Jahrelang schlug er sich als Klavierspieler in Stummfilmkinos und mit Konzerten in provinziellen Musikzirkeln durch; später enthob ihn ein obskurer Posten in der staatlichen Administration der drückendsten Geldnöte; zu seinem vierzigsten Geburtstag legten seine Freunde zusammen, um den Druck seiner ersten längeren Erzählung zu finanzieren; zwischen vier Ehen und einigen Amouren suchte er immer wieder Unterschlupf bei seiner Mutter - Felisberto Hernandez scheint die Ecken und Nischen geradezu gesucht zu haben, im Leben wie in seiner Literatur. Da tingelt zum Beispiel ein erfolgloser Pianist als ebenso unbeachteter Strumpfverkäufer durch die Provinz, bis er eines Tages in einem Laden angesichts der ausbleibenden Bestellung in Tränen ausbricht - und darin eine unverhoffte Verkaufsstrategie entdeckt.
So spät der Uruguayer in der Welt bekannt wurde - mit seinem unorthodoxen schmalen Werk hat Felisberto Hernandez so unterschiedliche Köpfe wie Julio Cortazar, Gabriel García Mßrquez und Italo Calvino fasziniert.
Dieses Buch ist eine Einladung, den genialisch Sonderbaren, den erfindungsreichen Grübler und Panerotiker, den Humoristen des erstaunten Seitenblicks kennenzulernen - und einige der schönsten Erzählungen der lateinamerikanischen Literatur.
So spät der Uruguayer in der Welt bekannt wurde - mit seinem unorthodoxen schmalen Werk hat Felisberto Hernandez so unterschiedliche Köpfe wie Julio Cortazar, Gabriel García Mßrquez und Italo Calvino fasziniert.
Dieses Buch ist eine Einladung, den genialisch Sonderbaren, den erfindungsreichen Grübler und Panerotiker, den Humoristen des erstaunten Seitenblicks kennenzulernen - und einige der schönsten Erzählungen der lateinamerikanischen Literatur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2006Strumpf der Illusion
Im Puppenhaus: Die Erzählungen des Felisberto Hernández
Adios, und seien Sie glücklich; ich glaube, Sie haben es ziemlich nötig. Margarita." Mit dieser merkwürdigen Wendung verabschiedet die reiche Witwe den Schriftsteller, den sie für einige Wochen in ihre Dienste genommen hatte: als mehr oder weniger stummen Zuhörer, als eine Mischung aus Beichtvater und Analytiker, und vor allem als eine Art Rudersklaven, der die ungeheuer korpulente Frau immer wieder, wie in einem strengen Ritual, um ihre künstlich angelegte Insel fahren muß. Die Frau, die ihren geliebten Mann bei einem Unfall verlor, hat sich in dem Glauben eingerichtet, das Wasser wolle ihr Botschaften zukommen lassen, sei vielleicht eine höhere Form des Daseins, in dem ihr Mann fortexistiere und mit ihr kommunizieren wolle: Nach dem Plan eines berühmten Architekten hat sie ihr Haus unter Wasser setzen lassen.
Es gibt viele solcher Menschen in den Erzählungen von Felisberto Hernández, die es nicht offenbar nicht nötig haben, glücklich zu sein, die sich vielmehr in einer sehr individuellen Form des Unglücklichseins eingerichtet haben - wie diese Margarita aus "Das überschwemmte Haus", die man zunächst für eine Wahnsinnige, für eine schrullige Dame mit Dach- oder besser Wasserschaden hält, bis dann deren skurrile Ophelia-Existenz als quasi-religiöses Einsiedlertum verständlich wird.
