Der Autor des 2112seitigen Jahrhundertromans Fluss ohne Ufer wird im Jahr 1952 um einen Vortrag gebeten und begibt sich auf die tastende Suche nach dem Anlass seiner Kunst, von Kunst überhaupt. Wir publizieren erstmals die erste, ungekürzte Fassung des Vortragstextes, in der Jahnn seine erstaunlichen ästhetischen Reflexionen noch von langen (später stark gekürzten oder gestrichenen) mäandernden Passagen aus dem eigenen, mitreißend dahinströmenden Roman umfließen lässt. Durch unsere Zurücknahme der Streichungen erweist sich der kleine Text als einmalige Gelegenheit, sich Jahnns Hauptwerk in langen von ihm selbst ausgewählten Passagen gleichsam vom Autor kommentiert zu nähern. Zudem bietet das Heft ein existentialistisches Zwiegespräch zur Ästhetik des Anlasses in der Kunst, indem es Jahnns Betrachtungen mit Kierkegaards Scribe-Essay kurzschließt. Mit jenem Text also, in dem der dänische Philosoph seinerseits nach dem paradoxen Keimpunkt sucht, dem alle Kunst entspringt. Der Anlass entpuppt sich einmal mehr als der Zufall, der allen Werken ihre Notwendigkeit verleiht. Ein unscheinbarer, aber zündender Funken Transzendenz, der die Schöpfung allererst in Gang setzt. Mit der Betonung auf Transition, nicht Transzendenz. Eine zutiefst menschliche Ästhetik, die den Künstler nicht als übermächtiges Genie feiert, sondern als Menschen befragt, der sich durchqueren lässt, zum »Schauplatz von Ereignissen« wird, dem Gesang der Welt lauscht und seinen unbewussten Vorwegnahmen folgt. Mit einem Nachwort des Herausgebers Reiner Niehoff (Autor von: Hans Henny Jahnn: Die Kunst der Überschreitung, Matthes & Seitz München 2001)