Alles beginnt mit einer fliehenden Kuh. Kaum hat sie Frau Hasler über den Haufen gerannt, hebt sich der Vorhang und die Fragwürdigen betreten einer nach der anderen die Bühne. Jede und jeder ein Unikat, Künstler und Künstlerinnen des Lebens. Eine Frau, die den Zug nicht verlassen will, weil sie sich vor dem Schmutz da draussen fürchtet. Ein Mann, der mit Pralinen nicht umgehen kann. Die für zu leicht befundene Alice und der dicke Marc. Erwin, der nicht versteht, warum nicht alle so sind wie er. Die umsichtige Frau Sägisser und die vielleicht gar nicht so hilfsbereite Frau Siegentaler. Menschen, die ihre Liebe nur spüren, weil sie getrennt sind, Menschen, die nur zusammen sind, weil sie ihre Lügen lieben. Leute mit sprechenden und verschwiegenen Namen. Und natürlich die Polizei!
Es herrscht ein wunderbares Durcheinander in diesem Buch. Judith Kellers Prosa gibt all jenen eine Stimme, die sonst in den Wörtlichkeiten hängen bleiben. Manchen genügt ein Kurzauftritt, andere brauchen etwas länger. Immer aber müssen sie durch jene feingeschliffene Sprache hindurch, die ihnen diese Schwyzer Autorin für einen Moment zur Verfügung stellt und sie und uns die Lage erkennen lässt.
Ein Buch zum Aufblättern und Darin-Versinken.
Es herrscht ein wunderbares Durcheinander in diesem Buch. Judith Kellers Prosa gibt all jenen eine Stimme, die sonst in den Wörtlichkeiten hängen bleiben. Manchen genügt ein Kurzauftritt, andere brauchen etwas länger. Immer aber müssen sie durch jene feingeschliffene Sprache hindurch, die ihnen diese Schwyzer Autorin für einen Moment zur Verfügung stellt und sie und uns die Lage erkennen lässt.
Ein Buch zum Aufblättern und Darin-Versinken.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2018Frau Vogelsangers nächtlicher Auftrag
Sieben Haltestellen: Judith Kellers Prosaband „Die Fragwürdigen“ ist ein feines literarisches Kunststück über die Menschen der Gegenwart
Sten Nadolny sagte in einem Interview über seinen Roman „Zwist der Zauberer“, er handle von „verletzlichen Menschen“ und ihren „schützenswerten Geheimnissen.“ Damit formulierte der kluge und freundliche Mann mal eben so eine mögliche Antwort, mit der wir Literaturkritiker uns immer so schwer tun, wenn es um die Frage geht, was die wirklich große Literatur im Innersten auszeichnet. Auch Judith Kellers kurze Prosa-Stücke zählen dazu, wenn man diesen Maßstab anlegt.
Judith Keller ist eine Schreibschul-Absolventin und führt aufs Schönste die Verächter von Leipziger, Hildesheimer oder Bieler Absolventinnen und Absolventen vor. Von Konformität, Ich-Bezogenheit, formaler Langeweile kann bei den kurzen Texten, welche die 1985 geborene Schweizer Autorin unter dem Titel „Die Fragwürdigen“ versammelt, keine Rede sein. Sie sind auch nicht auftrumpfend, man kann den Titel, der vielleicht eher Monumentales verspricht, sogar selbstironisch verstehen. Wobei sich durchaus Monumentales dahinter verbirgt, wenn Judith Keller in den kurzen Szenen des Bandes die Sprache auf ihre Brauchbarkeit abklopft, so, wie es ansonsten üblich geworden ist, Menschen auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen und entsprechend zu, ja, selektieren.
Die Formidee ihres Buches ist denkbar einfach. Die sieben Kapitel entsprechen sieben Zürcher Haltestellen, verbunden durch den Gang einer „weit hergeholten“ Frau, die der „höchsten Zeit“ zuzustreben scheint. Wir fahren mit der Autorin also durch Zürich und sehen bzw. besser: hören uns um. Die Geschichten könnten auf dem beruhen, was man in der Straßenbahn so aufschnappt und beobachtet oder sich denkt, wenn man seinem Sitznachbarn ins faltige, strahlende oder auch verdüsterte Gesicht schaut.
