Eine der erfolgreichsten literarischen Stimmen Mexikos zeigt uns die Welt noch einmal neu.
"Ich weiß, dass mein Geist langsam ist, zumindest verglichen mit dem der Standardmenschen." Dies sagt Karen, eine junge Mexikanerin. Zu Beginn des Romans ein verwahrlostes autistisches Mädchen, lernt sie in der Obhut ihrer Tante, "ich" zu sagen und "ich" zu werden. Das Meer und die großväterliche Thunfischfabrik werden ihre liebsten Orte, Wesen mit Kiemen sind ihr näher als "Standardmenschen". Dabei hat sie letzteren viel zu geben, Ideen, Engagement, sogar Profit. Aber eines Tages steht alles auf dem Spiel, und auch die letzte Verbindung scheint gekappt wie ein Sauerstoffschlauch.
Sabina Berman ist ein umwerfender, überraschender, wilder Roman gelungen. Mit Karen gehen wir auf Tauchgang und stellen fest: Der Mensch ist es nicht, der die Welt im Innersten zusammenhält.
"Ich weiß, dass mein Geist langsam ist, zumindest verglichen mit dem der Standardmenschen." Dies sagt Karen, eine junge Mexikanerin. Zu Beginn des Romans ein verwahrlostes autistisches Mädchen, lernt sie in der Obhut ihrer Tante, "ich" zu sagen und "ich" zu werden. Das Meer und die großväterliche Thunfischfabrik werden ihre liebsten Orte, Wesen mit Kiemen sind ihr näher als "Standardmenschen". Dabei hat sie letzteren viel zu geben, Ideen, Engagement, sogar Profit. Aber eines Tages steht alles auf dem Spiel, und auch die letzte Verbindung scheint gekappt wie ein Sauerstoffschlauch.
Sabina Berman ist ein umwerfender, überraschender, wilder Roman gelungen. Mit Karen gehen wir auf Tauchgang und stellen fest: Der Mensch ist es nicht, der die Welt im Innersten zusammenhält.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2011Ich tauche, also bin ich nass
Von Menschen und Thunfischen: Sabina Bermans flacher Hochsee-Roman
Gelegentlich würde wohl jeder gern mal auf den "Nichtbeziehungs-Modus" umschalten: also eigenbröteln, sein Ding machen, abtauchen. So geht es auch Karen Nieto, allerdings nicht nur gelegentlich. Sie verbringt ihre Zeit am liebsten unter Wasser bei den Fischen, und wenn das gerade nicht geht, lässt sie sich auch schon mal in ihrem Tauchanzug verkehrt herum an einem Seil von der Zimmerdecke baumeln. Mit solchen stark metaphorischen Szenen illustriert die mexikanische Autorin, Dramatikerin und Fernsehjournalistin Sabina Berman die Andersartigkeit ihrer Romanheldin - Karen ist Autistin oder euphemistisch gesagt: Sie verfügt über "besondere Fähigkeiten", während ihr andere fehlen.
Karens Geschichte von der frühen Jugend bis zum mittleren Alter ist zunächst die einer schwierigen Sprachfindung: Sie wird in einem Keller verwahrlost von ihrer Tante aufgefunden, als diese aus Amerika nach Mexiko kommt, um dort eine Erbschaft anzutreten. Das völlig verstörte Mädchen stopft sich Sand in den Mund, und es hat noch keinen Begriff vom "Ich" - erst langsam wird Karen mit Hilfe ihrer Tante auf einen schwierigen Bildungsweg gebracht, bei dem sie immer wieder aneckt, ob in der Schule oder im späteren Biologiestudium an einer amerikanischen Universität. Ihrer mangelnden Sozialkompetenz und einem niedrigen Intelligenzquotienten steht etwa ein großes Talent zum Zeichnen und Planen gegenüber, das ihr schließlich großen Erfolg beschert.
Trotz ihrer grenzenlosen Selbstbezogenheit bereitet gerade das Thema der Subjektivität Karen große Schwierigkeiten: Im ständigen Kontakt mit der Tierwelt will es ihr so gar nicht einleuchten, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sein soll. René Descartes' berühmtes Diktum "Ich denke, also bin ich" hält sie für einen Irrglauben, auf den der Mensch "während der ersten zwei Lebensjahrzehnte" abgerichtet werde. Sie wünscht sich, den Geist ab und zu ganz auszuschalten und einfach nur zu existieren - ebendies gelingt ihr am besten unter Wasser und fern von den Menschen, die von Karen oft distanziert, ja fast auf feindliche Weise beschrieben werden.
