Andros in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Seit alters her ist die Kykladeninsel Heimat bedeutender Reederfamilien. Die Männer beherrschen als Seefahrer die Weltmeere; an Land zurück bleiben die Frauen. Sie tragen die Verantwortung für Familie und Haus und können nur davon träumen, selbst einmal die Insel zu verlassen. Im Mittelpunkt dieser Gemeinschaft stehen die Kapitänsfrau Mína und ihre Töchter Órsa und Móska - und die unglückliche Liebe zwischen dem jungen Kapitän Spíros und Órsa, die von den eisernen Gesetzen der Familientradition dazu verdammt ist, einen ungeliebten Mann zu heiraten, um dann Spíros an der Seite ihrer jüngeren Schwester zu sehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2001Fluch der dünnen Dielenbretter
Keine Schatzinsel, doch eine Entdeckung: Ioanna Karystiani spielt Schiffeversenken im Ägäischen Meer · Von Tilman Spreckelsen
Das Unglück der Familie Saltaféros von der Kykladeninsel Andros wurzelt in einer seltsamen Mischung aus Sparsamkeit und Verschwendung: "Als die Saltaféros' 1917 das zweistöckige Haus bauten, warfen sie für Fensterrahmen und Türknäufe ihr Geld hinaus, beim Boden reute es sie: Wie ein ausgebreitetes Stück Gaze ließ er die Töne und das Leben der oberen Wohnung in die untere durchfließen, blanke, dünne Zypressenbretter, ohne Mörtel dazwischen, ohne festes Material, um zu zeigen, daß es zwei Wohnungen waren, ihre Leben zu trennen und sie in sicherer Distanz zu halten."
Weil es diese Distanz nicht gibt, wird Órsa, die ältere Tochter der Seefahrerfamilie, zur Ohrenzeugin der Liebesnächte, die ihre Schwester Móska mit dem Kapitän Spíros verbringt. Das jungverheiratete Paar bewohnt die obere Wohnung des Hauses, Órsa und ihr Mann Nikos die untere. Nacht für Nacht lauscht Órsa angespannt auf die Geräusche, die von oben herunterdringen, und auch als sie schon drei eigene Kinder hat, kommt sie von dem Liebesleben ihrer Schwester nicht los. Und als Spíros Jahre später ums Leben kommt, ist es seine Schwägerin, die sich zu Tode hungert, nicht die Witwe.
Órsas Obsession für den Mann ihrer Schwester bildet einen wesentlichen Erzählstrang in "Die Frauen von Andros". Der Debütroman der griechischen Drehbuchautorin Ioanna Karystiani, der jetzt, vier Jahre nach der Originalausgabe, auch auf deutsch erscheint, ist dabei alles andere als die melodramatische Schilderung einer verheerenden Leidenschaft, der am Ende der räumliche wie emotionale Zusammenhalt eines Familienverbandes zum Opfer fällt. Denn Karystiani vermeidet alle Untiefen, die ihren Stoff zur Kolportage machen könnten, vor allem die der einseitigen Identifikation mit einer Figur. Fortwährend nimmt sie wechselnde Perspektiven ein und erschafft damit ein Panorama andriotischen Lebens, das um so natürlicher wirkt, als die Autorin von vielen Protagonisten erzählt, ohne auch nur von einem einzigen erschöpfend zu berichten. Die Figuren bleiben in ihren innersten Beweggründen zunächst rätselhaft, was dem Roman entschieden gut bekommt, und Karystiani läßt häufig Geschehnisse im dunkeln, solange sie auch den übrigen Protagonisten verborgen bleiben.
