Produktdetails
- Goldmann Taschenbücher
- Verlag: Goldmann
- Gewicht: 330g
- ISBN-13: 9783442096176
- Artikelnr.: 24039132
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.1995Schule des Köpfens
Frederic Tutens Revolutionsroman "Tallien" · Von Werner Ross
Auf den ersten Blick spielt Frederic Tutens Roman heutzutage in der Bronx, in New York, und sein Held ist ein Gewerkschaftsmann, ein Idealist, der sich nicht bestechen läßt von den bösen Kapitalisten und sich nicht fürchtet vor ihren Knechten, die ihm mit eingerollten Zeitungen als Schlagwerkzeugen (sie sind schnell weggeworfen und untaugliche Beweisstücke) zu Leibe rücken. Er heißt Rex und ist der Vater des Erzählers, aber das hindert ihn nicht daran, die Familie sitzenzulassen. Das hat man eben manchmal bei den Radikalen, so der Autor, daß die gewaltige Familie der Menschheit die einzige ist, in der sie sich wirklich wohl fühlen.
Frederic Tuten ist Direktor am City College New York für Literatur und und schöpferisches Schreiben, und dies sieht durchaus vor, daß sich der Autor der Ironie bedient und weder den Idealismus von New Yorker Arbeiterführern noch die idées fixes anderer Zeiten und Länder, zum Beispiel Frankreichs zur Zeit der Großen Revolution, zu entlarven sich scheut. Auch darf der Autor dank dieser schöpferischen Lizenz schon im zweiten Kapitel den Klassenkämpfer Rex aus dem Auge verlieren und sich der Lebensgeschichte des Jean-Lambert Tallien zuwenden, der von 1772 bis 1820 lebte, überwiegend in Paris. Mit einem kleinen, nicht besonders kreativen Trick hängt Tuten Talliens Geschichte an das erste Kapitel. "Ich hätte gern meinem Vater Talliens Geschichte erzählt", so die Überleitung. Dann erzählt er viele Kapitel lang unverdrossen dem Vater (der vermutlich dabei einschläft) und den Lesern, die die Erzählung ganz schön wach machen wird, Talliens Abenteuer.
Wie man weiß, herrschte während der Französischen Revolution la vertu, die Tugend; und la terreur, der Schrecken, war nur das unerläßliche Mittel der Kopfeskürzung, mit dem diese Herrschaft gegen alle Schmarotzer, Tunichtgute und Schandgesellen abgeschirmt wurde. Um die Greuel gibt es in Frankreich einen Historikerstreit, aber Tuten interessiert sich wenig dafür, sondern vor allem für Menschen, die erst selber köpften und dann geköpft wurden. Der Terror erzeugte sich selbst aus Angst und als Selbstverteidigung: Stirbt der, bleib' ich am Leben.
Tallien ist der junge Idealist, der erst Plakate druckt und klebt und dann einer von den Köpfern wird, ins Köpfen als revolutionäre Praxis hineinwächst, mit Skrupeln und Anwandlungen von Gerechtigkeitsgefühl, mit der sich selbst entschuldigenden Erziehung zur Härte, die sie alle seit dem ominösen Jahr 1793 in der einen oder anderen Variante durchlaufen. Das Gräßliche kommt auf leisen Pfoten, das soll gezeigt werden, es ist banal, wie Hannah Arendt zu sagen gewagt hat.
Aus dem Fall Tallien wird ein Roman in dem Augenblick, wo Jean-Lambert sich in eine aristokratische Köpfungsanwärterin namens Therese verliebt, sie aus dem Kerker holt und in ihre Wohnung zieht. Im vollen Schwung dieses antirevolutionären Privaterlebnisses gelingt es ihm, sich selbst und Therese zu retten, indem er, sozusagen schon auf der Liste, sich jäh an die Spitze einer Gruppe Unzufriedener schwingt, die ihrerseits Robespierre vor Gericht stellen und nach dem üblichen Verfahren zum Tode verurteilen. In der Darstellung dieses historischen Ereignisses entfaltet sich Tutens Meisterschaft. Er läßt keinen Plan abrollen, sondern zeigt den halsbrecherischen Sprung auf die Rettungsinsel Rednerpult, bei dem alles darauf ankommt, daß die anderen schnell dem Tollkühnen folgen und sich so die Kräfteverhältnisse im Konvent neu ordnen. Nun kann die Geschichte in aller Breite weitergehen, Bonaparte kommt und geht nach Ägypten, und der begabte Schreiber und Redner Tallien darf samt seiner Therese mit.