Sabina Berman hat sich vielfach für die Emanzipation der Frau eingesetzt; hier geht sie darüber aber noch hinaus und schildert einen Menschen, der sich von der ganzen Welt emanzipiert hat. Neben der persönlichen Entwicklung Karens spielt in ihrem Buch aber auch ein auf Romanlänge etwas gewöhnungsbedürftiges Thema eine Rolle: das des Thunfischfangs. Karens Mission ist die Rettung des Familienunternehmens durch revolutionäre Fangmethoden, bei denen die Fische zudem weniger leiden. Diese Aufgabe führt sie in einem etwas hanebüchenen Abenteuer um die Welt und über ihre sieben Meere. Im Zuge dessen erfährt man alles, was man schon immer über Thunfisch wissen wollte, und noch mehr. Immerhin steht zu vermuten, dass die Autorin somit den ersten Thunfischroman geschrieben und ein neues Genre begründet hat.
Während das Buch stark beginnt, fallen mit der Zeit seine Redundanzen immer mehr auf - das ständige Polemisieren gegen den Cartesianismus ist ebenso wohlfeil wie die gebetsmühlenhafte Abgrenzung der Erzählerin von den "Standardmenschen". Dies führt zu der gewissermaßen unmöglichen Situation, dass die höchst eigenwillige Ich-Erzählerin beharrlich die Vorstellung vom Individuum bestreitet. Auch nicht recht schlüssig ist Karens Fortschrittsfeindlichkeit - sie spricht mitleidig von "Erfindungen, die der Mensch glaubt, machen zu müssen", nämlich Betten, Häusern und "Raketen, die ihn zu anderen Planeten bringen"; aber die daraus folgende Konsequenz eines Rückzugs zur Natur vertritt sie nicht, sondern steht mit ihren Erfindungen zur Züchtung und stressfreien Tötung der Thunfische im Gegenteil für einen fortschrittlichen Pragmatismus.
Was die Ablehnung von Descartes angeht, hat wohl nicht nur die Erzählerin, sondern auch die Autorin großes Sendungsbewusstsein: Mit fast denselben Worten ihrer Figur lässt auch Sabina Berman sich zitieren und spricht gar von einem "faschistischen Training" zur menschlichen Einzigartigkeit. Die Polemik gegen den sogenannten "human exceptionalism" ist durch Garanten wie die Evolutionsbiologin Donna Haraway derzeit ziemlich en vogue; sie von Künstlern oder Schriftstellern zu hören ist allerdings überraschend. Wollte man ihr auf dem Argumentationsniveau der Figur Karen begegnen, könnte man wohl sagen, dass Fische leider keine Bücher schreiben.
JAN WIELE
Sabina Berman: "Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte". Roman.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2011. 304 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Menschen und Thunfischen: Sabina Bermans flacher Hochsee-Roman
Gelegentlich würde wohl jeder gern mal auf den "Nichtbeziehungs-Modus" umschalten: also eigenbröteln, sein Ding machen, abtauchen. So geht es auch Karen Nieto, allerdings nicht nur gelegentlich. Sie verbringt ihre Zeit am liebsten unter Wasser bei den Fischen, und wenn das gerade nicht geht, lässt sie sich auch schon mal in ihrem Tauchanzug verkehrt herum an einem Seil von der Zimmerdecke baumeln. Mit solchen stark metaphorischen Szenen illustriert die mexikanische Autorin, Dramatikerin und Fernsehjournalistin Sabina Berman die Andersartigkeit ihrer Romanheldin - Karen ist Autistin oder euphemistisch gesagt: Sie verfügt über "besondere Fähigkeiten", während ihr andere fehlen.
Karens Geschichte von der frühen Jugend bis zum mittleren Alter ist zunächst die einer schwierigen Sprachfindung: Sie wird in einem Keller verwahrlost von ihrer Tante aufgefunden, als diese aus Amerika nach Mexiko kommt, um dort eine Erbschaft anzutreten. Das völlig verstörte Mädchen stopft sich Sand in den Mund, und es hat noch keinen Begriff vom "Ich" - erst langsam wird Karen mit Hilfe ihrer Tante auf einen schwierigen Bildungsweg gebracht, bei dem sie immer wieder aneckt, ob in der Schule oder im späteren Biologiestudium an einer amerikanischen Universität. Ihrer mangelnden Sozialkompetenz und einem niedrigen Intelligenzquotienten steht etwa ein großes Talent zum Zeichnen und Planen gegenüber, das ihr schließlich großen Erfolg beschert.
