landkarten des Schmerzes
Der rumänische Autor Mircea Cartarescu beschließt mit dem Roman "Die Flügel" seine Trilogie über die blutige Revolution in seiner Heimat im Jahr 1989.
Ein Embryo wächst im Schädel eines philosophierenden Säufers heran, der dreizehnte und grausamste Doppelgänger des Diktators in dessen Lunge. Die Stadt gleicht einem fahlen Tier mit abgeschürfter Haut und gebrochenen Rippen, deren Bewohner in Betonkäfigen hausen. In der gespenstigen Stille einer Revolutionsnacht werden die Statuen lebendig und steigen von ihren Sockeln herab. Eine Horde abgehalfterter Gaukler exekutiert die neue Macht und kürt eine Riesenfrau aus dem Zirkus zum Symbol des Aufstandes. In einer wüsten Fress- und Vergewaltigungsorgie im erstürmten Regierungspalast kriechen die Artisten in den Schoß ihrer Marianne, nachdem sie den greisen Tyrannen und seine Frau gefesselt und erschossen haben. Dieser hatte in seiner Gigantomanie den Palast des Volkes als größtes Gebäude der Welt errichten lassen. Wie ein gewaltiger Hagelbrocken war der Koloss auf die Stadt herabgestürzt und in ihrem zertrümmerten Märtyrerleib steckengeblieben. Jetzt wird der monströse Bau zur Bühne für ein Weltuntergangsspektakel, das sich im Jahr des Herrn 1989 zuträgt.
Mit dem siebenhundert Seiten starken Roman "Die Flügel" beschließt der 1956 in Bukarest geborene Dichter und Romancier Mircea Cartarescu seine Orbitor-Trilogie. Darin hatte er die Wirklichkeit zu einer bizarren, surrealen "Texistenz" verformt, mit einem Schreiben, das, wie er behauptet, für ihn Droge und Selbsterkenntnis zugleich sei. In seiner überbordenden Bildhaftigkeit und mäandernden Erzählstruktur, die biblische und alttestamentarische Motive, albtraumhaften Sequenzen aus dem Rumänien Ceausescus und schauermärchenhafte Phantasmen miteinander verstrickt, gleicht auch dieser jetzt auf Deutsch vorliegende, 2007 im Original erschienene Roman einem zu Worten zusammengeschmolzenen Triptychon von Hieronymus Bosch oder den düsteren Film-Allegorien Andrej Tarkowskijs. Um sich in diesem gespenstigen Irrgarten der Sprache zurechtzufinden, mag es ratsam erscheinen, sich beim Lesen am roten Strang des Erzählens festhalten.
Es geht, zumindest vordergründig, um die Revolution in Rumänien 1989. Wenn wir in diesen Wochen der friedlichen Umstürze vor fünfundzwanzig Jahren gedenken, wird leicht vergessen, dass das Jahr 1989 mit einem Blutbad auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens begann und an Weihnachten mit der Hinrichtung von Nicolae Ceausescu und seiner im Volk ebenso verhassten Frau Elena ein nicht minder blutiges Ende fand. Mehr als tausend rumänische Bürger waren zu diesem Zeitpunkt den Auseinandersetzungen zwischen Gegnern der Diktatur, Armee und der berüchtigten Securitate zum Opfer gefallen. Der rumänische Realsozialismus, das wissen wir auch aus den Werken Herta Müllers, bildet ein unerschöpfliches Reservoir für bitter-böse Kafkaesken. Im Roman "Die Flügel" nimmt der junge, noch bei den Eltern lebende Schriftsteller Mircea den Leser mit auf seine Wanderungen durch das durch Kälte und Hunger gepeinigte Bukarest. In den eigenen Erinnerungen und den Erzählungen seiner Eltern wird deutlich, wie sich Rumänien unter der Herrschaft des gelernten Schusters Ceausescu in ein europäisches Nordkorea verwandelte. Den Erinnerungen des Vaters, der sich aus einfachen Verhältnissen zum journalistischen Parteikader hocharbeitete und immer mehr den Glauben an den Kommunismus verlor, steht der Monolog eines Rentners und Spitzels gegenüber, der die sadomasochistischen Foltermethoden der Securitate beschreibt. Die ganze rumänische Wirklichkeit, schon das Spiel der Kinder auf den Straßen und in den Kellern der heruntergekommenen Neubausiedlungen, ist von Lüge und Machtexzessen geprägt, von seelischer wie körperlicher Verwahrlosung. Zum Ende hin wird ein über das ganze Buch hin schwebendes Geheimnis gelüftet, indem ein verloren geglaubter Zwillingsbruder des Erzählers auftaucht. Als Kind in Bukarest geraubt, führte der Weg dieses schmerzunempfindlichen Monsters über das Studio einer alten Domina in Amsterdam zu brutalen Orgien der Fremdenlegionäre bis hin zu Söldnertruppen der Islamisten.