Was sich dann sammelt unter den Händen und Worten von Judith Keller ist, wie die letzte Haltestelle heißt: eine Sukkulentensammlung menschlicher Merkwürdigkeiten; Sukkulenten sehen von außen ja auch wenig beachtlich aus und speichern doch die Essenz des Lebens in ihren unansehnlichen Blättern. Anpassungsfähig sind sie, wie der Mensch anpassungsfähig ist. Wenn seine Umwelt karger, feindlicher wird, zieht er sich nach innen zurück, verbirgt seine schützenswerten Geheimnisse unter einem Deckmantel und die Außenwelt tut das Ihre, um diese Geheimnisse unter Begriffen, Etiketten und Konventionen zum Schweigen zu bringen.
Diesen Vorgang legt Judith Keller frei, wenn Sie zum Beispiel im zweiten Kapitel „Schwert“ Geschichten versammelt, die von alten Menschen handeln. Frau Sägisser zum Beispiel, die eines schönen Tages die Schiebetür öffnet, um ihren Eltern beim Heumachen zu helfen. Oder Frau Vogelsanger, die einem nächtlichen Auftrag folgen muss und den Beweis dafür am Ende ihrer Reise „sorgsam in den Papierkorb“ legt. Man glaubt zu verstehen, dass Frau Sägisser und Frau Vogelsanger vermutlich in einem Heim leben, vermutlich dement sind. Diese Etiketten spielen für Judith Keller aber keine Rolle, sondern die Erleichterung der einen, dass sie ohne Schuld auf sich zu laden, die Heuernte auf morgen verschieben darf, und die stille Überzeugung der anderen, dass ihre Reise stattgefunden und sie ihren Auftrag erfüllt hat. Sorgsam, freundlich ist es auch, wie Judith Keller mit wenigen Sätzen der Realität der beiden Damen, ganz ohne Aufregung, zu ihrem Recht verhilft und uns damit zurückführt zu einer humanen Betrachtung der Welt.
Mal sind es Einzelmenschen, denen sich Judith Kellers Geschichten widmen. Da ist die Lehrerin, die immer wieder die Fehler ihrer Schüler löscht, um „Zuversicht zu streuen“, oder ein Ehemann, der seine Angst pochen spürt. Dann wieder sind es ganze gesellschaftliche Sphären, die Judith Keller in aller Kürze einzufangen versteht. Die Arbeitswelt ist ein Thema, das sich an der Haltestelle „Elektrowatt“ in den Vordergrund schiebt, wenn Anatol einer Arbeit „nachgeht“ und Keller dem Wort nachlauscht und frei legt, was es bedeutet. Und im vorangegangenen Kapitel tauchte Martha auf, deren Arbeit darin besteht, „abwesend zu sein.“
Bei Keller fällt nicht der einem auf einmal lügenhaft erscheinende Begriff „Arbeitslosigkeit“, sondern es heißt über Marthas Tätigkeit: „Es ist eine Arbeit, die einen starken Willen und Unnachgiebigkeit erfordert, dazu einen Umgang mit der Unsichtbarkeit, der es in sich hat.“ Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit diese Autorin eine Sprache, Bilder für innere Wahrheiten findet. Dabei sind diese Bilder nie harmlos oder beschwichtigend. Im Gegenteil, sie haben, wie in der Miniatur „Krieg“, das Zeug zu beschämenden Analysen unserer gesellschaftlichen Verfasstheit, kommen aber daher wie die luftigsten, leichtesten, freundlichsten Tupfer auf dem beschädigten Seelenleben eines erstarrten und still gestellten Kollektivs.
Die bevorzugte Beziehungsform dieser Tage, das Casting, stellt Judith Keller mit ihrem beeindruckenden Debüt, vom Kopf auf die Füße und gibt denen, die gecasted werden sollen ihre Würde zurück, während diejenigen, die casten, sich infrage gestellt sehen. Ein kleines sprachliches Wunderwerk hat Judith Keller mit „Die Fragwürdigen“ geschaffen. Hoffen wir auf mehr von ihr.