Das Schlimmste scheint überstanden, aber manchmal ist die bloße Politik noch schlimmer. Bonaparte muß nach Frankreich zurück und läßt seine geliebte Josephine da. Tallien kann nicht umhin, dem Meister zu folgen, und Therese findet es lustiger, mit Josephine in Ägypten zu bleiben. Tallien wird nicht mehr gebraucht, und wenn Tuten die Bitterkeit dieser Kaltstellung aufzeichnet, zeigt er noch einmal, daß er sich auf "schöpferisches Schreiben" versteht. Tallien hockt wieder allein in einer elenden Kammer. Einmal hält ein Landauer unten vor der Tür. "Doch kein Schritt war auf der Treppe zu hören, kein Klopfen an der Tür, nur das Klappern der Hufe - wie Würfel, die in einen Blechteller fallen - und das Rumpeln der Räder, als die Kutsche weiterfuhr." Das ist der letzte Satz.
Tuten wäre ein schlechter New Yorker, wenn er sich, von dem "Winterreise"-Schluß abgesehen, zur Sentimentalität verführen ließe. Er ist gewitzt, erzählt gern schnoddrig, und die beiden Übersetzer folgen seinen Spuren diskret und genau. Der Leser wird nicht traurig sein, daß Vater Rex von der Beute dieses Buches nur zwei Kapitel abbekommt, und wird die neun, die Tallien und seiner Therese zugewiesen sind, in einem Zuge lesen.
Frederic Tuten: "Tallien". Ein Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Allie und Gabriele Kampf-Allie. Ammann Verlag, Zürich 1995. 202 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frederic Tutens Revolutionsroman "Tallien" · Von Werner Ross
Auf den ersten Blick spielt Frederic Tutens Roman heutzutage in der Bronx, in New York, und sein Held ist ein Gewerkschaftsmann, ein Idealist, der sich nicht bestechen läßt von den bösen Kapitalisten und sich nicht fürchtet vor ihren Knechten, die ihm mit eingerollten Zeitungen als Schlagwerkzeugen (sie sind schnell weggeworfen und untaugliche Beweisstücke) zu Leibe rücken. Er heißt Rex und ist der Vater des Erzählers, aber das hindert ihn nicht daran, die Familie sitzenzulassen. Das hat man eben manchmal bei den Radikalen, so der Autor, daß die gewaltige Familie der Menschheit die einzige ist, in der sie sich wirklich wohl fühlen.
Frederic Tuten ist Direktor am City College New York für Literatur und und schöpferisches Schreiben, und dies sieht durchaus vor, daß sich der Autor der Ironie bedient und weder den Idealismus von New Yorker Arbeiterführern noch die idées fixes anderer Zeiten und Länder, zum Beispiel Frankreichs zur Zeit der Großen Revolution, zu entlarven sich scheut. Auch darf der Autor dank dieser schöpferischen Lizenz schon im zweiten Kapitel den Klassenkämpfer Rex aus dem Auge verlieren und sich der Lebensgeschichte des Jean-Lambert Tallien zuwenden, der von 1772 bis 1820 lebte, überwiegend in Paris. Mit einem kleinen, nicht besonders kreativen Trick hängt Tuten Talliens Geschichte an das erste Kapitel. "Ich hätte gern meinem Vater Talliens Geschichte erzählt", so die Überleitung. Dann erzählt er viele Kapitel lang unverdrossen dem Vater (der vermutlich dabei einschläft) und den Lesern, die die Erzählung ganz schön wach machen wird, Talliens Abenteuer.