Und Hernández selbst? Der uruguayische Schriftsteller, 1902 in Montevideo geboren, 1964 dort gestorben, war wohl kein glücklicher Mensch, obgleich er es wohl sehr nötig gehabt hätte. Der Autor, der heute als einer der Pioniere der lateinamerikanischen Moderne gilt, hochgeschätzt von Julio Cortázar oder Gabriel García Márquez, führte ein unstetes, unruhiges Leben: Insgesamt vier Ehen scheitern, zu Ruhm und Geld ist er zu Lebzeiten nur in bescheidenem Maße gelangt. Schon seine Familie hatte immer wieder unter finanziellen Engpässen zu leiden, der Jugendliche, als Pianist hochbegabt, verdingt sich als Klavierspieler in Stummfilmkinos; statt eine glanzvolle Karriere als Solist zu machen, arbeitet er jahrelang als Kaffeehausmusiker und tingelt durch die Provinz - eine demütigende, ernüchternde Erfahrung, die sich in vielen Erzählungen niedergeschlagen hat.
Selbst mit seiner Wirkung über den spanischsprachigen Raum hinaus hat Hernández irgendwie kein Glück gehabt. Für den großen Boom lateinamerikanischer Literatur in Europa seit den siebziger Jahren kam er zu früh. Und wenn Suhrkamp nun mit einer Auswahl seiner Erzählungen - nach einem kleinem Band von 1985 - einen neuen Versuch unternimmt, dann könnte das wiederum zu spät kommen. Denn die zu beobachtende Verengung des weltliterarischen Horizonts auf das Anglo-Amerikanische scheint einer Neuentdeckung nicht günstig - zumal, wenn selbst so herausragende Gegenwartsautoren wie der Argentinier Ricardo Piglia oder der Kuba-Mexikaner José Manuel Prieto hierzulande kaum Beachtung finden. Und gegenüber diesen virtuos mit Formen, Genres und Traditionen jonglierenden Autoren wirkt Hernández wie aus der Zeit gefallen - oder besser, als würde man durch alte, funktionslos gewordene Kulissen oder in symbolisch aufgeladenen, "metaphysischen" Rätselbildern De Chiricos herumwandern.
Zwar täuscht dieser Eindruck des Musealen und Starren - die Psychodynamik, die in den Figuren am Werk ist, ist überaus vital -, doch das Setting der Erzählungen selbst legt solche Wahrnehmungen nahe. Hernández hat ein Faible für Tableaus, für erstarrtes, krampfartig stillgestelltes Leben, während umgekehrt die Dinge sich zu bewegen und zu sprechen anfangen. Schon in der langen Eingangserzählung "Das verlorene Pferd", eine proustische Reminiszenz an den Klavierunterricht des Zehnjährigen, zeichnet Hernández die Erinnerung als Theater, als das Betreten einer Seelenkulisse, in der die Figuren wie Schaupieler auf- und abtreten: "Als ich an jenem Abend begann, mich zu erinnern und ein anderer zu sein, sah ich mein vergangenes Leben wie in einem Nebenzimmer." In diesem Zimmer sieht er den Jungen und seine Lehrerin in einem erotisch aufgeladenen Ringen um Macht, eine Urszene späterer Verwicklungen.
Solche direkt autobiographischen Erzählungen sind eher selten, obwohl der Ich-Erzähler der meisten Texte äußere Züge des Autors trägt. Eine immer wiederkehrende Grundkonstellation ist die, daß ein Künstler, meist ein Pianist, aus Geldnöten in die Dienste eines reichen Hauses tritt und sich dort einem fremden Leben wie ein Zaungast nähert - ein Beobachter, der allerdings beim Versuch, das Sonderbare zu verstehen, darin eindringt und dessen fragile Balance zu stören droht. In "Der Balkon" wird der Erzähler nach einem Auftritt in der Provinz von einem Herrn angesprochen und zu einem Privatkonzert für dessen zurückgezogen lebende und neurotische Tochter eingeladen. Während seines mehrtägigen Aufenthalts stellt er fest, daß diese eine Liebesbeziehung zu ihrem Balkon aufgebaut hat, zu dem er selbst nun in eine heikle Konkurrenz tritt.