INSA WILKE
An der Haltestelle „Elektrowatt“
steigt die Arbeitswelt zu
Hier wird das Casting-Ritual
vom Kopf auf die Füße gestellt
Judith Keller: Die Fragwürdigen. Geschichten. Edition Spoken script/Der gesunde Menschenverstand, Luzern 2017. 148 S., 18,50 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sieben Haltestellen: Judith Kellers Prosaband „Die Fragwürdigen“ ist ein feines literarisches Kunststück über die Menschen der Gegenwart
Sten Nadolny sagte in einem Interview über seinen Roman „Zwist der Zauberer“, er handle von „verletzlichen Menschen“ und ihren „schützenswerten Geheimnissen.“ Damit formulierte der kluge und freundliche Mann mal eben so eine mögliche Antwort, mit der wir Literaturkritiker uns immer so schwer tun, wenn es um die Frage geht, was die wirklich große Literatur im Innersten auszeichnet. Auch Judith Kellers kurze Prosa-Stücke zählen dazu, wenn man diesen Maßstab anlegt.
Judith Keller ist eine Schreibschul-Absolventin und führt aufs Schönste die Verächter von Leipziger, Hildesheimer oder Bieler Absolventinnen und Absolventen vor. Von Konformität, Ich-Bezogenheit, formaler Langeweile kann bei den kurzen Texten, welche die 1985 geborene Schweizer Autorin unter dem Titel „Die Fragwürdigen“ versammelt, keine Rede sein. Sie sind auch nicht auftrumpfend, man kann den Titel, der vielleicht eher Monumentales verspricht, sogar selbstironisch verstehen. Wobei sich durchaus Monumentales dahinter verbirgt, wenn Judith Keller in den kurzen Szenen des Bandes die Sprache auf ihre Brauchbarkeit abklopft, so, wie es ansonsten üblich geworden ist, Menschen auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen und entsprechend zu, ja, selektieren.
Die Formidee ihres Buches ist denkbar einfach. Die sieben Kapitel entsprechen sieben Zürcher Haltestellen, verbunden durch den Gang einer „weit hergeholten“ Frau, die der „höchsten Zeit“ zuzustreben scheint. Wir fahren mit der Autorin also durch Zürich und sehen bzw. besser: hören uns um. Die Geschichten könnten auf dem beruhen, was man in der Straßenbahn so aufschnappt und beobachtet oder sich denkt, wenn man seinem Sitznachbarn ins faltige, strahlende oder auch verdüsterte Gesicht schaut.
Was sich dann sammelt unter den Händen und Worten von Judith Keller ist, wie die letzte Haltestelle heißt: eine Sukkulentensammlung menschlicher Merkwürdigkeiten; Sukkulenten sehen von außen ja auch wenig beachtlich aus und speichern doch die Essenz des Lebens in ihren unansehnlichen Blättern. Anpassungsfähig sind sie, wie der Mensch anpassungsfähig ist. Wenn seine Umwelt karger, feindlicher wird, zieht er sich nach innen zurück, verbirgt seine schützenswerten Geheimnisse unter einem Deckmantel und die Außenwelt tut das Ihre, um diese Geheimnisse unter Begriffen, Etiketten und Konventionen zum Schweigen zu bringen.
