Der Erzähler hat Sorgen, daß er nicht ausreichend beschäftigt wird. Der Fernsehmoderator beschließt, Reiseschriftsteller zu werden, ohne daß er das Haus verläßt. Eine Wohnung wird leergeräumt, aber richtig leer wird sie offenbar nie. Namen tauchen wieder auf, die doch alle vergessen schienen. Hanna zum Beispiel, aber ist das so sicher? Die Gäste scheint der Zeitgeist eingeladen zu haben, jedenfalls hört sich ihre Konversation so an. Minimale Geschichten: für immer nur eine Seite in einem Journal, das lange leergeblieben ist, leer wie all die anderen Exemplare in der Bibliothek noch nicht geschriebener Bücher. Weil die zweihundert Seiten des Journals bereits mit Seitenzahlen bedruckt sind, hat es, meint der Verfasser, auch schon ein Konzept - ein freilich ironisch verstandenes, indem es zum Spiel gehört, das der Verfasser mit seinen Figuren und Fiktionen anstellt. Die Spuren, die Jürgen Becker mit seinem Schreiben freilegt, führen in vergangene, scheinbar verjährte Jahrzehnte, dienoch so nah erscheinen wie der eben gewesene Augenblick. Die Erinnerung aber trifft auf Verschwundenes; sie vergegenwärtigt Erfahrungen, die von Leiterwagen, selbstgedrehten Zigaretten, häuslicher Schuhmacherei, von einer alten Scheune und der letzten Kohlenlieferung sprechen, beiläufig, als wäre immer nur Alltag. Auch davon erzählen Die folgenden Seiten, von gewöhnlichen, von unwirklichen Tagesläufen, in die wir zeitlebens verwickelt sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2007Leben in der Warteschleife
Großes Werk im Kleinen: Jürgen Beckers Journalgeschichten
Wenn Schriftsteller literarische Kleinformen veröffentlichen - Notate, Aufzeichnungen oder Skizzen -, signalisieren sie damit oft, dass sie auf der Flucht vor der großen Form sind. Nicht jeder Autor hat sein Werk so grundsätzlich auf die Aufzeichnung gestellt wie Elias Canetti. Auch Martin Walsers Mesmeriana sind das vielfach gefilterte Derivat aus über vierzigjähriger Aufzeichnungsarbeit (mit inzwischen über vierzig in täglicher Übung vollgeschriebenen Blindbänden). Bevor Handke sein erstes Journal "Gewicht der Welt" publizierte, hatte er überlegt, ob er aus den dort angesammelten Beobachtungen und Stimmungsnotizen einen Roman herausarbeiten solle (wie zuvor mit "Die Stunde der wahren Empfindung" geschehen); er hat es gottlob nicht getan. Und noch heute ist das erste Tagebuch von Max Frisch paradox gesagt sein Opus magnum in nuce - er hatte es seinerzeit aus Mangel an Zeit für die Schriftstellerei neben seiner Architektenarbeit geführt, und es enthält im Grunde die literarische Substanz seines späteren Werks: Da steckten in Notaten und Skizzen ganze Dramen und Romane.
Nun hat auch Jürgen Becker ein Aufzeichnungsbuch veröffentlicht. Er hat sich eine Situation imaginiert, in der ein Erzähler zweihundert leere Seiten vor sich hat: "Die folgenden Seiten", die er in täglicher Arbeit füllen muss, täglich eine Seite. Auch ein literarisches Spiel - ähnlich jenem Tagebuch, das Christa Wolf ein Leben lang an ein und demselben Tage jeden Jahres geführt hat.
