Unterhaltsam und farbig schildert Peter Demetz das abenteuerliche Spektakel um die Flugschau in Brescia, das gleichzeitig ein Stück Literaturgeschichte ist. An jenem denkwürdigen 11. September 1909 gingen die berühmtesten Piloten mit tollkühnen Fluggeräten an den Start - ein einzigartiges Ereignis, das phantastische Ingenieure, waghalsige Flieger, Visionäre und Künstler aus ganz Europa anzog, unter ihnen Franz Kafka, Gabriele d'Annunzio und Giacomo Puccini.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2002So nah war der Himmel über Brescia
Loopings mit Franz Kafka: Peter Demetz besichtigt ein Zeitalter und gibt der Kulturgeschichte Flugunterricht
In Brescia fallen im September 1909 die Männer vom Himmel. Meistens bleiben sie dabei unverletzt, nur ihre Flugapparate sind leider unbrauchbar geworden. Wie schon die erste europäische Luftschau kurz zuvor in Reims, so ist auch diese große Reprise ein Spektakel zwischen Sportwettkampf, Zirkus und gesellschaftlichem Event. Unter den Zuschauern befinden sich drei Freunde aus Prag, die Brüder Otto und Max Brod und ein Jurist, der über dies alles seinen ersten Zeitungsbericht schreiben wird.
Franz Kafkas "Die Aeroplane in Brescia" ist ein Pioniertext auch für die Berichterstattung über die weltverändernden neuen Maschinen. Am 29. September 1909 war er in der Prager Tageszeitung "Bohemia" zu lesen, wo Peter Demetz ihn, als der Ruhm des Verfassers längst den aller in Brescia anwesenden Zelebritäten überstrahlte, Jahrzehnte später wiedergefunden hat. In seinem neuen Buch erzählt Demetz nun die Geschichte jener aufregenden Tage; sie reicht noch in seine eigene Familiengeschichte hinein. Sein Vater, erinnert er sich, habe den "Kafka Franzl" oft im Café getroffen und ihn immerhin für einen ganz "talentierten" Schriftsteller gehalten. So beginnt ein erzählerischer Rundflug durch die Zeit, in der das Jahrhundert noch jung, Kafka noch unbekannt und die Technik voller Wunder war.
Für die Prager Freunde ist es das erste Mal, daß sie Flugzeuge am Himmel erblicken - ein Schauspiel, das nur wenig von seinem Reiz verliert, wenn man berücksichtigt, daß die Flughöhe selten über hundert Meter hinausgeht, die Flugzeiten oft nur wenige Minuten betragen und nicht alle Maschinen sich überhaupt am Himmel halten können. Noch ist - mit einem Wort des ebenfalls anwesenden Giacomo Puccini - Fliegen ein Sport, der vor allem "viel Geduld erfordert". Es ist die Zeit, in der noch mit vogelähnlich flatternden Flugmaschinen experimentiert wird, die "Ornithopter" heißen, in der die Brüder Wright und ihre Nachfolger sich in ihren Flugzeugen mit Katapulten in die Luft befördern lassen und ein Doppeldecker noch ein "Biplan" ist.
Zu den Auszeichnungen, die in Brescia für fliegerische Höchstleistungen vergeben werden, gehört der "Fliegende-Start-Preis für den Piloten, der nach einem Anlauf von hundert Metern einen Kilometer in der kürzesten Zeitspanne zurücklegt" - was Leutnant Calderara alsbald "in der phantastischen Zeit von einer Minute und 15 Sekunden" vollbringt. Noch sind die Ansprüche an technisch induzierte Rauschzustände bescheiden, aber die Gier nach Beschleunigung und Expansion ist schon grenzenlos. In den Augen des Beobachters Franz Kafka wagt sich der französische Flieger Rougier so hoch hinauf ins abendliche Blau, "daß man glaubt, seine Lage könne bald nur noch nach den Sternen bestimmt werden". Tatsächlich hat Rougier die beachtliche Höhe von 177 Metern erreicht. So nah ist der Himmel über Brescia im September 1909.