Wie man weiß, herrschte während der Französischen Revolution la vertu, die Tugend; und la terreur, der Schrecken, war nur das unerläßliche Mittel der Kopfeskürzung, mit dem diese Herrschaft gegen alle Schmarotzer, Tunichtgute und Schandgesellen abgeschirmt wurde. Um die Greuel gibt es in Frankreich einen Historikerstreit, aber Tuten interessiert sich wenig dafür, sondern vor allem für Menschen, die erst selber köpften und dann geköpft wurden. Der Terror erzeugte sich selbst aus Angst und als Selbstverteidigung: Stirbt der, bleib' ich am Leben.
Tallien ist der junge Idealist, der erst Plakate druckt und klebt und dann einer von den Köpfern wird, ins Köpfen als revolutionäre Praxis hineinwächst, mit Skrupeln und Anwandlungen von Gerechtigkeitsgefühl, mit der sich selbst entschuldigenden Erziehung zur Härte, die sie alle seit dem ominösen Jahr 1793 in der einen oder anderen Variante durchlaufen. Das Gräßliche kommt auf leisen Pfoten, das soll gezeigt werden, es ist banal, wie Hannah Arendt zu sagen gewagt hat.
Aus dem Fall Tallien wird ein Roman in dem Augenblick, wo Jean-Lambert sich in eine aristokratische Köpfungsanwärterin namens Therese verliebt, sie aus dem Kerker holt und in ihre Wohnung zieht. Im vollen Schwung dieses antirevolutionären Privaterlebnisses gelingt es ihm, sich selbst und Therese zu retten, indem er, sozusagen schon auf der Liste, sich jäh an die Spitze einer Gruppe Unzufriedener schwingt, die ihrerseits Robespierre vor Gericht stellen und nach dem üblichen Verfahren zum Tode verurteilen. In der Darstellung dieses historischen Ereignisses entfaltet sich Tutens Meisterschaft. Er läßt keinen Plan abrollen, sondern zeigt den halsbrecherischen Sprung auf die Rettungsinsel Rednerpult, bei dem alles darauf ankommt, daß die anderen schnell dem Tollkühnen folgen und sich so die Kräfteverhältnisse im Konvent neu ordnen. Nun kann die Geschichte in aller Breite weitergehen, Bonaparte kommt und geht nach Ägypten, und der begabte Schreiber und Redner Tallien darf samt seiner Therese mit.
Das Schlimmste scheint überstanden, aber manchmal ist die bloße Politik noch schlimmer. Bonaparte muß nach Frankreich zurück und läßt seine geliebte Josephine da. Tallien kann nicht umhin, dem Meister zu folgen, und Therese findet es lustiger, mit Josephine in Ägypten zu bleiben. Tallien wird nicht mehr gebraucht, und wenn Tuten die Bitterkeit dieser Kaltstellung aufzeichnet, zeigt er noch einmal, daß er sich auf "schöpferisches Schreiben" versteht. Tallien hockt wieder allein in einer elenden Kammer. Einmal hält ein Landauer unten vor der Tür. "Doch kein Schritt war auf der Treppe zu hören, kein Klopfen an der Tür, nur das Klappern der Hufe - wie Würfel, die in einen Blechteller fallen - und das Rumpeln der Räder, als die Kutsche weiterfuhr." Das ist der letzte Satz.
Tuten wäre ein schlechter New Yorker, wenn er sich, von dem "Winterreise"-Schluß abgesehen, zur Sentimentalität verführen ließe. Er ist gewitzt, erzählt gern schnoddrig, und die beiden Übersetzer folgen seinen Spuren diskret und genau. Der Leser wird nicht traurig sein, daß Vater Rex von der Beute dieses Buches nur zwei Kapitel abbekommt, und wird die neun, die Tallien und seiner Therese zugewiesen sind, in einem Zuge lesen.
Frederic Tuten: "Tallien". Ein Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Allie und Gabriele Kampf-Allie. Ammann Verlag, Zürich 1995. 202 S., geb., 34,- DM.
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