Das sind nicht wenige. Denn bei aller räumlichen Enge der Insel ist die Distanz frappierend, die sich selbst innerhalb der Familien und vor allem zwischen den Ehepartnern auftut. Präsent sind auf Andros überwiegend die Frauen, die Männer sind meist als Seefahrer unterwegs, unterhalten Parallelfamilien in entfernten Hafenstädten oder verschwinden einfach so. Wenn sie tatsächlich auf der Insel erscheinen - meist für ein paar Sommermonate im Zweijahresrhythmus -, zeugen sie Kinder, die ihre Väter erst zu Gesicht bekommen, wenn sie bereits laufen können.
Ihre größte Präsenz, so scheint es, entfalten die Männer im Tod, der sie in der Regel bei Schiffsunglücken vor fremden Küsten ereilt. Ständig wird auf Andros der Toten gedacht, fast jede Woche jährt sich eine Seekatastrophe, bei der Insulaner den Tod gefunden haben und jetzt rituell betrauert werden. Wer sich diesem Brauch verweigert, bleibt mit der Trauer allein wie die jung verwitwete und offensichtlich verwirrte Katarína: "Ihr Mann war vor zwölf Jahren am anderen Ende der Welt ertrunken, seitdem ertrug seine Frau das Blau des Meeres nicht mehr, sie war umgezogen, hinter einen kleinen, langweiligen Hügel, und in Begleitung ihrer Beschützerin Móska machte sie die größten und aufwendigsten Umwege, nur um die Gassen zu meiden, an deren Ende ein winziges Stück Ägäis zu sehen war." Wie viele andere Frauen der Insel kann sich auch Katarína nicht dazu überwinden, Fische oder andere Meerestiere zu verspeisen, um über die Nahrungskette nicht unwissentlich den Leichnam ihres Mannes zu sich zu nehmen. In diesem vorwiegend aus Frauenperspektive erzählten Seefahrerbuch ist das Meer keine Idylle und der sommerliche Sandstrand kein Paradies.
Das Gefüge der Groß- und Kleingruppen, die Stadtgesellschaft und die einzelnen Familien, die Hierarchien im Öffentlichen und im Privaten überlagern einander und erhalten ihre Relevanz für den Roman erst aus den Bezügen, die sich daraus für die einzelnen Konstellationen ergeben. So steht der absoluten Dominanz, die Mína, Órsas Mutter, im engeren Kreise der Familie entfaltet, ihre Machtlosigkeit außerhalb der engen Grenzen von Andros gegenüber, die sie durch den zielstrebigen Erwerb von Grundbesitz auf dem Festland auszugleichen sucht. Mína ist eine scheinbar klar konturierte, tatsächlich aber ambivalente Gestalt, die in ihren Entscheidungen über das Wohl und Wehe ihrer Töchter verfügt, aber auch in ihrem Starrsinn von der Autorin verständnisvoll geschildert wird.
Der häuslichen Kontrolle setzen die Töchter unterschiedliche Strategien entgegen: Móska flüchtet in den Kreis ihrer Freundinnen, Órsa in eine selbstentworfene Welt, deren zunehmende Intensität die Realität bald zu überlagern droht. So hat sie zwar tatsächlich eine schüchterne Liebe mit Spíros erlebt, lange bevor der ihre Schwester heiratet, aber diese Liebesbeziehung war für sie vor allem die Umsetzung eines längst entworfenen Musters, das mit der Person Spíros wenig zu tun hatte.
Daß der Zauber dieser einseitigen Liebe spätestens mit einer Eheschließung zerbrochen wäre, läßt sich vermuten, und vielleicht hat es sogar Órsa geahnt, die sich kurz darauf sonderbar passiv in eine von der Mutter arrangierte Hochzeit mit dem blassen Nikos schickt - der stille Reeder steht Órsas Gedankenfluchten nicht im Wege. Doch indem Spíros später ausgerechnet Órsas Schwester heiratet, kommt dieses Gefüge ins Wanken, wenn für Órsa die reale und die entworfene Welt auf einmal nur durch ein paar dünne Zypressenbretter getrennt sind.
