"Die Frau und der Sozialismus" gehört zu Bebels bekanntesten und wichtigsten Werken Er fordert die berufliche und politische Gleichberechtigung der Frau und beleuchtet diese Forderung unter Einbeziehung zahlreicher Aspekte aus Medizin, Naturwissenschaften, Rechtswissenschaften und der Geschichte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2018Die erste Frau und der SPD-Sozialismus
Ist Andrea Nahles, frei nach August Bebel, die Verkörperung einer verspäteten Partei?
Der Satz, zum ersten Mal habe die SPD eine Frau als Vorsitzende, klingt so, als sei das eine Überraschung und gerade für die SPD etwas Besonderes. Das ist es aber eigentlich nur, weil die SPD damit ihrem großen bürgerlichen Konkurrenten, der CDU, um gut ein Jahrzehnt hinterherhinkt - und ihren eigenen Ansprüchen um gut ein Jahrhundert. Denn das Matrimonium, das "Mutterrecht", die Emanzipation der Frau und die Ablösung des Patriarchats gehören zu den Gründungsmythen der Sozialdemokratie. Ist Andrea Nahles also überfällige Erfüllung einer historischen Mission oder Verkörperung einer verspäteten Partei?
Was es mit dem Anspruch der SPD auf die Avantgarde der Gleichberechtigung in der Industriegesellschaft auf sich hat, liest man am besten im Bestseller der Parteigeschichte nach, geschrieben von einem der Begründer und Vorsitzenden der SPD, August Bebel: "Die Frau und der Sozialismus". In keinem sozialdemokratischen Haushalt durfte und darf er fehlen. Noch zu Lebzeiten Bebels (1840-1913) erreichte das Buch, geschrieben zu Beginn des Deutschen Kaiserreichs (und sogleich verboten), mehr als fünfzig Auflagen. Als "bahnbrechend" bezeichnete es Eduard Bernstein in seinem Vorwort zur Jubiläumsausgabe von 1929, es habe sich als "geistiger Wegweiser für den ganzen Befreiungskampf des modernen Proletariats" bewährt. Damals hatten die Sozialdemokraten noch eine gute Entschuldigung dafür, dass dieser Befreiungskampf in den eigenen Reihen die Frauen noch nicht mit eingeschlossen hatte: Es lag an den Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft, und August Bebel wollte darstellen, wie es dazu kommen konnte - seit der Antike, seit den Germanen, dem Feudalismus und trotz Französischer Revolution.
Bebel bediente sich für den Ausgangspunkt seiner Betrachtung einer beliebten Konstruktion: In Urzeiten war alles einmal gut gewesen. Da herrschte der Urkommunismus, es herrschte die Frau, herrschten die Mütter über die "Familiengenossenschaft", außerhalb deren das Wirtschaftsleben noch nicht viel kannte. Aber schon in der Antike ging es los: Die Frau wird auf das Haus zurückgedrängt, verliert ihr Mitspracherecht außerhalb der Familie, schlimmer noch, und das kommt einem heute irgendwie bekannt vor: "Mit der Freiheit der Frau ist's jetzt zu Ende. Verläßt sie das Haus, so muß sie sich verhüllen, um nicht die Gelüste eines anderen Mannes zu erwecken."
Bebel lag mit diesem Bild der Frühzeit von den bürgerlichen Darstellungen gar nicht so weit entfernt. Auch sie anerkannten die Gleichberechtigung im "ganzen Haus" nach dem Vorbild der antiken Hauswirtschaft im "oikos". Die Ungleichheit zwischen Mann und Frau ergab sich aus der fortschreitenden Arbeitsteilung entlang der Trennung von Haus und Wirtschaft: Frauen blieben im Haus, nur war es nicht mehr das "ganze", sondern nicht einmal mehr das halbe. Sie durften sich im bürgerlichen Haushalt weiter um die Familie kümmern, die Musik spielte aber jetzt woanders. Im Bürgertum wurde diese Entwicklung unter anderem religiös gerechtfertigt und überhöht. Sozialistische Schriftsteller wandten sich dagegen den Trümmern der alten Hauswirtschaft zu: dem Gesinde, den Gesellen, den Arbeitern auf dem Land und in der Stadt - und ebenden Frauen, die im patriarchalisch geprägten Merkantilismus und Kapitalismus der Neuzeit im öffentlichen Leben nichts mehr zu melden hatten.