In diesem Buch mit seinen zweihundert beschriebenen "Seiten", von denen manche "Seite" freilich kaum eine halbe Buchseite füllt, stehen viele Miniaturen, ja Fragmente, in denen die unterschiedlichsten Aspekte des Lebens zu grundsätzlichen Erkenntnissen gereift sind; aber sie kommen nicht gravitätisch daher, verstehen sich nicht als erkenntnis- und erfahrungsgereifte Solitäre, sondern geben sich eher nebenbei: kleine Dialoge, poetologische Reflexionen, Gedanken zu Besuchern, Erinnerungen, Beschreibungen alltäglichen Handelns, zum Beispiel vorm halb abgeräumten Frühstückstisch. Doch insgesamt fügen sich diese Notate der verschiedensten Art, indem sie immer mal wieder aufgenommen und fortentwickelt werden, zu thematischen Strängen, die wiederum aufeinander bezogen sind. Der eine handelt davon, wie die Wohnung ausgeräumt wird; ein anderer erzählt von der fünfundsiebzigjährigen Hanna; ein weiterer reflektiert über den Krieg; dann spricht mal der Erzähler; Dialoge erörtern seine Rolle; wieder ein anderer Strang handelt von einem H.; und immer wieder gibt es sogenannte "Warteschleifen", in denen Sätze versammelt sind, die darauf zu warten scheinen, auch noch weiter ausgeführt, zu kleinen Geschichten ausgebaut zu werden.
So entsteht in der scheinbaren Fragmentierung auf verschiedenen Erzählebenen ein kleiner Kosmos als Spiegel eines größeren, in dem sich die Welt bricht - eine Welt, die nicht unberührt, aber doch aus ziemlich großer Entfernung lakonisch wahrgenommen wird: "Auf Seite hundertdreiundsechzig kommt die Frage auf, wo wir eigentlich leben, denn wo wir leben, passiert das alles nicht. Drüben die Wälder stehen und grünen wie immer; unvorstellbar, dass sie brennen, brennen, brennen. Zwischendurch mal ein trockener Sommer, aber deswegen geht das Trinkwasser nicht aus, magert keine Kuh auf versengter Wiese. Neulich träumte ich von einem Erdbeben, die Kammer hob und senkte sich, aber solchen Schrecken jagt mir nur der Traum ein. Sooft es hier regnet und wie kräftig das Flüsschen auch anschwillt, die Dorfchronik erzählt von Wasserkatastrophen nichts. Sicher, der nächste Blitz kann das Haus treffen und der nächste Einbrecher nimmt den Fernseher mit, in dem wir all das mitbekommen, Heuschrecken, explodierende Rucksäcke, fliegende Dächer."
Doch das mäßige Staunen darüber, dass die Wirklichkeit nicht aus den Fernsehern, sondern in den Träumen vorkommt, zeigt nur, dass der, der sich da vorgenommen hat, jeden Tag zu notieren, was seine Welt ist, spürt, dass bei allem Gleichmut, bei aller Lakonie seine Haltung zu den unterschiedlichen Phänomenen dieser Welt indifferent geworden ist. Vielleicht ist es die einzige Haltung, mit der man dem großen Durcheinander in der Welt noch begegnen kann. "Auch die Seite neunundfünfzig hat ein paar Fragen parat, rufen wir nach dem Erzähler, aber der steht im Garten und rührt sich nicht von der Stelle, weil ihn sonst die Wespen massakrieren; nun gut, schauen wir in die Zeitung, ob es Neues von Hitler gibt, aber jetzt hat Paris ohne ein zweites Stalingrad kapituliert, die deutschen Hockeydamen stehen im Endspiel ebenso wie die deutschen Handballhünen, und Holland schafft das Kleingeld ab."
Becker hat seinen Erzähler eingesetzt wie ein Prisma, in dem sich seine, Beckers, Lebens- und Schreiberfahrungen brechen, und sein Buch ist wie ein Kaleidoskop, das diese gebrochenen Bilder zu verschiedenen denkbaren Lebensmöglichkeiten zusammenfügt: "Es sind Bilder aus einem Leben, das uns vor Augen führt, wie unser Leben hätte sein können. Die Möglichkeiten, die wir berührt haben, sind nicht wiedergekommen, und wir haben sie auch nicht mehr gesucht. Die Spuren des Konjunktivs kann man nicht sehen."
Aber diese Spuren sind in Beckers Buch versammelt: sorgsam geschüttelt zu einem vielfacettierten Bild; besser: zu Bildmöglichkeiten. In einem Dialog, wo nach dem Erzähler gefragt wird, der am Fenster sitzt und schaut, was sich da draußen tut, heißt es: "Da geht so manches durcheinander. - Sieht vielleicht auch nur so aus. - Jedenfalls, eine klare Linie hat er nicht. - Ob er das manchmal selber bedauert? - Kann schon sein. - Ja wer weiß, wer möchte nicht schon mal alles anders machen."