In Erzählungen wie dieser - die wie viele aus seinem bekanntesten Band "Niemand zündete die Lampe an" von 1947 entnommen ist - geht es nicht um die Schilderung des Absurden oder Skurrilen, auch nicht um eine symbolische Erzählweise. Nur selten verläßt die Handlung endgültig den Boden der Wirklichkeit. "Magisch" an diesem Realismus ist eher, daß die Figuren eine irrationale, vormoderne Sicht auf die Wirklichkeit haben - und sich aber zugleich modernster Technik bedienen wie Margarita in ihrem mit neuester Pump- und Hydrotechnik und Zimmertelefon ausgestatteten Wasserhaus. Hernández zeigt so - in fast mustergültiger Anwendung der zufälligerweise zeitgleich erschienenen "Dialektik der Aufklärung" von Adorno und Horkheimer -, wie technische Vernunft auf dem neuesten Stand wieder selbst zum Mythos wird, obwohl er wohl weniger eine geschichtsphilosophische als eine psychologische Wahrheit gestaltet. Hinzu kommt allerdings eine unfreiwillig komisch wirkende Konsum- und Kulturkritik, etwa in der Erzählung "Möbel ,Kanarienvogel'", in der Passanten von perfiden Werbeleuten per Droge dauerplappernde Radiosender in den Kopf eingepflanzt werden - da ist wohl mit dem verkannten Künstler der Haß auf die mediale Konkurrenz durchgegangen.
In "Die Hortensien" wird die Schwelle zum Wahnsystem dann überschritten. Die Hauptfigur Horacio, ein früherer Kaufhausbesitzer, hat eine Obsession für Schaufensterpuppen und stellt seiner Frau daheim eine künstliche Doppelgängerin an die Seite. Was anfänglich die Züge eines neckischen, erotischen Spiels zwischen den Eheleuten hat, steigert sich zu Realitätsverlust und sexueller Perversion - wobei auch hier der technische Perfektionismus (der befreundete Puppenhersteller muß immer raffiniertere Simulationen erzeugen, die er auch andernorts erfolgreich vermarktet) mit magischem Denken, der Belebung toter Gegenstände einhergeht. Hernández verwendet mit Vorliebe solche romantischen Motive - Doppelgänger, Maschinenmenschen -, die an die schwarze Romantik, an E.T.A. Hoffmann oder Poe, erinnern und zugleich zentrale Erfahrungen der Moderne aufnehmen: die Fragmentierung und Verselbständigung von Körpergliedern, die Faszination für Puppen, Prothesen und Automaten als Reflexe der Mechanisierung des Lebens und der Desintegration des Subjekts. So wird der Fetischist Horacio am Ende selbst zur Marionette, mit "wie Glas starren Augen" und "Gliederpuppenruhe".
Von einigen frühen, kurzen Prosastücken der zwanziger über die reifen Erzählungen der vierziger und fünfziger Jahre bis zu den postum veröffentlichten Prosafragmenten des "Tagebuchs eines Lumpen", in denen ein irritierender Zerfall der Erzählstimme in "Ich", "Körper" und "Kopfpartie" zu verfolgen ist, kann sich auch der deutschsprachige Leser einen Überblick verschaffen. "Einzigartig", "faszinierend" sicherlich, aber das sagt sich so leicht. Warum aber soll man einen solchen Autor lesen, wenn es doch so viele andere gibt, bei denen dem Erzähler der Kopf noch etwas sicherer und lebensfroher auf dessen Körper sitzt? Vielleicht darum: Weil man bei Hernández sehen kann, wie rasch sich die vermeintlich so festgefügte Einheit der Welt und des Ich auflöst, wenn man sie nur genau genug betrachtet - und mit ihr auch das Glück, das in der trügerischen Annahme besteht, daß Ich und Welt zusammenpassen.
In der Erzählung "Das Krokodil" muß sich der Ex-Virtuose einmal als Vertreter durchschlagen: Feilzubieten hat er Damenstrümpfe der Marke "Illusion". Die Tragik dieses - vielleicht im Grunde jedes - großen Schriftstellers liegt darin, daß er selbst immer an der Auflösung jedes Scheins von Glück mitwirkt. Felisberto Hernández sagt es so: "Aber ich habe den Eindruck, daß ich immer besser beschreibe, was in mir vorgeht; nur bedauerlich, daß es mir immer schlechter geht."