Unter diesem Himmel gibt sich ein Zeitalter die Ehre - oder vielmehr: Es ehrt die Götter und Helden der technischen Moderne, Heroen wie Louis Blériot, der kurz zuvor als erster Flieger den Ärmelkanal überquert hat, den wortkargen amerikanischen Piloten Glenn H. Curtiss und Leutnant Calderara, den Liebling des Publikums (und des Autors). Mechaniker in ölverschmierten Overalls eilen über die Szene und vornehm verschleierte Damen - unter ihnen Prinzessin Laetitia, die Gattin des Herzogs von Aosta, und die Gräfin Giuseppa Mancini -, Reporter aus drei Kontinenten, politische Machthaber und Repräsentanten des europäischen Geistes. Aus den Vereinigten Staaten ist Mrs. Theodore Roosevelt angereist, mit ihren Kindern (der Gatte befindet sich in Afrika auf der Jagd); für die französische "Locomotion Automobilistique" berichtet der russische Fürst Trubetzkoj. Vor den Szenen einer katastrophalen Ehe ist Puccini nach Brescia entflohen, wo er freilich, umringt von Bewunderern, von den aeronautischen Eskapaden nur wenig zu sehen bekommt. Die meiste Zeit verbringt er im Restaurant und monologisiert über seine neue Oper, während Max Brod ihn aus der Ferne bewundert und der lakonischere Kafka ihm eine "Trinkernase" attestiert. Auch König Vittorio Emanuele III. ist anwesend. Als wahren "König der Flugschau" aber feiert das Publikum den flamboyanten Gabriele D'Annunzio, der in seinem Gedicht "Ikarus" den Luftschiffer als Übermenschen des neuen Zeitalters proklamiert hat und mit der Gräfin Mancini ein "priapisches" Leben zu führen behauptet.
D'Annunzio, dieser sonderbar exaltierten Mischung aus Zarathustra und Möllemann, gelingt auch der größte Show-Effekt der Schau. Er klettert in Calderaras Aeroplan und steigt unter dem tosenden Jubel des Publikums für wenige Minuten zu einer Höhe von zehn Metern auf, woraufhin er sich mit den Worten "Fliegen ist göttlich" entschlossen zeigt, selbst ein Flieger zu werden. Er habe Augenblicke ekstatischer Wonne erlebt unter den "leuchtenden Stößen des Lebens", schwärmt er vor den staunenden Reportern.
Anders als seinem Vorgänger Felix Philipp Ingold geht es Demetz weniger um "Literatur und Aviatik" als um die Besichtigung eines ganzen Zeitalters auf kleinstem Raum. Der wahre Protagonist dieser Geschichte ist keine ihrer vielen Figuren, sondern das Aerodrom von Brescia selbst. Dieser Schauplatz erweist sich als Schnittpunkt von Linien, die epochale Ereignisse und Gestalten miteinander verbinden - ein raumgewordener historischer Moment. Demetz' Buch besteht aus lauter Exkursen, die alle vom Flugfeld ausgehen und wieder zu ihm zurückkehren. Wenn er auf die Liebesgeschichte des Restaurantbesuchers Puccini zu sprechen kommt, erklärt der Erzähler: "Ich will diese traurige Geschichte Schritt für Schritt und in ihrem ganzen Kontext erzählen." So verfährt das ganze Buch. Demetz ist unternehmungslustig und neugierig, und er bringt die erstaunlichsten Zusammenhänge in Erfahrung. Wenn es so etwas wie eine mäandrierende Zielstrebigkeit geben kann, dann ist sie hier zum Prinzip erhoben. Von D'Annunzios Fliegerroman aus kommt Demetz der Reihe nach auf einen "kalifornischen Pornoproduzenten", einen fliegenden Reporter und D'Annunzios französische Übersetzerin, die Gräfin Gobuleff, die ihn wiederum auf den deutschen Übersetzer bringt, der nicht nur ein expressionistischer Schriftsteller, sondern auch selbst ein Flieger war und später, so hängt alles mit allem zusammen, das Drehbuch zu "Der blaue Engel" mitverfaßt hat.