Diesen Vorgang legt Judith Keller frei, wenn Sie zum Beispiel im zweiten Kapitel „Schwert“ Geschichten versammelt, die von alten Menschen handeln. Frau Sägisser zum Beispiel, die eines schönen Tages die Schiebetür öffnet, um ihren Eltern beim Heumachen zu helfen. Oder Frau Vogelsanger, die einem nächtlichen Auftrag folgen muss und den Beweis dafür am Ende ihrer Reise „sorgsam in den Papierkorb“ legt. Man glaubt zu verstehen, dass Frau Sägisser und Frau Vogelsanger vermutlich in einem Heim leben, vermutlich dement sind. Diese Etiketten spielen für Judith Keller aber keine Rolle, sondern die Erleichterung der einen, dass sie ohne Schuld auf sich zu laden, die Heuernte auf morgen verschieben darf, und die stille Überzeugung der anderen, dass ihre Reise stattgefunden und sie ihren Auftrag erfüllt hat. Sorgsam, freundlich ist es auch, wie Judith Keller mit wenigen Sätzen der Realität der beiden Damen, ganz ohne Aufregung, zu ihrem Recht verhilft und uns damit zurückführt zu einer humanen Betrachtung der Welt.
Mal sind es Einzelmenschen, denen sich Judith Kellers Geschichten widmen. Da ist die Lehrerin, die immer wieder die Fehler ihrer Schüler löscht, um „Zuversicht zu streuen“, oder ein Ehemann, der seine Angst pochen spürt. Dann wieder sind es ganze gesellschaftliche Sphären, die Judith Keller in aller Kürze einzufangen versteht. Die Arbeitswelt ist ein Thema, das sich an der Haltestelle „Elektrowatt“ in den Vordergrund schiebt, wenn Anatol einer Arbeit „nachgeht“ und Keller dem Wort nachlauscht und frei legt, was es bedeutet. Und im vorangegangenen Kapitel tauchte Martha auf, deren Arbeit darin besteht, „abwesend zu sein.“
Bei Keller fällt nicht der einem auf einmal lügenhaft erscheinende Begriff „Arbeitslosigkeit“, sondern es heißt über Marthas Tätigkeit: „Es ist eine Arbeit, die einen starken Willen und Unnachgiebigkeit erfordert, dazu einen Umgang mit der Unsichtbarkeit, der es in sich hat.“ Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit diese Autorin eine Sprache, Bilder für innere Wahrheiten findet. Dabei sind diese Bilder nie harmlos oder beschwichtigend. Im Gegenteil, sie haben, wie in der Miniatur „Krieg“, das Zeug zu beschämenden Analysen unserer gesellschaftlichen Verfasstheit, kommen aber daher wie die luftigsten, leichtesten, freundlichsten Tupfer auf dem beschädigten Seelenleben eines erstarrten und still gestellten Kollektivs.
Die bevorzugte Beziehungsform dieser Tage, das Casting, stellt Judith Keller mit ihrem beeindruckenden Debüt, vom Kopf auf die Füße und gibt denen, die gecasted werden sollen ihre Würde zurück, während diejenigen, die casten, sich infrage gestellt sehen. Ein kleines sprachliches Wunderwerk hat Judith Keller mit „Die Fragwürdigen“ geschaffen. Hoffen wir auf mehr von ihr.
INSA WILKE
An der Haltestelle „Elektrowatt“
steigt die Arbeitswelt zu
Hier wird das Casting-Ritual
vom Kopf auf die Füße gestellt
Judith Keller: Die Fragwürdigen. Geschichten. Edition Spoken script/Der gesunde Menschenverstand, Luzern 2017. 148 S., 18,50 Euro. E-Book 14,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Insa Wilke hat es sichtlich genossen, sich von Judith Keller mit in die Zürcher Straßenbahn nehmen zu lassen. Ihre Prosastücke "Die Fragwürdigen" erzählten sorgsam und freundlich Geschichten von Menschen, die man im Zug aufschnappen oder sich beim Blick in die Gesichter ringsum zusammenreimen könne. Besonders gefallen haben Wilke die ungewöhnlichen Bilder, die Autorin in ihrem Debüt heraufbeschwört. Ihre Sprache mutet für die Rezensentin leicht an, sticht dafür umso beschämender in das Herz einer Gesellschaft, die den Wert von Menschen hauptsächlich an ihrer Brauchbarkeit aufwiegt. Wilke findet es großartig, wie human Keller in ihrem "kleinen sprachlichen Wunderwerk" auf demente Senioren, Arbeiter, sorgenvolle Familienväter und Arbeitslose blickt und hofft, bald mehr von ihr lesen zu können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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