Felisberto Hernández: "Die Frau, die mir gleicht". Gesammelte Erzählungen. Aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar, Anneliese Botond und Sabine Giersberg. Mit einem Nachwort von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 402 S., geb., 24,80 [Euro].
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Im Puppenhaus: Die Erzählungen des Felisberto Hernández
Adios, und seien Sie glücklich; ich glaube, Sie haben es ziemlich nötig. Margarita." Mit dieser merkwürdigen Wendung verabschiedet die reiche Witwe den Schriftsteller, den sie für einige Wochen in ihre Dienste genommen hatte: als mehr oder weniger stummen Zuhörer, als eine Mischung aus Beichtvater und Analytiker, und vor allem als eine Art Rudersklaven, der die ungeheuer korpulente Frau immer wieder, wie in einem strengen Ritual, um ihre künstlich angelegte Insel fahren muß. Die Frau, die ihren geliebten Mann bei einem Unfall verlor, hat sich in dem Glauben eingerichtet, das Wasser wolle ihr Botschaften zukommen lassen, sei vielleicht eine höhere Form des Daseins, in dem ihr Mann fortexistiere und mit ihr kommunizieren wolle: Nach dem Plan eines berühmten Architekten hat sie ihr Haus unter Wasser setzen lassen.
Es gibt viele solcher Menschen in den Erzählungen von Felisberto Hernández, die es nicht offenbar nicht nötig haben, glücklich zu sein, die sich vielmehr in einer sehr individuellen Form des Unglücklichseins eingerichtet haben - wie diese Margarita aus "Das überschwemmte Haus", die man zunächst für eine Wahnsinnige, für eine schrullige Dame mit Dach- oder besser Wasserschaden hält, bis dann deren skurrile Ophelia-Existenz als quasi-religiöses Einsiedlertum verständlich wird.
Und Hernández selbst? Der uruguayische Schriftsteller, 1902 in Montevideo geboren, 1964 dort gestorben, war wohl kein glücklicher Mensch, obgleich er es wohl sehr nötig gehabt hätte. Der Autor, der heute als einer der Pioniere der lateinamerikanischen Moderne gilt, hochgeschätzt von Julio Cortázar oder Gabriel García Márquez, führte ein unstetes, unruhiges Leben: Insgesamt vier Ehen scheitern, zu Ruhm und Geld ist er zu Lebzeiten nur in bescheidenem Maße gelangt. Schon seine Familie hatte immer wieder unter finanziellen Engpässen zu leiden, der Jugendliche, als Pianist hochbegabt, verdingt sich als Klavierspieler in Stummfilmkinos; statt eine glanzvolle Karriere als Solist zu machen, arbeitet er jahrelang als Kaffeehausmusiker und tingelt durch die Provinz - eine demütigende, ernüchternde Erfahrung, die sich in vielen Erzählungen niedergeschlagen hat.
Selbst mit seiner Wirkung über den spanischsprachigen Raum hinaus hat Hernández irgendwie kein Glück gehabt. Für den großen Boom lateinamerikanischer Literatur in Europa seit den siebziger Jahren kam er zu früh. Und wenn Suhrkamp nun mit einer Auswahl seiner Erzählungen - nach einem kleinem Band von 1985 - einen neuen Versuch unternimmt, dann könnte das wiederum zu spät kommen. Denn die zu beobachtende Verengung des weltliterarischen Horizonts auf das Anglo-Amerikanische scheint einer Neuentdeckung nicht günstig - zumal, wenn selbst so herausragende Gegenwartsautoren wie der Argentinier Ricardo Piglia oder der Kuba-Mexikaner José Manuel Prieto hierzulande kaum Beachtung finden. Und gegenüber diesen virtuos mit Formen, Genres und Traditionen jonglierenden Autoren wirkt Hernández wie aus der Zeit gefallen - oder besser, als würde man durch alte, funktionslos gewordene Kulissen oder in symbolisch aufgeladenen, "metaphysischen" Rätselbildern De Chiricos herumwandern.