Was Jürgen Becker aus den vielen konjunktivischen Erörterungen und indikativischen Beschreibungen da gemacht hat, ist ein kleines Meisterwerk. In ihm spiegelt sich sein gesamtes schriftstellerisches Werk - auch hier so etwas wie ein Opus magnum in nuce, aber nicht, wie bei Max Frisch, als zeitnotbedingte Skizzierung dessen, was ihm als literarische Idee, als Stoff zuflog und einer späteren Aus- und Durchführung harrte und später zugeführt wurde; sondern als Ernte, als kondensierte Substanz seines literarisch Erlebten und Erfahrenen.
HEINZ LUDWIG ARNOLD
Jürgen Becker: "Die folgenden Seiten. Journalgeschichten". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 156 S., geb., 17,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Großes Werk im Kleinen: Jürgen Beckers Journalgeschichten
Wenn Schriftsteller literarische Kleinformen veröffentlichen - Notate, Aufzeichnungen oder Skizzen -, signalisieren sie damit oft, dass sie auf der Flucht vor der großen Form sind. Nicht jeder Autor hat sein Werk so grundsätzlich auf die Aufzeichnung gestellt wie Elias Canetti. Auch Martin Walsers Mesmeriana sind das vielfach gefilterte Derivat aus über vierzigjähriger Aufzeichnungsarbeit (mit inzwischen über vierzig in täglicher Übung vollgeschriebenen Blindbänden). Bevor Handke sein erstes Journal "Gewicht der Welt" publizierte, hatte er überlegt, ob er aus den dort angesammelten Beobachtungen und Stimmungsnotizen einen Roman herausarbeiten solle (wie zuvor mit "Die Stunde der wahren Empfindung" geschehen); er hat es gottlob nicht getan. Und noch heute ist das erste Tagebuch von Max Frisch paradox gesagt sein Opus magnum in nuce - er hatte es seinerzeit aus Mangel an Zeit für die Schriftstellerei neben seiner Architektenarbeit geführt, und es enthält im Grunde die literarische Substanz seines späteren Werks: Da steckten in Notaten und Skizzen ganze Dramen und Romane.
Nun hat auch Jürgen Becker ein Aufzeichnungsbuch veröffentlicht. Er hat sich eine Situation imaginiert, in der ein Erzähler zweihundert leere Seiten vor sich hat: "Die folgenden Seiten", die er in täglicher Arbeit füllen muss, täglich eine Seite. Auch ein literarisches Spiel - ähnlich jenem Tagebuch, das Christa Wolf ein Leben lang an ein und demselben Tage jeden Jahres geführt hat.
In diesem Buch mit seinen zweihundert beschriebenen "Seiten", von denen manche "Seite" freilich kaum eine halbe Buchseite füllt, stehen viele Miniaturen, ja Fragmente, in denen die unterschiedlichsten Aspekte des Lebens zu grundsätzlichen Erkenntnissen gereift sind; aber sie kommen nicht gravitätisch daher, verstehen sich nicht als erkenntnis- und erfahrungsgereifte Solitäre, sondern geben sich eher nebenbei: kleine Dialoge, poetologische Reflexionen, Gedanken zu Besuchern, Erinnerungen, Beschreibungen alltäglichen Handelns, zum Beispiel vorm halb abgeräumten Frühstückstisch. Doch insgesamt fügen sich diese Notate der verschiedensten Art, indem sie immer mal wieder aufgenommen und fortentwickelt werden, zu thematischen Strängen, die wiederum aufeinander bezogen sind. Der eine handelt davon, wie die Wohnung ausgeräumt wird; ein anderer erzählt von der fünfundsiebzigjährigen Hanna; ein weiterer reflektiert über den Krieg; dann spricht mal der Erzähler; Dialoge erörtern seine Rolle; wieder ein anderer Strang handelt von einem H.; und immer wieder gibt es sogenannte "Warteschleifen", in denen Sätze versammelt sind, die darauf zu warten scheinen, auch noch weiter ausgeführt, zu kleinen Geschichten ausgebaut zu werden.