Trotz ihrer grenzenlosen Selbstbezogenheit bereitet gerade das Thema der Subjektivität Karen große Schwierigkeiten: Im ständigen Kontakt mit der Tierwelt will es ihr so gar nicht einleuchten, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sein soll. René Descartes' berühmtes Diktum "Ich denke, also bin ich" hält sie für einen Irrglauben, auf den der Mensch "während der ersten zwei Lebensjahrzehnte" abgerichtet werde. Sie wünscht sich, den Geist ab und zu ganz auszuschalten und einfach nur zu existieren - ebendies gelingt ihr am besten unter Wasser und fern von den Menschen, die von Karen oft distanziert, ja fast auf feindliche Weise beschrieben werden.
Sabina Berman hat sich vielfach für die Emanzipation der Frau eingesetzt; hier geht sie darüber aber noch hinaus und schildert einen Menschen, der sich von der ganzen Welt emanzipiert hat. Neben der persönlichen Entwicklung Karens spielt in ihrem Buch aber auch ein auf Romanlänge etwas gewöhnungsbedürftiges Thema eine Rolle: das des Thunfischfangs. Karens Mission ist die Rettung des Familienunternehmens durch revolutionäre Fangmethoden, bei denen die Fische zudem weniger leiden. Diese Aufgabe führt sie in einem etwas hanebüchenen Abenteuer um die Welt und über ihre sieben Meere. Im Zuge dessen erfährt man alles, was man schon immer über Thunfisch wissen wollte, und noch mehr. Immerhin steht zu vermuten, dass die Autorin somit den ersten Thunfischroman geschrieben und ein neues Genre begründet hat.
Während das Buch stark beginnt, fallen mit der Zeit seine Redundanzen immer mehr auf - das ständige Polemisieren gegen den Cartesianismus ist ebenso wohlfeil wie die gebetsmühlenhafte Abgrenzung der Erzählerin von den "Standardmenschen". Dies führt zu der gewissermaßen unmöglichen Situation, dass die höchst eigenwillige Ich-Erzählerin beharrlich die Vorstellung vom Individuum bestreitet. Auch nicht recht schlüssig ist Karens Fortschrittsfeindlichkeit - sie spricht mitleidig von "Erfindungen, die der Mensch glaubt, machen zu müssen", nämlich Betten, Häusern und "Raketen, die ihn zu anderen Planeten bringen"; aber die daraus folgende Konsequenz eines Rückzugs zur Natur vertritt sie nicht, sondern steht mit ihren Erfindungen zur Züchtung und stressfreien Tötung der Thunfische im Gegenteil für einen fortschrittlichen Pragmatismus.
Was die Ablehnung von Descartes angeht, hat wohl nicht nur die Erzählerin, sondern auch die Autorin großes Sendungsbewusstsein: Mit fast denselben Worten ihrer Figur lässt auch Sabina Berman sich zitieren und spricht gar von einem "faschistischen Training" zur menschlichen Einzigartigkeit. Die Polemik gegen den sogenannten "human exceptionalism" ist durch Garanten wie die Evolutionsbiologin Donna Haraway derzeit ziemlich en vogue; sie von Künstlern oder Schriftstellern zu hören ist allerdings überraschend. Wollte man ihr auf dem Argumentationsniveau der Figur Karen begegnen, könnte man wohl sagen, dass Fische leider keine Bücher schreiben.
JAN WIELE
Sabina Berman: "Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte". Roman.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2011. 304 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Abgesehen davon, dass Jan Wiele mit Sabina Bermans Buch den ersten Thunfischroman gelesen hat (wir lernen alles über Fangmethoden und das Tier an sich), was ihm übrigens nicht sonderlich imponiert, sondern eher gelangweilt hat, ist das Buch seiner Auffassung nach ein ganz schön sendungsbewusstes Stück Anticartesianismus. Nachdem die Geschichte der Autistin Karen den Rezensenten mit Karens eskapistischen Extravanganzen (so hängt sie etwa gern im Taucheranzug von der Zimmerdecke) anfangs noch bei der Stange gehalten hat, verliert Wiele bald das Interesse. Zu häufig schmeißen Autorin und Erzählerin die Gebetsmühle an und leiern ihre Vorstellung von einer nicht standardisierten Schwarmexistenz runter. Das mag ja gerade en vogue sein, mosert Wiele, ein tolles Buch, findet er, macht das noch nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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