Zwar täuscht dieser Eindruck des Musealen und Starren - die Psychodynamik, die in den Figuren am Werk ist, ist überaus vital -, doch das Setting der Erzählungen selbst legt solche Wahrnehmungen nahe. Hernández hat ein Faible für Tableaus, für erstarrtes, krampfartig stillgestelltes Leben, während umgekehrt die Dinge sich zu bewegen und zu sprechen anfangen. Schon in der langen Eingangserzählung "Das verlorene Pferd", eine proustische Reminiszenz an den Klavierunterricht des Zehnjährigen, zeichnet Hernández die Erinnerung als Theater, als das Betreten einer Seelenkulisse, in der die Figuren wie Schaupieler auf- und abtreten: "Als ich an jenem Abend begann, mich zu erinnern und ein anderer zu sein, sah ich mein vergangenes Leben wie in einem Nebenzimmer." In diesem Zimmer sieht er den Jungen und seine Lehrerin in einem erotisch aufgeladenen Ringen um Macht, eine Urszene späterer Verwicklungen.
Solche direkt autobiographischen Erzählungen sind eher selten, obwohl der Ich-Erzähler der meisten Texte äußere Züge des Autors trägt. Eine immer wiederkehrende Grundkonstellation ist die, daß ein Künstler, meist ein Pianist, aus Geldnöten in die Dienste eines reichen Hauses tritt und sich dort einem fremden Leben wie ein Zaungast nähert - ein Beobachter, der allerdings beim Versuch, das Sonderbare zu verstehen, darin eindringt und dessen fragile Balance zu stören droht. In "Der Balkon" wird der Erzähler nach einem Auftritt in der Provinz von einem Herrn angesprochen und zu einem Privatkonzert für dessen zurückgezogen lebende und neurotische Tochter eingeladen. Während seines mehrtägigen Aufenthalts stellt er fest, daß diese eine Liebesbeziehung zu ihrem Balkon aufgebaut hat, zu dem er selbst nun in eine heikle Konkurrenz tritt.
In Erzählungen wie dieser - die wie viele aus seinem bekanntesten Band "Niemand zündete die Lampe an" von 1947 entnommen ist - geht es nicht um die Schilderung des Absurden oder Skurrilen, auch nicht um eine symbolische Erzählweise. Nur selten verläßt die Handlung endgültig den Boden der Wirklichkeit. "Magisch" an diesem Realismus ist eher, daß die Figuren eine irrationale, vormoderne Sicht auf die Wirklichkeit haben - und sich aber zugleich modernster Technik bedienen wie Margarita in ihrem mit neuester Pump- und Hydrotechnik und Zimmertelefon ausgestatteten Wasserhaus. Hernández zeigt so - in fast mustergültiger Anwendung der zufälligerweise zeitgleich erschienenen "Dialektik der Aufklärung" von Adorno und Horkheimer -, wie technische Vernunft auf dem neuesten Stand wieder selbst zum Mythos wird, obwohl er wohl weniger eine geschichtsphilosophische als eine psychologische Wahrheit gestaltet. Hinzu kommt allerdings eine unfreiwillig komisch wirkende Konsum- und Kulturkritik, etwa in der Erzählung "Möbel ,Kanarienvogel'", in der Passanten von perfiden Werbeleuten per Droge dauerplappernde Radiosender in den Kopf eingepflanzt werden - da ist wohl mit dem verkannten Künstler der Haß auf die mediale Konkurrenz durchgegangen.