Landkarten des Schmerzes vermessend, hatte er sich die "furchtbaren Hormone des Grauens in den Mittelpunkt des Herzens" gespritzt, um sich im revolutionsschwangeren Bukarest mit verwahrlosten Waisenknaben - den Opfern der größenwahnsinnigen Bevölkerungspolitik des Diktators - zu vergnügen und gleichzeitig seine verlorene Familie zu suchen.
Dieses Buch ist trotz seines kathartischen Endes nichts zur gemütlichen Kontemplation, es lässt sich nur als Parforceritt bewältigen. Der Autor erspart dem Leser nichts an menschlichen Abgründen. Hier werden Herzen herausgerissen und Leichen ausgeweidet, hier fließen Körperflüssigkeiten aller Art in kaum zu ertragenden Mengen, hier werden Wörter und Wortkaskaden ersonnen, die man nur mühsam in der Sprache verorten kann. Der Übersetzer Ferdinand Leupold hat ganze Arbeit geleistet bei diesem in sich verschachtelten Roman, der so grandios über zwei Ahnen de Autors erzählt, die in Bellagio im vorletzten Jahrhundert aufeinandertreffen, wie über Seidenraupen, in geschorene Frauenschädel eintätowierte Geheimnisse und Sehnsucht in malerischer Landschaft. Bei aller Sprach- und Erzählkunst grenzt die überbordende Lust am rauschhaften Exzess immer wieder auch an Kitsch.
SABINE BERKING.
Mircea Cartarescu: "Die Flügel". Roman. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leupold.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014, 670 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der rumänische Autor Mircea Cartarescu beschließt mit dem Roman "Die Flügel" seine Trilogie über die blutige Revolution in seiner Heimat im Jahr 1989.
Ein Embryo wächst im Schädel eines philosophierenden Säufers heran, der dreizehnte und grausamste Doppelgänger des Diktators in dessen Lunge. Die Stadt gleicht einem fahlen Tier mit abgeschürfter Haut und gebrochenen Rippen, deren Bewohner in Betonkäfigen hausen. In der gespenstigen Stille einer Revolutionsnacht werden die Statuen lebendig und steigen von ihren Sockeln herab. Eine Horde abgehalfterter Gaukler exekutiert die neue Macht und kürt eine Riesenfrau aus dem Zirkus zum Symbol des Aufstandes. In einer wüsten Fress- und Vergewaltigungsorgie im erstürmten Regierungspalast kriechen die Artisten in den Schoß ihrer Marianne, nachdem sie den greisen Tyrannen und seine Frau gefesselt und erschossen haben. Dieser hatte in seiner Gigantomanie den Palast des Volkes als größtes Gebäude der Welt errichten lassen. Wie ein gewaltiger Hagelbrocken war der Koloss auf die Stadt herabgestürzt und in ihrem zertrümmerten Märtyrerleib steckengeblieben. Jetzt wird der monströse Bau zur Bühne für ein Weltuntergangsspektakel, das sich im Jahr des Herrn 1989 zuträgt.
Mit dem siebenhundert Seiten starken Roman "Die Flügel" beschließt der 1956 in Bukarest geborene Dichter und Romancier Mircea Cartarescu seine Orbitor-Trilogie. Darin hatte er die Wirklichkeit zu einer bizarren, surrealen "Texistenz" verformt, mit einem Schreiben, das, wie er behauptet, für ihn Droge und Selbsterkenntnis zugleich sei. In seiner überbordenden Bildhaftigkeit und mäandernden Erzählstruktur, die biblische und alttestamentarische Motive, albtraumhaften Sequenzen aus dem Rumänien Ceausescus und schauermärchenhafte Phantasmen miteinander verstrickt, gleicht auch dieser jetzt auf Deutsch vorliegende, 2007 im Original erschienene Roman einem zu Worten zusammengeschmolzenen Triptychon von Hieronymus Bosch oder den düsteren Film-Allegorien Andrej Tarkowskijs. Um sich in diesem gespenstigen Irrgarten der Sprache zurechtzufinden, mag es ratsam erscheinen, sich beim Lesen am roten Strang des Erzählens festhalten.