So entsteht in der scheinbaren Fragmentierung auf verschiedenen Erzählebenen ein kleiner Kosmos als Spiegel eines größeren, in dem sich die Welt bricht - eine Welt, die nicht unberührt, aber doch aus ziemlich großer Entfernung lakonisch wahrgenommen wird: "Auf Seite hundertdreiundsechzig kommt die Frage auf, wo wir eigentlich leben, denn wo wir leben, passiert das alles nicht. Drüben die Wälder stehen und grünen wie immer; unvorstellbar, dass sie brennen, brennen, brennen. Zwischendurch mal ein trockener Sommer, aber deswegen geht das Trinkwasser nicht aus, magert keine Kuh auf versengter Wiese. Neulich träumte ich von einem Erdbeben, die Kammer hob und senkte sich, aber solchen Schrecken jagt mir nur der Traum ein. Sooft es hier regnet und wie kräftig das Flüsschen auch anschwillt, die Dorfchronik erzählt von Wasserkatastrophen nichts. Sicher, der nächste Blitz kann das Haus treffen und der nächste Einbrecher nimmt den Fernseher mit, in dem wir all das mitbekommen, Heuschrecken, explodierende Rucksäcke, fliegende Dächer."
Doch das mäßige Staunen darüber, dass die Wirklichkeit nicht aus den Fernsehern, sondern in den Träumen vorkommt, zeigt nur, dass der, der sich da vorgenommen hat, jeden Tag zu notieren, was seine Welt ist, spürt, dass bei allem Gleichmut, bei aller Lakonie seine Haltung zu den unterschiedlichen Phänomenen dieser Welt indifferent geworden ist. Vielleicht ist es die einzige Haltung, mit der man dem großen Durcheinander in der Welt noch begegnen kann. "Auch die Seite neunundfünfzig hat ein paar Fragen parat, rufen wir nach dem Erzähler, aber der steht im Garten und rührt sich nicht von der Stelle, weil ihn sonst die Wespen massakrieren; nun gut, schauen wir in die Zeitung, ob es Neues von Hitler gibt, aber jetzt hat Paris ohne ein zweites Stalingrad kapituliert, die deutschen Hockeydamen stehen im Endspiel ebenso wie die deutschen Handballhünen, und Holland schafft das Kleingeld ab."
Becker hat seinen Erzähler eingesetzt wie ein Prisma, in dem sich seine, Beckers, Lebens- und Schreiberfahrungen brechen, und sein Buch ist wie ein Kaleidoskop, das diese gebrochenen Bilder zu verschiedenen denkbaren Lebensmöglichkeiten zusammenfügt: "Es sind Bilder aus einem Leben, das uns vor Augen führt, wie unser Leben hätte sein können. Die Möglichkeiten, die wir berührt haben, sind nicht wiedergekommen, und wir haben sie auch nicht mehr gesucht. Die Spuren des Konjunktivs kann man nicht sehen."
Aber diese Spuren sind in Beckers Buch versammelt: sorgsam geschüttelt zu einem vielfacettierten Bild; besser: zu Bildmöglichkeiten. In einem Dialog, wo nach dem Erzähler gefragt wird, der am Fenster sitzt und schaut, was sich da draußen tut, heißt es: "Da geht so manches durcheinander. - Sieht vielleicht auch nur so aus. - Jedenfalls, eine klare Linie hat er nicht. - Ob er das manchmal selber bedauert? - Kann schon sein. - Ja wer weiß, wer möchte nicht schon mal alles anders machen."
Was Jürgen Becker aus den vielen konjunktivischen Erörterungen und indikativischen Beschreibungen da gemacht hat, ist ein kleines Meisterwerk. In ihm spiegelt sich sein gesamtes schriftstellerisches Werk - auch hier so etwas wie ein Opus magnum in nuce, aber nicht, wie bei Max Frisch, als zeitnotbedingte Skizzierung dessen, was ihm als literarische Idee, als Stoff zuflog und einer späteren Aus- und Durchführung harrte und später zugeführt wurde; sondern als Ernte, als kondensierte Substanz seines literarisch Erlebten und Erfahrenen.