In "Die Hortensien" wird die Schwelle zum Wahnsystem dann überschritten. Die Hauptfigur Horacio, ein früherer Kaufhausbesitzer, hat eine Obsession für Schaufensterpuppen und stellt seiner Frau daheim eine künstliche Doppelgängerin an die Seite. Was anfänglich die Züge eines neckischen, erotischen Spiels zwischen den Eheleuten hat, steigert sich zu Realitätsverlust und sexueller Perversion - wobei auch hier der technische Perfektionismus (der befreundete Puppenhersteller muß immer raffiniertere Simulationen erzeugen, die er auch andernorts erfolgreich vermarktet) mit magischem Denken, der Belebung toter Gegenstände einhergeht. Hernández verwendet mit Vorliebe solche romantischen Motive - Doppelgänger, Maschinenmenschen -, die an die schwarze Romantik, an E.T.A. Hoffmann oder Poe, erinnern und zugleich zentrale Erfahrungen der Moderne aufnehmen: die Fragmentierung und Verselbständigung von Körpergliedern, die Faszination für Puppen, Prothesen und Automaten als Reflexe der Mechanisierung des Lebens und der Desintegration des Subjekts. So wird der Fetischist Horacio am Ende selbst zur Marionette, mit "wie Glas starren Augen" und "Gliederpuppenruhe".
Von einigen frühen, kurzen Prosastücken der zwanziger über die reifen Erzählungen der vierziger und fünfziger Jahre bis zu den postum veröffentlichten Prosafragmenten des "Tagebuchs eines Lumpen", in denen ein irritierender Zerfall der Erzählstimme in "Ich", "Körper" und "Kopfpartie" zu verfolgen ist, kann sich auch der deutschsprachige Leser einen Überblick verschaffen. "Einzigartig", "faszinierend" sicherlich, aber das sagt sich so leicht. Warum aber soll man einen solchen Autor lesen, wenn es doch so viele andere gibt, bei denen dem Erzähler der Kopf noch etwas sicherer und lebensfroher auf dessen Körper sitzt? Vielleicht darum: Weil man bei Hernández sehen kann, wie rasch sich die vermeintlich so festgefügte Einheit der Welt und des Ich auflöst, wenn man sie nur genau genug betrachtet - und mit ihr auch das Glück, das in der trügerischen Annahme besteht, daß Ich und Welt zusammenpassen.
In der Erzählung "Das Krokodil" muß sich der Ex-Virtuose einmal als Vertreter durchschlagen: Feilzubieten hat er Damenstrümpfe der Marke "Illusion". Die Tragik dieses - vielleicht im Grunde jedes - großen Schriftstellers liegt darin, daß er selbst immer an der Auflösung jedes Scheins von Glück mitwirkt. Felisberto Hernández sagt es so: "Aber ich habe den Eindruck, daß ich immer besser beschreibe, was in mir vorgeht; nur bedauerlich, daß es mir immer schlechter geht."
Felisberto Hernández: "Die Frau, die mir gleicht". Gesammelte Erzählungen. Aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar, Anneliese Botond und Sabine Giersberg. Mit einem Nachwort von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 402 S., geb., 24,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Es ist alles in allem ein ziemliches Unglück mit Felisberto Hernandez, stellt Richard Kämmerlings fest. Er will damit gar nichts gegen die Qualität der Literatur des 1964 gestorbenen uruguayischen Autors sagen. Nur was den endlichen Durchbruch in Deutschland angeht, hat er so seine Zweifel. Schon zu Lebzeiten ging es Hernandez in seiner Heimat nicht besonders gut: die Anerkennung stellte sich spät ein, im Ausland eigentlich bis heute nicht. In Zeiten, in denen das Interesse an lateinamerikanischer Literatur wieder deutlich abgeflacht ist, komme dieser Band nun, fürchtet Kämmerlings, zu spät. Lesenswert aber ist er nach Ansicht des Rezensenten schon, vielleicht gerade weil er keiner Mode - schon gar der des "magischen Realismus" - so recht zuzurechnen ist. Wenn es in den Erzählungen nicht mit rechten Dingen zugehe, habe das eher mit dem Wahnsinn der Figuren zu tun, ihrer verrückten Verlebendigung der Dinge, als mit Magie. Interessant auch, wie der etwas aus der Welt gefallene Wahn oft mit der neuesten Technik kontrastiert wird, wenn nicht sogar kooperiert. Fragt sich dennoch, warum man diesen Autor nun unbedingt lesen sollte. Weil, so findet jedenfalls der Rezensent, bei wenigen Autoren die Instabilität von Welt und Subjekt so überzeugend dargestellt wird.
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