Souverän fliegt Kapitän Demetz so in Kreisen, Loopings und Zeitschleifen durch die versinkende Welt des alten Europa. Leitmotivisch angedeutete Wiederholungen von Vorgängen und Details erzeugen den Eindruck einer zugleich vergehenden und stehenden Zeit - als spule jemand das Band immer wieder ein Stück zurück, zoome dann auf immer neue Ausschnitte, springe zwischen Vorder- und Hintergrund hin und her, bis schließlich das Bild des Schauplatzes vom Großen bis ins Kleinste dreidimensional erfaßt ist. Dann ist die abenteuerliche Flugstunde, die wilde und schöne Geschichte zu Ende. Und immer deutlicher treten Kafka und seine beiden Freunde als die heimlichen Mittelpunktfiguren hervor, nebenbei oder in Großaufnahme, als Beobachter inmitten des Panoramagemäldes.
Demetz erzählt von ihrer Anreise und vom Verkehrszusammenbruch am Eröffnungstag; er porträtiert die umschwärmten Helden der Lüfte und die nicht weniger abenteuerlichen Mitglieder des Organisationskomitees, verfolgt die Wetterberichte und überprüft Eintrittspreise (die teuersten Billetts kosten zweihundert Lire, Kafka und die Brüder Brod bezahlten für ihre Tageskarten nur ein Hundertstel davon); er stellt technische Recherchen und Stilbeobachtungen an, erzählt von Biographien und von Sportwettkämpfen, kommentiert Opern und Romane; er rekonstruiert das komplizierte System der Flaggensignale, wirft einen Blick ins emsige Treiben des Telegraphenbüros und liest mit philologischer Akribie die Kunstwerke, die aus alldem hervorgegangen sind.
Vor allem aber folgt er den Lebensläufen seiner Helden über die Tage von Brescia hinaus, sieht sie sich miteinander verstricken oder in der Ferne verlieren, in manchmal tragischen, oft komischen Verwirrungen und immer wieder doch vor jenem Horizont, an dem längst die nachtschwarze Gewitterfront des Ersten Weltkriegs heraufzuziehen beginnt und hinter dem, in noch weiterer Ferne, schon die Feuer von Stalingrad und Auschwitz aufflackern. In einem eigenen Kapitel stimmt er mit Max Brod ein "Klagelied für Otto Brod" an, den jüngsten der drei reisenden Freunde, der 1944 in den Lagern ermordet wurde. Und D'Annunzios ungewollt komische Selbststilisierungen zum Fliegergenie kontrastiert Demetz mit dem nur acht Jahre später verfaßten Memorandum "Über den Einsatz von Bombengeschwadern in zukünftigen Operationen"; mit einem Schlag wandelt sich vor unseren Augen der vitalistische Ikarus zum Ideologen des Luftkriegs.
Bekanntlich ist D'Annunzio dann ja wirklich unter die Flieger gegangen; im Weltkrieg greift er aus der Luft die dalmatinischen Häfen an - was Demetz den schönen Stoßseufzer abnötigt, es sei doch schade, daß Hofmannsthal damals, statt im Kriegsarchiv Dienst zu tun, nicht bei der Marine gedient und Österreich "gegen seinen ästhetischen Verbündeten verteidigt" habe. "Wie interessant wäre es gewesen", allerdings! "Interessant", das ist das Schlüsselwort. Demetz ist ein Enthusiast der Neugierde. Daß nicht jeder Ausflug "genauso interessant, ja interessanter" als der andere ausfällt und auch ausdauernde Leser vor soviel Interessantheit manchmal ermatten, ist unvermeidlich und bleibt die Ausnahme. "Zugegeben, dieses Buch ist als Entertainment gedacht", bemerkt das Vorwort fast entschuldigend. Diese Erwartung wird nicht enttäuscht. Und doch stapelt Demetz hier zu tief. Denn unterhaltsam, "Schritt für Schritt und in ihrem ganzen Kontext", wird hier die schöne und traurige Geschichte von der Jugend der technischen Moderne erzählt, von ihrer Fortschrittshoffnung und ihrem unbegrenzten Glauben an die technische Beherrschbarkeit der Natur, vom "letzten leuchtenden Moment einer sonderbaren Unschuld" im Augenblick ihres Verschwindens.