HEINZ LUDWIG ARNOLD
Jürgen Becker: "Die folgenden Seiten. Journalgeschichten". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 156 S., geb., 17,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2007Jörn und sein Leiterwagen
Leere Blätter, prall gefüllt: Jürgen Beckers Prosaband „Die folgenden Seiten”
Es könnte ein Gedichtbändchen sein, aber der Untertitel kündigt „Journalgeschichten” an. Das erinnert an Jürgen Beckers „Journalroman” mit dem Titel „Schnee in den Ardennen” (2003) und an den Gedichtband „Journal der Wiederholungen” (1999). „Journal” bedeutet hier nicht einfach Tagebuch, aber es steckt darin noch immer eine Portion des kritischen Impulses, mit dem der junge Autor vor mehr als vierzig Jahren „gegen die Erhaltung des literarischen status quo” anstürmte. Schon sein erstes Buch („Felder” 1962, 1964) war so etwas wie ein Journal. Das „Journalführen, . . . ein Aufzeichnen von Notizen, Skizzen, Bildstadien” (so las Becker es bei Peter Weiss) schien damals überhaupt der einzige Ausweg aus der Tyrannei der versteinerten literarischen Ausdrucksformen zu sein.
Aber Jürgen Becker ging es schon damals gar nicht in erster Linie um die objektive Wirklichkeit, er bekannte sich zu einem „Sinn des Authentischen”, ja zu einem „subjektiven Ausdrucksverlangen, das in jedem literarischen Kunstwerk verborgen liegt.” Heute verwundert es uns, dass dieses Ausdrucksverlangen in seiner Radikalität zuerst einmal sich selbst verleugnete und vordergründig nichts erstrebte als eine Art Protokoll der „Bewegungen eines Bewußtseins durch die Wirklichkeit und deren Verwandlung in Sprache.”
Jürgen Becker hat das Misstrauen gegen Sprache und Literatur so weit getrieben, dass er nach seinen ersten drei Büchern „Felder” (1964), „Ränder” (1968) und „Umgebungen” (1970) den Band „Zeit ohne Wörter” (1971) veröffentlichte, ein Buch mit Schwarz-Weiß-Fotos, das tatsächlich auf Wörter verzichtete und doch mit den Texten der zuvor erschienenen Bücher subtil verbunden war. Gibt es eine Wirklichkeit überhaupt anderswo und kann man sie anderswo aufsuchen als im Bewusstsein? „Ganz sicher ist aber . . . dass ich keine Zeile schreiben kann, in der nicht etwas von meiner Existenz vorhanden ist”, erklärte er in einer „Selbstauskunft” 1994. Diese Existenz manifestiert sich als „unaufhörliches Erinnern”, wie es beinahe beiläufig im Werbetext zu „Felder” heißt.
So beginnt denn wider Erwarten auf den allerersten Seiten der „Felder” doch ein „Roman”. Aus der Erinnerung protokolliert erscheinen Wörter und Satzfetzen: „Die Mutter hat was gerufen . . . die Jahre im dicksten Schilf . . . Grab . . . Geruch von Gurken und Hölzern”. Dieser Roman rechnet mit der Lebenszeit des Autors wie des Lesers, denn nach zehn Jahren gibt es in einem Gedicht eine Fortsetzung : „In der Nähe ist eine Kindheit in Gärten, / das mögliche Grab. / Gurken, Hölzer: /Geruch von etwas Verlorenem; / August 46, / Lausitz und Grab.”
Gurken im Dellbrücker Garten
Wieder zehn Jahre später entfalten die Motive sich zu einem ganzen Hörspiel, „Im August ein See” (1983): das Ich heißt jetzt Jörn, und es ist seine Mutter, die sich ertränkt hat. Da lädt der Junge einen Wagen ab, „ein bisschen Holz, ein paar Gurken”. Und wieder viele Jahre später werden der Autor Jürgen Becker und ein Erzähler und der Leser diesen Jörn dabei beobachten, wie er sich erinnert. Seine Erinnerungen berühren die Orte und Ereignisse aus dem Lebenslauf des Autors Jürgen Becker, der, 1932 in Köln geboren, die Kriegs- und erste Nachkriegszeit in Thüringen erlebte, 1947 mit dem Vater zunächst in den Harz und dann wieder nach Köln gelangte.