Bebels Buch ist eine große (agitatorisch verfasste) Sozialgeschichte der Beziehung von Mann und Frau - geschrieben unter dem Eindruck der in seiner Zeit aufstrebenden Ethnologie und Anthropologie, unter anderen vertreten durch Gelehrte wie Johann Jakob Bachofen ("Das Mutterrecht" war zehn Jahre vor Bebels Buch, 1869, erschienen). Bebel ging es zwar vor allem, aber nicht nur um die Frauen. Er konnte mit Hilfe ihrer "Unterdrückungsgeschichte" die Sozialdemokratie auf eine wesentlich breitere Grundlage stellen als nur auf die von Klassenkampf, von Ökonomie und Marxismus. Der Titel des Buches führt deshalb in die Irre: Es geht in zwei von vier Abschnitten nicht um Frauen, sondern um allgemeine Soziologie, um Staat, Gesellschaft und Wirtschaft.
Die Lösung? Für Bebel ist die Entwicklung des Privateigentums der Grund dafür, dass Frauen ihre Selbständigkeit und urzeitliche Dominanz verloren haben. Er gibt also auf die Frauenfrage die Antwort, die der SPD noch bis weit ins 20. Jahrhundert auf so gut wie alle Systemfragen eingefallen ist: Sozialisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, also Abschaffung des privaten Eigentums, umfassende kommunale und staatliche Verwaltung, Arbeit (und die Pflicht dazu!) für alle. Freiheit, Demokratie und "organisierte Arbeit", zu der die konsequente Gleichstellung von Mann und Frau gehöre, werden eine "Schaffenslust und einen Wetteifer erzeugen, wie sie in dem heutigen Wirtschaftssystem nirgends zu finden sind".
Es kam bekanntlich anders. Die Gleichstellung von Mann und Frau hat sich in sozialistischen Gesellschaften ohne Privateigentum vielleicht schneller, aber nicht nachhaltiger entwickelt als in kapitalistischen (auch wenn es in der DDR noch einmal elf Auflagen des Bebel-Buchs gab). Für die SPD aber viel wichtiger: Die Planbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft hat sich immer wieder als Irrtum herausgestellt, der dazu führte, dass die SPD ihrer Zeit hinterherhinkte und vor Revolutionen in eigener Sache stand: in Bebels Zeit, vor und nach "Godesberg", vor und nach der "Agenda 2010". Die erste Frau an der SPD-Spitze kommt also vielleicht gerade noch rechtzeitig.
JASPER VON ALTENBOCKUM
August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Genossenschaftsbuchdruckerei Leipzig 1879, später Dietz-Verlag Stuttgart/Berlin. 456 Seiten, im Antiquariat 3 bis 12 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist Andrea Nahles, frei nach August Bebel, die Verkörperung einer verspäteten Partei?
Der Satz, zum ersten Mal habe die SPD eine Frau als Vorsitzende, klingt so, als sei das eine Überraschung und gerade für die SPD etwas Besonderes. Das ist es aber eigentlich nur, weil die SPD damit ihrem großen bürgerlichen Konkurrenten, der CDU, um gut ein Jahrzehnt hinterherhinkt - und ihren eigenen Ansprüchen um gut ein Jahrhundert. Denn das Matrimonium, das "Mutterrecht", die Emanzipation der Frau und die Ablösung des Patriarchats gehören zu den Gründungsmythen der Sozialdemokratie. Ist Andrea Nahles also überfällige Erfüllung einer historischen Mission oder Verkörperung einer verspäteten Partei?
Was es mit dem Anspruch der SPD auf die Avantgarde der Gleichberechtigung in der Industriegesellschaft auf sich hat, liest man am besten im Bestseller der Parteigeschichte nach, geschrieben von einem der Begründer und Vorsitzenden der SPD, August Bebel: "Die Frau und der Sozialismus". In keinem sozialdemokratischen Haushalt durfte und darf er fehlen. Noch zu Lebzeiten Bebels (1840-1913) erreichte das Buch, geschrieben zu Beginn des Deutschen Kaiserreichs (und sogleich verboten), mehr als fünfzig Auflagen. Als "bahnbrechend" bezeichnete es Eduard Bernstein in seinem Vorwort zur Jubiläumsausgabe von 1929, es habe sich als "geistiger Wegweiser für den ganzen Befreiungskampf des modernen Proletariats" bewährt. Damals hatten die Sozialdemokraten noch eine gute Entschuldigung dafür, dass dieser Befreiungskampf in den eigenen Reihen die Frauen noch nicht mit eingeschlossen hatte: Es lag an den Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft, und August Bebel wollte darstellen, wie es dazu kommen konnte - seit der Antike, seit den Germanen, dem Feudalismus und trotz Französischer Revolution.