Es geht, zumindest vordergründig, um die Revolution in Rumänien 1989. Wenn wir in diesen Wochen der friedlichen Umstürze vor fünfundzwanzig Jahren gedenken, wird leicht vergessen, dass das Jahr 1989 mit einem Blutbad auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens begann und an Weihnachten mit der Hinrichtung von Nicolae Ceausescu und seiner im Volk ebenso verhassten Frau Elena ein nicht minder blutiges Ende fand. Mehr als tausend rumänische Bürger waren zu diesem Zeitpunkt den Auseinandersetzungen zwischen Gegnern der Diktatur, Armee und der berüchtigten Securitate zum Opfer gefallen. Der rumänische Realsozialismus, das wissen wir auch aus den Werken Herta Müllers, bildet ein unerschöpfliches Reservoir für bitter-böse Kafkaesken. Im Roman "Die Flügel" nimmt der junge, noch bei den Eltern lebende Schriftsteller Mircea den Leser mit auf seine Wanderungen durch das durch Kälte und Hunger gepeinigte Bukarest. In den eigenen Erinnerungen und den Erzählungen seiner Eltern wird deutlich, wie sich Rumänien unter der Herrschaft des gelernten Schusters Ceausescu in ein europäisches Nordkorea verwandelte. Den Erinnerungen des Vaters, der sich aus einfachen Verhältnissen zum journalistischen Parteikader hocharbeitete und immer mehr den Glauben an den Kommunismus verlor, steht der Monolog eines Rentners und Spitzels gegenüber, der die sadomasochistischen Foltermethoden der Securitate beschreibt. Die ganze rumänische Wirklichkeit, schon das Spiel der Kinder auf den Straßen und in den Kellern der heruntergekommenen Neubausiedlungen, ist von Lüge und Machtexzessen geprägt, von seelischer wie körperlicher Verwahrlosung. Zum Ende hin wird ein über das ganze Buch hin schwebendes Geheimnis gelüftet, indem ein verloren geglaubter Zwillingsbruder des Erzählers auftaucht. Als Kind in Bukarest geraubt, führte der Weg dieses schmerzunempfindlichen Monsters über das Studio einer alten Domina in Amsterdam zu brutalen Orgien der Fremdenlegionäre bis hin zu Söldnertruppen der Islamisten.
Landkarten des Schmerzes vermessend, hatte er sich die "furchtbaren Hormone des Grauens in den Mittelpunkt des Herzens" gespritzt, um sich im revolutionsschwangeren Bukarest mit verwahrlosten Waisenknaben - den Opfern der größenwahnsinnigen Bevölkerungspolitik des Diktators - zu vergnügen und gleichzeitig seine verlorene Familie zu suchen.
Dieses Buch ist trotz seines kathartischen Endes nichts zur gemütlichen Kontemplation, es lässt sich nur als Parforceritt bewältigen. Der Autor erspart dem Leser nichts an menschlichen Abgründen. Hier werden Herzen herausgerissen und Leichen ausgeweidet, hier fließen Körperflüssigkeiten aller Art in kaum zu ertragenden Mengen, hier werden Wörter und Wortkaskaden ersonnen, die man nur mühsam in der Sprache verorten kann. Der Übersetzer Ferdinand Leupold hat ganze Arbeit geleistet bei diesem in sich verschachtelten Roman, der so grandios über zwei Ahnen de Autors erzählt, die in Bellagio im vorletzten Jahrhundert aufeinandertreffen, wie über Seidenraupen, in geschorene Frauenschädel eintätowierte Geheimnisse und Sehnsucht in malerischer Landschaft. Bei aller Sprach- und Erzählkunst grenzt die überbordende Lust am rauschhaften Exzess immer wieder auch an Kitsch.
SABINE BERKING.
Mircea Cartarescu: "Die Flügel". Roman. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leupold.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014, 670 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein Stück wirklicher 'Weltliteratur'." Alexander Cammann, Die Zeit, 19.03.15
"Mircea Cartarescu versteht in einer Weise zu erzählen, die überwältigt und packt." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 04.11.14
"Eine Geisterbahnfahrt durchs Ende der Diktatur des Nicolae Ceausescu, ein auseinanderschießendes Erzählgewitter, in das man hineingesogen wird von Cartarescu, dem Höllenbreughel der Literatur." Elmar Krekeler, SWR2, 09.11.14
"Mircea Cartarescu versteht in einer Weise zu erzählen, die überwältigt und packt." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 04.11.14
"Eine Geisterbahnfahrt durchs Ende der Diktatur des Nicolae Ceausescu, ein auseinanderschießendes Erzählgewitter, in das man hineingesogen wird von Cartarescu, dem Höllenbreughel der Literatur." Elmar Krekeler, SWR2, 09.11.14