"Selten hat über Wein nur zu lesen so viel Spaß gemacht. Michel Onfray ist ein würdiger Nachfolger Platons, der in seinem Gastmahl das Saufgelage philosophisch adelte."(Christian Jürgens, Die Zeit)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.1999In der Süße liegt die Muße
"Erheb das trunkne Auge zum strahlenden Azur", spricht der Dichter: "beug' nieder dich und sauge den Duft der Flur." Wäre diese Hymne auf den Frühling noch um einen Vers auf das Wasser ergänzt worden, hätte sie eine ideale Einführung in das neue Buch von Michel Onfray abgegeben, denn es feiert die schöpferische Kraft der Natur. Der französische Studienrat für Philosophie, nach Verlagsangaben Sohn eines Landarbeiters und ehemaliger Käseverkäufer, ist ein eifriger Verfasser leicht schwülstiger philosophischer Essays zu Fragen des Geschmacks: Genießerische Vernunft, Ekstase des Genusses, sinnlicher Genuß. Philosophenbäuche waren eines seiner Themen. Nun hat er abermals seiner kulinarischen Leidenschaft nachgegeben und ein schmales Bändchen publiziert, in dem er einem Wein huldigt: dem Sauternes ("Die Formen der Zeit". Theorie des Sauternes. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Merve Verlag, Berlin 1999. 127 S., br., 18,- DM; also ungefähr so viel wie ein besserer Riesling Kabinett). Der im Bordelais angebaute Süßwein ist zweifelsohne der berühmteste Vertreter seines Genres, und ein Gut wie Château d'Yquem, das angeblich im Besitz der Vorfahren von Montaigne gewesen sein soll, gilt - zu Recht oder nicht - als weltweit bester Produzent von Süßweinen überhaupt. Onfray gibt sich aber nicht damit zufrieden, in lokalpatriotischen Lobpreis zu verfallen. Vielmehr dient ihm die Kulturgeschichte des Weinbaus allgemein und die Herstellung eines Sauternes im speziellen als Ausgangspunkt für eine Erörterung der Zeit. Analog zur biblischen Schöpfungsgeschichte ist sein Buch in einzelne Tage unterteilt (mit dem leichten Unterschied, daß der siebte Tag bei Onfray entfällt; bei ihm wird schon am sechsten, dem "hedonistischen" Tag ausgiebig geruht und vor allem getrunken). So nimmt uns der Autor auf einen Parforceritt durch die Erdgeschichte mit, galoppiert von der "genealogischen Zeit", als sich unter den Wassermassen des jungen Erdplaneten die Steine ausgebildet haben sollen, zur "seminalen Zeit", mit der er das Wachstum der Pflanzen bezeichnet, gibt dann den Unwägbarkeiten des Klimas unter dem Rubrum der "aleatorischen Zeit" Raum, findet die Edelfäule, die dem Sauternes (wie jedem besseren Süßwein) erst seinen Charakter verschafft, in der "ontologischen Zeit" verankert und vergibt, bevor es endlich, endlich doch wieder zum Onfray-typischen Genießen kommt, noch ein Kapitel für die "agrarische Zeit": als Hommage an den nimmer rastenden Landmann. Gegenüber den Begeisterungsstürmen, die Onfray aber bereits vorher dem Wein von Sauternes gewidmet hat, bleibt diese Liebeserklärung an den dortigen Winzerstand geradezu blaß. Der Rebensaft hat seine Anhänger seit jeher zu Exzessen verführt, und die Sprache leidet unter der Einwirkung eines guten Tropfens schneller als andere koordinierte Handlungen. Das ist bei Onfray nicht anders, und sein Übersetzer ist dafür zu bewundern, daß er den trunkenen Ton des Originals ins Deutsche retten konnte. Der Leser indes ist zu bedauern, wenn er sich berichten lassen muß, daß der Wein "als ein der Zeit eingeschriebener Stoff wie eine Skulptur aus ihr hervorgeht und stetem Wandel unterliegt", also "für die Bewegung steht". Das hübsche Bild von der wandelnden Skulptur erinnert an die beliebte Rede in Trinkerrunden, dieser oder jeder Wein sei "ein Monument". Daß diese Verkörperung der Dauer gerade im Begriff ist, in den Kehlen der Lobredner zu verschwinden, ficht solch einen munteren Kreis nicht weiter an. Auch daß der römische Konsul Ausonius (der Namensgeber des hervorragenden Château Ausone in St. Emilion) als Kronzeuge für die lange Weinkultur des Bordelais genannt wird, entbehrt nicht der Pikanterie, hat er doch, wie der Übersetzer dankenswerterweise auch anmerkt, aus guten Gründen sein bekanntes Weingedicht auf die Konkurrenzprodukte von der Mosel verfaßt, wo heute noch die besseren Dessertweine erzeugt werden. Die blumige Sprache des Essays entspricht der süßlichen Note seines Gegenstands, doch wie jeder typische Sauternes hat auch Onfrays kurze Geschichte der Zeit einen Beigeschmack, der nicht jedermanns Sache sein dürfte: Beide, Sauternes wie "Die Formen der Zeit", wirken wie gelackt.