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In der literarischen Darstellung der Folter überschneiden sich unterschiedliche Diskurse - der ästhetische, der rechtsgeschichtliche, der kriminologische, der politische sowie der medizinisch-traumatologische. In interdisziplinärer Perspektive, jedoch mit der Literaturwissenschaft als ihrem Zentrum, untersucht die Studie Fragen nach der Repräsentation des Körpers, der Ästhetik des Nichtschönen, der Sprache der Wahrheit und der imaginierten Autonomie des Willens angesichts physischen Schmerzes. Sie gewährt einen Überblick über die Thematisierungen der Folter in der deutschsprachigen Literatur,…mehr

Produktbeschreibung
In der literarischen Darstellung der Folter überschneiden sich unterschiedliche Diskurse - der ästhetische, der rechtsgeschichtliche, der kriminologische, der politische sowie der medizinisch-traumatologische. In interdisziplinärer Perspektive, jedoch mit der Literaturwissenschaft als ihrem Zentrum, untersucht die Studie Fragen nach der Repräsentation des Körpers, der Ästhetik des Nichtschönen, der Sprache der Wahrheit und der imaginierten Autonomie des Willens angesichts physischen Schmerzes. Sie gewährt einen Überblick über die Thematisierungen der Folter in der deutschsprachigen Literatur, gibt Exkurse zu den für die Repräsentation der Folter zentralen Debatten und enthält ausführliche Einzelanalysen zu E.T.A. Hoffmann, dem späten Ludwig Tieck, Franz Kafka und Jean Améry. Bislang wurde die Darstellung der Folter - wenn überhaupt - entweder an nur wenigen Einzelwerken oder aber generalisierend (Elaine Scarry) untersucht. Nun liegt erstmals eine Studie über längerfristige Wandlungen in der Folterdarstellung eines Literaturraums vor.
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Autorenporträt
Dr. Sven Kramer promovierte 1995 an der Universität Hamburg und lehrt seitdem an der Universität Lüneburg Kulturwissenschaften.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Nur der Schmerz kann unendlich wachsen
Sven Kramers Studie über die Folter in der deutschen Literatur / Von Alexander Honold

Die Folter gehört zum Schlimmsten, was Menschen ihresgleichen antun können." Mit diesem Satz - den man fast ein Axiom nennen könnte, würden nicht die Erfahrungen der Menschheitsgeschichte auf ihm lasten - beginnt die Untersuchung des Hamburger Literaturwissenschaftlers Sven Kramer, deren Lektüre sich kaum ohne Beklemmung aufnehmen läßt. Es handelt sich um eine höchst materialreiche, umsichtig zusammengestellte Studie zu Formen und Darstellungsweisen der Folter in der jüngeren deutschen Literaturgeschichte, somit eben auch um eine Exkursion in die Schreckenskapitel deutscher Geschichte. Tatsächlich eröffnet das Buch eine Vielzahl von erwartbar grausamen Einblicken in vorgestellte und begangene Gewaltexzesse. Doch gelingt es Kramer, inmitten der überwältigenden Dokumente und Imaginationen sowohl die Gefahr der dramaturgischen Effekthascherei zu vermeiden wie auch jene des hohlen moralischen Appells.

Seit über zweihundert Jahren besteht ein weitverbreiteter Konsens über die moralische und politische Ächtung all jener Formen obrigkeitlicher Gewalt, die darauf abzielen, mit Hilfe der Zufügung physischer und psychischer Schmerzen Geständnisse zu erpressen oder die Demütigung und Verstümmelung eines Opfers bis hin zu seinem Tode zu bewirken. Ausdrücklich wurde das Verbot der Folter mit der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" von 1948 weltweit als Norm politischen Handelns festgeschrieben. Wer aber heute über "die Aktualität der Folter" schreibt, muß die fortdauernde Dringlichkeit seines Gegenstandes kaum eigens begründen. Kramers Arbeit hat diese Aktualität keineswegs erheischt. Seine Habilitationsschrift, inspiriert von den Arbeiten Jan Philipp Reemtsmas, bietet einen gründlich recherchierten monographischen Längsschnitt, der von der Aufklärung bis zur klassischen Moderne reicht. Auch wenn es uns nicht gefallen mag: auf den Spuren des Phänomens Folter läßt sich ein ziemlich belegstellenreicher Gang durch die deutsche Literaturgeschichte unternehmen.