Peter Demetz: "Die Flugschau von Brescia". Kafka, D'Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen. Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Marenzeller. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002. 256 S., zahlr. Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Loopings mit Franz Kafka: Peter Demetz besichtigt ein Zeitalter und gibt der Kulturgeschichte Flugunterricht
In Brescia fallen im September 1909 die Männer vom Himmel. Meistens bleiben sie dabei unverletzt, nur ihre Flugapparate sind leider unbrauchbar geworden. Wie schon die erste europäische Luftschau kurz zuvor in Reims, so ist auch diese große Reprise ein Spektakel zwischen Sportwettkampf, Zirkus und gesellschaftlichem Event. Unter den Zuschauern befinden sich drei Freunde aus Prag, die Brüder Otto und Max Brod und ein Jurist, der über dies alles seinen ersten Zeitungsbericht schreiben wird.
Franz Kafkas "Die Aeroplane in Brescia" ist ein Pioniertext auch für die Berichterstattung über die weltverändernden neuen Maschinen. Am 29. September 1909 war er in der Prager Tageszeitung "Bohemia" zu lesen, wo Peter Demetz ihn, als der Ruhm des Verfassers längst den aller in Brescia anwesenden Zelebritäten überstrahlte, Jahrzehnte später wiedergefunden hat. In seinem neuen Buch erzählt Demetz nun die Geschichte jener aufregenden Tage; sie reicht noch in seine eigene Familiengeschichte hinein. Sein Vater, erinnert er sich, habe den "Kafka Franzl" oft im Café getroffen und ihn immerhin für einen ganz "talentierten" Schriftsteller gehalten. So beginnt ein erzählerischer Rundflug durch die Zeit, in der das Jahrhundert noch jung, Kafka noch unbekannt und die Technik voller Wunder war.
Für die Prager Freunde ist es das erste Mal, daß sie Flugzeuge am Himmel erblicken - ein Schauspiel, das nur wenig von seinem Reiz verliert, wenn man berücksichtigt, daß die Flughöhe selten über hundert Meter hinausgeht, die Flugzeiten oft nur wenige Minuten betragen und nicht alle Maschinen sich überhaupt am Himmel halten können. Noch ist - mit einem Wort des ebenfalls anwesenden Giacomo Puccini - Fliegen ein Sport, der vor allem "viel Geduld erfordert". Es ist die Zeit, in der noch mit vogelähnlich flatternden Flugmaschinen experimentiert wird, die "Ornithopter" heißen, in der die Brüder Wright und ihre Nachfolger sich in ihren Flugzeugen mit Katapulten in die Luft befördern lassen und ein Doppeldecker noch ein "Biplan" ist.
Zu den Auszeichnungen, die in Brescia für fliegerische Höchstleistungen vergeben werden, gehört der "Fliegende-Start-Preis für den Piloten, der nach einem Anlauf von hundert Metern einen Kilometer in der kürzesten Zeitspanne zurücklegt" - was Leutnant Calderara alsbald "in der phantastischen Zeit von einer Minute und 15 Sekunden" vollbringt. Noch sind die Ansprüche an technisch induzierte Rauschzustände bescheiden, aber die Gier nach Beschleunigung und Expansion ist schon grenzenlos. In den Augen des Beobachters Franz Kafka wagt sich der französische Flieger Rougier so hoch hinauf ins abendliche Blau, "daß man glaubt, seine Lage könne bald nur noch nach den Sternen bestimmt werden". Tatsächlich hat Rougier die beachtliche Höhe von 177 Metern erreicht. So nah ist der Himmel über Brescia im September 1909.