Bebel bediente sich für den Ausgangspunkt seiner Betrachtung einer beliebten Konstruktion: In Urzeiten war alles einmal gut gewesen. Da herrschte der Urkommunismus, es herrschte die Frau, herrschten die Mütter über die "Familiengenossenschaft", außerhalb deren das Wirtschaftsleben noch nicht viel kannte. Aber schon in der Antike ging es los: Die Frau wird auf das Haus zurückgedrängt, verliert ihr Mitspracherecht außerhalb der Familie, schlimmer noch, und das kommt einem heute irgendwie bekannt vor: "Mit der Freiheit der Frau ist's jetzt zu Ende. Verläßt sie das Haus, so muß sie sich verhüllen, um nicht die Gelüste eines anderen Mannes zu erwecken."
Bebel lag mit diesem Bild der Frühzeit von den bürgerlichen Darstellungen gar nicht so weit entfernt. Auch sie anerkannten die Gleichberechtigung im "ganzen Haus" nach dem Vorbild der antiken Hauswirtschaft im "oikos". Die Ungleichheit zwischen Mann und Frau ergab sich aus der fortschreitenden Arbeitsteilung entlang der Trennung von Haus und Wirtschaft: Frauen blieben im Haus, nur war es nicht mehr das "ganze", sondern nicht einmal mehr das halbe. Sie durften sich im bürgerlichen Haushalt weiter um die Familie kümmern, die Musik spielte aber jetzt woanders. Im Bürgertum wurde diese Entwicklung unter anderem religiös gerechtfertigt und überhöht. Sozialistische Schriftsteller wandten sich dagegen den Trümmern der alten Hauswirtschaft zu: dem Gesinde, den Gesellen, den Arbeitern auf dem Land und in der Stadt - und ebenden Frauen, die im patriarchalisch geprägten Merkantilismus und Kapitalismus der Neuzeit im öffentlichen Leben nichts mehr zu melden hatten.
Bebels Buch ist eine große (agitatorisch verfasste) Sozialgeschichte der Beziehung von Mann und Frau - geschrieben unter dem Eindruck der in seiner Zeit aufstrebenden Ethnologie und Anthropologie, unter anderen vertreten durch Gelehrte wie Johann Jakob Bachofen ("Das Mutterrecht" war zehn Jahre vor Bebels Buch, 1869, erschienen). Bebel ging es zwar vor allem, aber nicht nur um die Frauen. Er konnte mit Hilfe ihrer "Unterdrückungsgeschichte" die Sozialdemokratie auf eine wesentlich breitere Grundlage stellen als nur auf die von Klassenkampf, von Ökonomie und Marxismus. Der Titel des Buches führt deshalb in die Irre: Es geht in zwei von vier Abschnitten nicht um Frauen, sondern um allgemeine Soziologie, um Staat, Gesellschaft und Wirtschaft.
Die Lösung? Für Bebel ist die Entwicklung des Privateigentums der Grund dafür, dass Frauen ihre Selbständigkeit und urzeitliche Dominanz verloren haben. Er gibt also auf die Frauenfrage die Antwort, die der SPD noch bis weit ins 20. Jahrhundert auf so gut wie alle Systemfragen eingefallen ist: Sozialisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, also Abschaffung des privaten Eigentums, umfassende kommunale und staatliche Verwaltung, Arbeit (und die Pflicht dazu!) für alle. Freiheit, Demokratie und "organisierte Arbeit", zu der die konsequente Gleichstellung von Mann und Frau gehöre, werden eine "Schaffenslust und einen Wetteifer erzeugen, wie sie in dem heutigen Wirtschaftssystem nirgends zu finden sind".
Es kam bekanntlich anders. Die Gleichstellung von Mann und Frau hat sich in sozialistischen Gesellschaften ohne Privateigentum vielleicht schneller, aber nicht nachhaltiger entwickelt als in kapitalistischen (auch wenn es in der DDR noch einmal elf Auflagen des Bebel-Buchs gab). Für die SPD aber viel wichtiger: Die Planbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft hat sich immer wieder als Irrtum herausgestellt, der dazu führte, dass die SPD ihrer Zeit hinterherhinkte und vor Revolutionen in eigener Sache stand: in Bebels Zeit, vor und nach "Godesberg", vor und nach der "Agenda 2010". Die erste Frau an der SPD-Spitze kommt also vielleicht gerade noch rechtzeitig.
JASPER VON ALTENBOCKUM
August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Genossenschaftsbuchdruckerei Leipzig 1879, später Dietz-Verlag Stuttgart/Berlin. 456 Seiten, im Antiquariat 3 bis 12 Euro.
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