Ein breites episches Werk wächst heran. Der fehlende Rest nennt sich mutig „Erzählung” (1997) und „Aus der Geschichte der Trennungen” (1999) heißt gar „Roman”! Die literarischen Verfahren, vor allem die Aufspaltung des eigenen Bewusstseins in verschiedene Rollen (als Ich, als Erzähler, als Jörn), sind wohl eine Bedingung der Wahrheitsfindung für diesen Autor gewesen – und den Leser berühren die zu Literatur gewordenen Erinnerungen, auch wenn er nicht in Köln geboren wurde. Weiß nicht jeder, wenn er Becker liest, „wie die Gurken im Dellbrücker Garten rochen und die Kiefern im Steigerwald”?
„Wer einen Leiterwagen hat, kann nicht vergessen. Wer es nicht glaubt, hat keinen Leiterwagen”: Das ist ein Aphorismus, eine „Warteschleife” aus dem neuen Buch. Vielleicht versteht das niemand, der Jürgen Becker nicht kennt, aber wer ihn kennt, weiß auch, dass jeder seinen Leiterwagen hat. Darauf beruht die Hoffnung, dass die literarische Erinnerungsarbeit nicht nur die Zeitgenossen von Jörn und Jürgen erreicht, sondern auch zur Quelle jener erweiterten Erinnerung wird, die wir Geschichte nennen.
„Die folgenden Seiten” sind ein leichtes und schalkhaftes, ein illusionsloses und doch ein glückliches Buch, geprägt von der Virtuosität der Weisheit. Noch einmal wird das Problem des Schreibens gespielt: In ein leeres Buch, das aber schon die Seitenzahlen von 1 bis 200 trägt, will der Autor seine Eintragungen machen, manche lang, manche kurz, manche dem Alltag gewidmet und dem Zauber der Belanglosigkeit, manche der obsessiven Erinnerung an den wiederauftauchenden Jörn früherer Jahre und Bücher: „Und das Datum wird Jörn nicht vergessen, weil an ebendiesem Tag seiner Mutter das Herz stehenblieb, damals in einem brandenburgischen See.” Wir wissen, dass es der 11. August war.
Das Spiel mit den literarischen Klischees der alten Avantgarde möchte man köstlich nennen (da wird ein Text aus der Wiederholung eines Satzmodells generiert, da weht uns beinahe übelriechend gewöhnliches demaskierendes Partygeschwätz an, da wird immer wieder die Schreibsituation beschrieben: „Auf Seite 22 schneit es schon den ganzen Tag” – „Die Seite 14 wartet auf das Zustandekommen einer Geschichte.” – „Nichts auf Seite fünfundfünfzig” – und ernsthafter: „Nun ist es nicht so, dass die Seite fünfundvierzig als Gedenkblatt vorgesehen wäre, das den Sommer 45 in die Gegenwart holt” – aber sie tut es auf bestürzende Weise. Mit leichter Hand wird auf Seite 100 so gut wie alles auf die Schippe genommen, was Rezensenten, Literaturwissenschaftler und Becker selbst zu Becker bemerkt haben oder hätten bemerken können. Jürgen Becker schreibt für Leser, die an so etwas Vergnügen finden und die den Jörn fast so gut kennen wie er selbst, und er dankt ihnen für ihre Zeitgenossenschaft und für ihre Anteilnahme, indem er die Karten auf den Tisch legt.HANS-HERBERT RÄKEL
JÜRGEN BECKER: Die folgenden Seiten. Journalgeschichten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 156 Seiten, 17,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Leere Blätter, prall gefüllt: Jürgen Beckers Prosaband „Die folgenden Seiten”
Es könnte ein Gedichtbändchen sein, aber der Untertitel kündigt „Journalgeschichten” an. Das erinnert an Jürgen Beckers „Journalroman” mit dem Titel „Schnee in den Ardennen” (2003) und an den Gedichtband „Journal der Wiederholungen” (1999). „Journal” bedeutet hier nicht einfach Tagebuch, aber es steckt darin noch immer eine Portion des kritischen Impulses, mit dem der junge Autor vor mehr als vierzig Jahren „gegen die Erhaltung des literarischen status quo” anstürmte. Schon sein erstes Buch („Felder” 1962, 1964) war so etwas wie ein Journal. Das „Journalführen, . . . ein Aufzeichnen von Notizen, Skizzen, Bildstadien” (so las Becker es bei Peter Weiss) schien damals überhaupt der einzige Ausweg aus der Tyrannei der versteinerten literarischen Ausdrucksformen zu sein.