Unter diesem Himmel gibt sich ein Zeitalter die Ehre - oder vielmehr: Es ehrt die Götter und Helden der technischen Moderne, Heroen wie Louis Blériot, der kurz zuvor als erster Flieger den Ärmelkanal überquert hat, den wortkargen amerikanischen Piloten Glenn H. Curtiss und Leutnant Calderara, den Liebling des Publikums (und des Autors). Mechaniker in ölverschmierten Overalls eilen über die Szene und vornehm verschleierte Damen - unter ihnen Prinzessin Laetitia, die Gattin des Herzogs von Aosta, und die Gräfin Giuseppa Mancini -, Reporter aus drei Kontinenten, politische Machthaber und Repräsentanten des europäischen Geistes. Aus den Vereinigten Staaten ist Mrs. Theodore Roosevelt angereist, mit ihren Kindern (der Gatte befindet sich in Afrika auf der Jagd); für die französische "Locomotion Automobilistique" berichtet der russische Fürst Trubetzkoj. Vor den Szenen einer katastrophalen Ehe ist Puccini nach Brescia entflohen, wo er freilich, umringt von Bewunderern, von den aeronautischen Eskapaden nur wenig zu sehen bekommt. Die meiste Zeit verbringt er im Restaurant und monologisiert über seine neue Oper, während Max Brod ihn aus der Ferne bewundert und der lakonischere Kafka ihm eine "Trinkernase" attestiert. Auch König Vittorio Emanuele III. ist anwesend. Als wahren "König der Flugschau" aber feiert das Publikum den flamboyanten Gabriele D'Annunzio, der in seinem Gedicht "Ikarus" den Luftschiffer als Übermenschen des neuen Zeitalters proklamiert hat und mit der Gräfin Mancini ein "priapisches" Leben zu führen behauptet.
D'Annunzio, dieser sonderbar exaltierten Mischung aus Zarathustra und Möllemann, gelingt auch der größte Show-Effekt der Schau. Er klettert in Calderaras Aeroplan und steigt unter dem tosenden Jubel des Publikums für wenige Minuten zu einer Höhe von zehn Metern auf, woraufhin er sich mit den Worten "Fliegen ist göttlich" entschlossen zeigt, selbst ein Flieger zu werden. Er habe Augenblicke ekstatischer Wonne erlebt unter den "leuchtenden Stößen des Lebens", schwärmt er vor den staunenden Reportern.
Anders als seinem Vorgänger Felix Philipp Ingold geht es Demetz weniger um "Literatur und Aviatik" als um die Besichtigung eines ganzen Zeitalters auf kleinstem Raum. Der wahre Protagonist dieser Geschichte ist keine ihrer vielen Figuren, sondern das Aerodrom von Brescia selbst. Dieser Schauplatz erweist sich als Schnittpunkt von Linien, die epochale Ereignisse und Gestalten miteinander verbinden - ein raumgewordener historischer Moment. Demetz' Buch besteht aus lauter Exkursen, die alle vom Flugfeld ausgehen und wieder zu ihm zurückkehren. Wenn er auf die Liebesgeschichte des Restaurantbesuchers Puccini zu sprechen kommt, erklärt der Erzähler: "Ich will diese traurige Geschichte Schritt für Schritt und in ihrem ganzen Kontext erzählen." So verfährt das ganze Buch. Demetz ist unternehmungslustig und neugierig, und er bringt die erstaunlichsten Zusammenhänge in Erfahrung. Wenn es so etwas wie eine mäandrierende Zielstrebigkeit geben kann, dann ist sie hier zum Prinzip erhoben. Von D'Annunzios Fliegerroman aus kommt Demetz der Reihe nach auf einen "kalifornischen Pornoproduzenten", einen fliegenden Reporter und D'Annunzios französische Übersetzerin, die Gräfin Gobuleff, die ihn wiederum auf den deutschen Übersetzer bringt, der nicht nur ein expressionistischer Schriftsteller, sondern auch selbst ein Flieger war und später, so hängt alles mit allem zusammen, das Drehbuch zu "Der blaue Engel" mitverfaßt hat.