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Erheb das trunkne Auge zum strahlenden Azur", spricht der Dichter: "beug' nieder dich und sauge den Duft der Flur." Wäre diese Hymne auf den Frühling noch um einen Vers auf das Wasser ergänzt worden, hätte sie eine ideale Einführung in das neue Buch von Michel Onfray abgegeben, denn es feiert die schöpferische Kraft der Natur. Der französische Studienrat für Philosophie, nach Verlagsangaben Sohn eines Landarbeiters und ehemaliger Käseverkäufer, ist ein eifriger Verfasser leicht schwülstiger philosophischer Essays zu Fragen des Geschmacks: Genießerische Vernunft, Ekstase des Genusses, sinnlicher Genuß. Philosophenbäuche waren eines seiner Themen. Nun hat er abermals seiner kulinarischen Leidenschaft nachgegeben und ein schmales Bändchen publiziert, in dem er einem Wein huldigt: dem Sauternes ("Die Formen der Zeit". Theorie des Sauternes. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Merve Verlag, Berlin 1999. 127 S., br., 18,- DM; also ungefähr so viel wie ein besserer Riesling Kabinett). Der im Bordelais angebaute Süßwein ist zweifelsohne der berühmteste Vertreter seines Genres, und ein Gut wie Château d'Yquem, das angeblich im Besitz der Vorfahren von Montaigne gewesen sein soll, gilt - zu Recht oder nicht - als weltweit bester Produzent von Süßweinen überhaupt. Onfray gibt sich aber nicht damit zufrieden, in lokalpatriotischen Lobpreis zu verfallen. Vielmehr dient ihm die Kulturgeschichte des Weinbaus allgemein und die Herstellung eines Sauternes im speziellen als Ausgangspunkt für eine Erörterung der Zeit. Analog zur biblischen Schöpfungsgeschichte ist sein Buch in einzelne Tage unterteilt (mit dem leichten Unterschied, daß der siebte Tag bei Onfray entfällt; bei ihm wird schon am sechsten, dem "hedonistischen" Tag ausgiebig geruht und vor allem getrunken). So nimmt uns der Autor auf einen Parforceritt durch die Erdgeschichte mit, galoppiert von der "genealogischen Zeit", als sich unter den Wassermassen des jungen Erdplaneten die Steine ausgebildet haben sollen, zur "seminalen Zeit", mit der er das Wachstum der Pflanzen bezeichnet, gibt dann den Unwägbarkeiten des Klimas unter dem Rubrum der "aleatorischen Zeit" Raum, findet die Edelfäule, die dem Sauternes (wie jedem besseren Süßwein) erst seinen Charakter verschafft, in der "ontologischen Zeit" verankert und vergibt, bevor es endlich, endlich doch wieder zum Onfray-typischen Genießen kommt, noch ein Kapitel für die "agrarische Zeit": als Hommage an den nimmer rastenden Landmann. Gegenüber den Begeisterungsstürmen, die Onfray aber bereits vorher dem Wein von Sauternes gewidmet hat, bleibt diese Liebeserklärung an den dortigen Winzerstand geradezu blaß. Der Rebensaft hat seine Anhänger seit jeher zu Exzessen verführt, und die Sprache leidet unter der Einwirkung eines guten Tropfens schneller als andere koordinierte Handlungen. Das ist bei Onfray nicht anders, und sein Übersetzer ist dafür zu bewundern, daß er den trunkenen Ton des Originals ins Deutsche retten konnte. Der Leser indes ist zu bedauern, wenn er sich berichten lassen muß, daß der Wein "als ein der Zeit eingeschriebener Stoff wie eine Skulptur aus ihr hervorgeht und stetem Wandel unterliegt", also "für die Bewegung steht". Das hübsche Bild von der wandelnden Skulptur erinnert an die beliebte Rede in Trinkerrunden, dieser oder jeder Wein sei "ein Monument". Daß diese Verkörperung der Dauer gerade im Begriff ist, in den Kehlen der Lobredner zu verschwinden, ficht solch einen munteren Kreis nicht weiter an. Auch daß der römische Konsul Ausonius (der Namensgeber des hervorragenden Château Ausone in St. Emilion) als Kronzeuge für die lange Weinkultur des Bordelais genannt wird, entbehrt nicht der Pikanterie, hat er doch, wie der Übersetzer dankenswerterweise auch anmerkt, aus guten Gründen sein bekanntes Weingedicht auf die Konkurrenzprodukte von der Mosel verfaßt, wo heute noch die besseren Dessertweine erzeugt werden. Die blumige Sprache des Essays entspricht der süßlichen Note seines Gegenstands, doch wie jeder typische Sauternes hat auch Onfrays kurze Geschichte der Zeit einen Beigeschmack, der nicht jedermanns Sache sein dürfte: Beide, Sauternes wie "Die Formen der Zeit", wirken wie gelackt.
ANDREAS PLATTHAUS
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