Aber Jürgen Becker ging es schon damals gar nicht in erster Linie um die objektive Wirklichkeit, er bekannte sich zu einem „Sinn des Authentischen”, ja zu einem „subjektiven Ausdrucksverlangen, das in jedem literarischen Kunstwerk verborgen liegt.” Heute verwundert es uns, dass dieses Ausdrucksverlangen in seiner Radikalität zuerst einmal sich selbst verleugnete und vordergründig nichts erstrebte als eine Art Protokoll der „Bewegungen eines Bewußtseins durch die Wirklichkeit und deren Verwandlung in Sprache.”
Jürgen Becker hat das Misstrauen gegen Sprache und Literatur so weit getrieben, dass er nach seinen ersten drei Büchern „Felder” (1964), „Ränder” (1968) und „Umgebungen” (1970) den Band „Zeit ohne Wörter” (1971) veröffentlichte, ein Buch mit Schwarz-Weiß-Fotos, das tatsächlich auf Wörter verzichtete und doch mit den Texten der zuvor erschienenen Bücher subtil verbunden war. Gibt es eine Wirklichkeit überhaupt anderswo und kann man sie anderswo aufsuchen als im Bewusstsein? „Ganz sicher ist aber . . . dass ich keine Zeile schreiben kann, in der nicht etwas von meiner Existenz vorhanden ist”, erklärte er in einer „Selbstauskunft” 1994. Diese Existenz manifestiert sich als „unaufhörliches Erinnern”, wie es beinahe beiläufig im Werbetext zu „Felder” heißt.
So beginnt denn wider Erwarten auf den allerersten Seiten der „Felder” doch ein „Roman”. Aus der Erinnerung protokolliert erscheinen Wörter und Satzfetzen: „Die Mutter hat was gerufen . . . die Jahre im dicksten Schilf . . . Grab . . . Geruch von Gurken und Hölzern”. Dieser Roman rechnet mit der Lebenszeit des Autors wie des Lesers, denn nach zehn Jahren gibt es in einem Gedicht eine Fortsetzung : „In der Nähe ist eine Kindheit in Gärten, / das mögliche Grab. / Gurken, Hölzer: /Geruch von etwas Verlorenem; / August 46, / Lausitz und Grab.”
Gurken im Dellbrücker Garten
Wieder zehn Jahre später entfalten die Motive sich zu einem ganzen Hörspiel, „Im August ein See” (1983): das Ich heißt jetzt Jörn, und es ist seine Mutter, die sich ertränkt hat. Da lädt der Junge einen Wagen ab, „ein bisschen Holz, ein paar Gurken”. Und wieder viele Jahre später werden der Autor Jürgen Becker und ein Erzähler und der Leser diesen Jörn dabei beobachten, wie er sich erinnert. Seine Erinnerungen berühren die Orte und Ereignisse aus dem Lebenslauf des Autors Jürgen Becker, der, 1932 in Köln geboren, die Kriegs- und erste Nachkriegszeit in Thüringen erlebte, 1947 mit dem Vater zunächst in den Harz und dann wieder nach Köln gelangte.
Ein breites episches Werk wächst heran. Der fehlende Rest nennt sich mutig „Erzählung” (1997) und „Aus der Geschichte der Trennungen” (1999) heißt gar „Roman”! Die literarischen Verfahren, vor allem die Aufspaltung des eigenen Bewusstseins in verschiedene Rollen (als Ich, als Erzähler, als Jörn), sind wohl eine Bedingung der Wahrheitsfindung für diesen Autor gewesen – und den Leser berühren die zu Literatur gewordenen Erinnerungen, auch wenn er nicht in Köln geboren wurde. Weiß nicht jeder, wenn er Becker liest, „wie die Gurken im Dellbrücker Garten rochen und die Kiefern im Steigerwald”?