Souverän fliegt Kapitän Demetz so in Kreisen, Loopings und Zeitschleifen durch die versinkende Welt des alten Europa. Leitmotivisch angedeutete Wiederholungen von Vorgängen und Details erzeugen den Eindruck einer zugleich vergehenden und stehenden Zeit - als spule jemand das Band immer wieder ein Stück zurück, zoome dann auf immer neue Ausschnitte, springe zwischen Vorder- und Hintergrund hin und her, bis schließlich das Bild des Schauplatzes vom Großen bis ins Kleinste dreidimensional erfaßt ist. Dann ist die abenteuerliche Flugstunde, die wilde und schöne Geschichte zu Ende. Und immer deutlicher treten Kafka und seine beiden Freunde als die heimlichen Mittelpunktfiguren hervor, nebenbei oder in Großaufnahme, als Beobachter inmitten des Panoramagemäldes.
Demetz erzählt von ihrer Anreise und vom Verkehrszusammenbruch am Eröffnungstag; er porträtiert die umschwärmten Helden der Lüfte und die nicht weniger abenteuerlichen Mitglieder des Organisationskomitees, verfolgt die Wetterberichte und überprüft Eintrittspreise (die teuersten Billetts kosten zweihundert Lire, Kafka und die Brüder Brod bezahlten für ihre Tageskarten nur ein Hundertstel davon); er stellt technische Recherchen und Stilbeobachtungen an, erzählt von Biographien und von Sportwettkämpfen, kommentiert Opern und Romane; er rekonstruiert das komplizierte System der Flaggensignale, wirft einen Blick ins emsige Treiben des Telegraphenbüros und liest mit philologischer Akribie die Kunstwerke, die aus alldem hervorgegangen sind.
Vor allem aber folgt er den Lebensläufen seiner Helden über die Tage von Brescia hinaus, sieht sie sich miteinander verstricken oder in der Ferne verlieren, in manchmal tragischen, oft komischen Verwirrungen und immer wieder doch vor jenem Horizont, an dem längst die nachtschwarze Gewitterfront des Ersten Weltkriegs heraufzuziehen beginnt und hinter dem, in noch weiterer Ferne, schon die Feuer von Stalingrad und Auschwitz aufflackern. In einem eigenen Kapitel stimmt er mit Max Brod ein "Klagelied für Otto Brod" an, den jüngsten der drei reisenden Freunde, der 1944 in den Lagern ermordet wurde. Und D'Annunzios ungewollt komische Selbststilisierungen zum Fliegergenie kontrastiert Demetz mit dem nur acht Jahre später verfaßten Memorandum "Über den Einsatz von Bombengeschwadern in zukünftigen Operationen"; mit einem Schlag wandelt sich vor unseren Augen der vitalistische Ikarus zum Ideologen des Luftkriegs.
Bekanntlich ist D'Annunzio dann ja wirklich unter die Flieger gegangen; im Weltkrieg greift er aus der Luft die dalmatinischen Häfen an - was Demetz den schönen Stoßseufzer abnötigt, es sei doch schade, daß Hofmannsthal damals, statt im Kriegsarchiv Dienst zu tun, nicht bei der Marine gedient und Österreich "gegen seinen ästhetischen Verbündeten verteidigt" habe. "Wie interessant wäre es gewesen", allerdings! "Interessant", das ist das Schlüsselwort. Demetz ist ein Enthusiast der Neugierde. Daß nicht jeder Ausflug "genauso interessant, ja interessanter" als der andere ausfällt und auch ausdauernde Leser vor soviel Interessantheit manchmal ermatten, ist unvermeidlich und bleibt die Ausnahme. "Zugegeben, dieses Buch ist als Entertainment gedacht", bemerkt das Vorwort fast entschuldigend. Diese Erwartung wird nicht enttäuscht. Und doch stapelt Demetz hier zu tief. Denn unterhaltsam, "Schritt für Schritt und in ihrem ganzen Kontext", wird hier die schöne und traurige Geschichte von der Jugend der technischen Moderne erzählt, von ihrer Fortschrittshoffnung und ihrem unbegrenzten Glauben an die technische Beherrschbarkeit der Natur, vom "letzten leuchtenden Moment einer sonderbaren Unschuld" im Augenblick ihres Verschwindens.