Das Verfahren ist im wesentlichen historisch angelegt, wenngleich Kramer durchgängig folgende systematischen Aspekte der Folter und ihrer Darstellung geltend macht: Inwieweit beziehungsweise seit wann zählt die traumatisierende Wirkung der Folter zum impliziten Wissen der Literatur? Oder ist die Folterdarstellung mit einem heroischen Subjektentwurf verbunden, aus dem die Forderung abgeleitet wird, dem Zugriff der Gewalt widerstehen zu können? Schließlich die rezeptionsästhetische Frage nach dem möglichen Vergnügen an der Schilderung fremder Folterqualen; und, ins Dekonstruktive gewendet: der Widerstreit zwischen der Authentizitätserwartung, die solchen Schilderungen entgegengebracht wird, und ihrer genuin rhetorischen Verfaßtheit als je schon literarisierter Wirklichkeit. Es geht dabei stets um ein arbeitsteilig produziertes Phänomen: Während der juridische und der politische Diskurs den Tatbestand der Folter historisch profilieren, arbeiten Ethik und Ästhetik an seiner Bewertung und Deutung; die künstlerischen Praxen schließlich erproben immer wieder neu die Spielräume des Sagbaren, Sichtbaren und Vorstellbaren.

Mit dem Regierungsantritt Friedrichs II. in Preußen 1740 markiert Kramer den historischen Einsatzpunkt eines Langzeitprozesses der Zurückdrängung und Ächtung staatlicher Folter. Die Philosophen melden sich vor 1800 überwiegend mit folterkritischen Einlassungen zu Wort, während die Literatur die Drastik expliziter Tortur-Vorgänge tunlichst meidet und "Folter" lediglich in einem "hyperbolischen", uneigentlichen Wortgebrauch verwendet. Längst waren die Hexenprozesse und der Dreißigjährige Krieg verblaßt. Wenn Jakob Michael Reinhold Lenz formulierte: "Lustige Gesellschaft ist eine Folterbank für Unglückliche", mußte niemand bei diesem Scherzchen zusammenzucken. Die schwarze Romantik griff daher ins historisch oder religiös Entlegene, um das Fortschrittscredo des Vernunftzeitalters mit albtraumartigen Schilderungen zu verstören, in welchen fromme Sanftmut sich als Kehrseite unbändiger Mordlust erweisen konnte.

In der Ästhetik Baudelaires zeigen sich Gewaltzufügung und Liebesakt eng verschwistert. Der Phantasie eröffnet sich hier ein heikles Betätigungsfeld, das von den Dezenz-Strategien der Aufklärung umgangen worden war. Bereits in der Romantik, spätestens aber mit den "poètes maudits" (Lautréamont, Rimbaud) rückt die Komplizenschaft zwischen dargestellter Grausamkeit und rezeptiver Angstlust erneut in den Blick, die sich schon in Burkes Konzeption des "delightful horror" angedeutet hatte. Nach Lichtenbergs Einsicht besteht das schöpferische Potential der Grausamkeit darin, daß zwar der Tod ihr ein stets lapidares, unveränderliches Ende setzt, der Schmerz hingegen eine variable Größe ist, "die unendlich wachsen kann". Der verabreichte Schmerz und die ästhetische Lust daran sind einer progressiven Raffinesse zugänglich. Freilich zeigt schon der kursorische Blick in die Folter- und Lustgemächer des Marquis de Sade, daß kein Kitzel gegen Abstumpfung gefeit ist und kein Ausdrucksmittel gegen seine inflationäre Entwertung.