„Wer einen Leiterwagen hat, kann nicht vergessen. Wer es nicht glaubt, hat keinen Leiterwagen”: Das ist ein Aphorismus, eine „Warteschleife” aus dem neuen Buch. Vielleicht versteht das niemand, der Jürgen Becker nicht kennt, aber wer ihn kennt, weiß auch, dass jeder seinen Leiterwagen hat. Darauf beruht die Hoffnung, dass die literarische Erinnerungsarbeit nicht nur die Zeitgenossen von Jörn und Jürgen erreicht, sondern auch zur Quelle jener erweiterten Erinnerung wird, die wir Geschichte nennen.
„Die folgenden Seiten” sind ein leichtes und schalkhaftes, ein illusionsloses und doch ein glückliches Buch, geprägt von der Virtuosität der Weisheit. Noch einmal wird das Problem des Schreibens gespielt: In ein leeres Buch, das aber schon die Seitenzahlen von 1 bis 200 trägt, will der Autor seine Eintragungen machen, manche lang, manche kurz, manche dem Alltag gewidmet und dem Zauber der Belanglosigkeit, manche der obsessiven Erinnerung an den wiederauftauchenden Jörn früherer Jahre und Bücher: „Und das Datum wird Jörn nicht vergessen, weil an ebendiesem Tag seiner Mutter das Herz stehenblieb, damals in einem brandenburgischen See.” Wir wissen, dass es der 11. August war.
Das Spiel mit den literarischen Klischees der alten Avantgarde möchte man köstlich nennen (da wird ein Text aus der Wiederholung eines Satzmodells generiert, da weht uns beinahe übelriechend gewöhnliches demaskierendes Partygeschwätz an, da wird immer wieder die Schreibsituation beschrieben: „Auf Seite 22 schneit es schon den ganzen Tag” – „Die Seite 14 wartet auf das Zustandekommen einer Geschichte.” – „Nichts auf Seite fünfundfünfzig” – und ernsthafter: „Nun ist es nicht so, dass die Seite fünfundvierzig als Gedenkblatt vorgesehen wäre, das den Sommer 45 in die Gegenwart holt” – aber sie tut es auf bestürzende Weise. Mit leichter Hand wird auf Seite 100 so gut wie alles auf die Schippe genommen, was Rezensenten, Literaturwissenschaftler und Becker selbst zu Becker bemerkt haben oder hätten bemerken können. Jürgen Becker schreibt für Leser, die an so etwas Vergnügen finden und die den Jörn fast so gut kennen wie er selbst, und er dankt ihnen für ihre Zeitgenossenschaft und für ihre Anteilnahme, indem er die Karten auf den Tisch legt.HANS-HERBERT RÄKEL
JÜRGEN BECKER: Die folgenden Seiten. Journalgeschichten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 156 Seiten, 17,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Einen ganz neuen Jürgen Becker hat Sven Hanuschek in dessen Journalgeschichten entdeckt. Ihm gefallen die Offenheit, Lockerheit und Verspieltheit dieses aus Aphorismen, absurden Dialogen, Fortsetzungsgeschichten und Selbstreflexionen bestehenden Buches. Becker finde "bestechende, machmal surrealistische Bilder" und auch die Komik komme nicht zu kurz, lobt er. Dabei sei alles viel leichter, nicht so dröge oder "bemüht reflektiert" wie bisweilen in älteren Texten des Autors, obwohl er auch in seinem neuesten Buch gewichtige Themen angehe. Diesem frischen Jürgen Becker verzeiht der Rezensent auch, dass sein Erzähler manchmal etwas eitel demonstriert, was für ein "thinking poet" er doch ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Aber in jedem Splitter ist das ganze Konzept, nie hat Jürgen Becker das Stoffliche so minimiert und fast nur aus der Sprachbewegung enigmatisch-poetische Kraftfelder erzeugt.« DIE ZEIT