Peter Demetz: "Die Flugschau von Brescia". Kafka, D'Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen. Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Marenzeller. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002. 256 S., zahlr. Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Auch wer sich wenig für das Fliegen interessiert, wird mit diesem Buch des Prager Literaturwissenschaftlers Peter Demetz über die erste Flugschau in Brescia im September 1909 voll auf seine Kosten kommen, verspricht Maike Albath. In zwölf "kurzweiligen" Kapiteln lasse der Autor das Geschehen jener Tage, zu dem Künstler wie Franz Kafka, Giacomo Puccini, die Gebrüder Brod oder Gabriele d'Annunzio, einfache Bürger und der italienische König gekommen waren, Revue passieren, berichtet die Rezensentin. Der Leser könne in einer Art "Drehbühnen-Prinzip" aus den verschiedensten Perspektiven die Flugschau verfolgen: aus der Perspektive der Zuschauer, der Mechaniker und der Piloten, schwärmt Albath. Fern jeglichen "Pathos", mit einen gelungenen Gespür für "komische Details", rückt Demetz das Ereignis in ein sehr "menschliches Licht", so die Rezensentin, die außerdem die "aufschlussreichen" und "unterhaltsamen" Porträts über Kafka, die Brod-Brüder und den "Salonlöwen" und "Literaturstar" d'Annunzio besonders gern gelesen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Souverän fliegt Kapitän Demetz in Kreisen, Loopings und Zeitschleifen durch die versinkende Welt des alten Europa... Dann ist die abenteuerliche Flugstunde, die wilde und schöne Geschichte zu Ende... Demetz ist ein Enthusiast der Neugierde."
Heinrich Detering, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.10.02
"Die Lektüre ist ein Genuss. Die Künste der Aviatik werden einem näher gebracht, und die Faszination, die jene vogelartigen Flugmaschinen auf die Zuschauermenge ausübten, ist auf jeder Seite zu spüren."
Maike Albath, Frankfurter Rundschau, 09.10.02
"Demetz ist ein Meister atmosphärischer Verdichtung... Er beschreibt die Ereignisse von Brescia in einem präzisen Arrangement der Fakten, das dennoch die Atmosphäre einer Landschaft, einer Zeit und eines bejubelten Aufbruchs jederzeit deutlich macht."
Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 07.11.02
"Eine unterhaltsame, informative Mischung aus Reisereportage, Geschichtsstunde, Kafka-Reminiszenz und soziologischer Studie. Ein Abenteuer im Miniformat, das eine vergangene Welt erschließt, die der heutigen gar nicht so fern ist."
Brigitte, 10/02
Heinrich Detering, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.10.02
"Die Lektüre ist ein Genuss. Die Künste der Aviatik werden einem näher gebracht, und die Faszination, die jene vogelartigen Flugmaschinen auf die Zuschauermenge ausübten, ist auf jeder Seite zu spüren."
Maike Albath, Frankfurter Rundschau, 09.10.02
"Demetz ist ein Meister atmosphärischer Verdichtung... Er beschreibt die Ereignisse von Brescia in einem präzisen Arrangement der Fakten, das dennoch die Atmosphäre einer Landschaft, einer Zeit und eines bejubelten Aufbruchs jederzeit deutlich macht."
Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 07.11.02
"Eine unterhaltsame, informative Mischung aus Reisereportage, Geschichtsstunde, Kafka-Reminiszenz und soziologischer Studie. Ein Abenteuer im Miniformat, das eine vergangene Welt erschließt, die der heutigen gar nicht so fern ist."
Brigitte, 10/02