Konnte im 19. Jahrhundert organisierte Grausamkeit als reines Kunstprodukt erscheinen, als ästhetisches Programm weltverneinender Immoralisten, so beginnt mit den Schocktherapien an den Kriegsneurotikern des Ersten Weltkriegs die manifeste Wiederkehr staatlicher Zwangsmittel auf technisch-industriellem Niveau. Ernst Jüngers Schreckenslandschaften des Krieges und vor allem die "Strafkolonie" Franz Kafkas bekunden, daß der Zugriff eines totalen Gewaltapparates wieder konkret geworden ist. Als Parallele hierzu zeichnet Kramer den Machtzuwachs der staatlichen Polizeiapparate nach. Im NS-Staat verbinden sich beide Linien zum Polizeiterror der Gestapo, zur gewaltsamen Geständniserpressung und schließlich zur Vernichtungsfolter in den Todeslagern.

In Jean Amérys Bericht über seine Folterung artikuliert sich der Identitätsverlust und die lebenslange Gebrochenheit des Gefolterten als ins Äußerste getriebene Sachlichkeit - für Kramer ein Zeugnis des von den Überlebenden erlittenen "Seelenmords". Bei Kafka hatte die Tortur die Form eines Schreibaktes angenommen, bei welchem das Opfer durch die eingestanzte Schrift seines Urteils verstümmelt wurde. Die ganze quälende Prozedur spielt, so Kramers Deutung, in einem "tropischen" Raum ohne Ausweg, mithin in der rhetorischen Dimension der Sprache selbst. Angesichts der im NS-Staat wieder legalisierten Folter und der fabrikmäßigen Menschentötung traten ästhetische Formexperimente in den Hintergrund. Im literarischen Diskurs über die Folter aber, so zeigt Kramers Untersuchung eindringlich, müssen beide Stimmen gleichermaßen gehört werden, die der Holocaust-Literatur ebenso wie jene der ästhetischen Avantgarde.

Sven Kramer: "Die Folter in der Literatur". Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa von 1740 bis ,nach Auschwitz'." Wilhelm Fink Verlag, München 2004. 528 S., br., 64,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "höchst materialreiche, umsichtig zusammengestellte Studie" zu Formen und Darstellungsweisen der Folter in der jüngeren deutschen Literaturgeschichte lobt Rezensent Alexander Honold dieses Buch. Er hat die Untersuchung des Hamburger Literaturwissenschaftlers nicht ohne Beklemmung lesen können, da sie, wie er schreibt, auch eine Exkursion in die Schreckenskapitel deutscher Geschichte sei und das Buch ihm eine Vielzahl von grausamen Einblicken in vorgestellte oder begangene Gewaltexzesse eröffnete. Mit großer Hochachtung quittiert der Rezensent die Fähigkeit Sven Kramers, "inmitten der überwältigenden Dokumente und Imaginationen" sowohl die Gefahr der Effekthascherei zu vermeiden "wie auch jene des hohlen moralischen Appells". Die Honold zufolge durch Arbeiten von Jan Philipp Reemtsma inspirierte Studie biete einen monografischen Längsschnitt von der Aufklärung bis zur klassischen Moderne. "Auch wenn es uns nicht gefallen mag", schreibt der Rezensent, auf den Spuren der Folter lasse sich ein ziemlich belegstellenreicher Gang durch die deutsche Literaturgeschichte unternehmen, der nicht erst mit dem Nationalsozialismus beginne. Das Verfahren der Studie sei im Wesentlichen historisch, dennoch findet der Rezensent besonders an der jüngsten Geschichte "eindringlich" dargestellt, dass der literarische Diskurs gleichwertig dazugehört. Die Stimmen der Holocaust-Literatur müssten dabei ebenso gehört werden wie jene der ästhetischen Avantgarde.

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