Karystiani beschreibt diese Entwicklung mit der gleichen diskreten Effizienz, die den gesamten Roman auszeichnet. So löst sie ein, was Thornton Wilder 1930 mit seinem seltsam ortlosen Roman "Die Frau aus Andros" nicht leisten konnte: Sie macht aus der Kykladeninsel einen Ort der Literatur.
Ioanna Karystiani: "Die Frauen von Andros". Roman. Aus dem Neugriechischen übersetzt von Norbert Hauser. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001. 293 S., geb., 39,80 DM.
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Keine Schatzinsel, doch eine Entdeckung: Ioanna Karystiani spielt Schiffeversenken im Ägäischen Meer · Von Tilman Spreckelsen
Das Unglück der Familie Saltaféros von der Kykladeninsel Andros wurzelt in einer seltsamen Mischung aus Sparsamkeit und Verschwendung: "Als die Saltaféros' 1917 das zweistöckige Haus bauten, warfen sie für Fensterrahmen und Türknäufe ihr Geld hinaus, beim Boden reute es sie: Wie ein ausgebreitetes Stück Gaze ließ er die Töne und das Leben der oberen Wohnung in die untere durchfließen, blanke, dünne Zypressenbretter, ohne Mörtel dazwischen, ohne festes Material, um zu zeigen, daß es zwei Wohnungen waren, ihre Leben zu trennen und sie in sicherer Distanz zu halten."
Weil es diese Distanz nicht gibt, wird Órsa, die ältere Tochter der Seefahrerfamilie, zur Ohrenzeugin der Liebesnächte, die ihre Schwester Móska mit dem Kapitän Spíros verbringt. Das jungverheiratete Paar bewohnt die obere Wohnung des Hauses, Órsa und ihr Mann Nikos die untere. Nacht für Nacht lauscht Órsa angespannt auf die Geräusche, die von oben herunterdringen, und auch als sie schon drei eigene Kinder hat, kommt sie von dem Liebesleben ihrer Schwester nicht los. Und als Spíros Jahre später ums Leben kommt, ist es seine Schwägerin, die sich zu Tode hungert, nicht die Witwe.
Órsas Obsession für den Mann ihrer Schwester bildet einen wesentlichen Erzählstrang in "Die Frauen von Andros". Der Debütroman der griechischen Drehbuchautorin Ioanna Karystiani, der jetzt, vier Jahre nach der Originalausgabe, auch auf deutsch erscheint, ist dabei alles andere als die melodramatische Schilderung einer verheerenden Leidenschaft, der am Ende der räumliche wie emotionale Zusammenhalt eines Familienverbandes zum Opfer fällt. Denn Karystiani vermeidet alle Untiefen, die ihren Stoff zur Kolportage machen könnten, vor allem die der einseitigen Identifikation mit einer Figur. Fortwährend nimmt sie wechselnde Perspektiven ein und erschafft damit ein Panorama andriotischen Lebens, das um so natürlicher wirkt, als die Autorin von vielen Protagonisten erzählt, ohne auch nur von einem einzigen erschöpfend zu berichten. Die Figuren bleiben in ihren innersten Beweggründen zunächst rätselhaft, was dem Roman entschieden gut bekommt, und Karystiani läßt häufig Geschehnisse im dunkeln, solange sie auch den übrigen Protagonisten verborgen bleiben.
Das sind nicht wenige. Denn bei aller räumlichen Enge der Insel ist die Distanz frappierend, die sich selbst innerhalb der Familien und vor allem zwischen den Ehepartnern auftut. Präsent sind auf Andros überwiegend die Frauen, die Männer sind meist als Seefahrer unterwegs, unterhalten Parallelfamilien in entfernten Hafenstädten oder verschwinden einfach so. Wenn sie tatsächlich auf der Insel erscheinen - meist für ein paar Sommermonate im Zweijahresrhythmus -, zeugen sie Kinder, die ihre Väter erst zu Gesicht bekommen, wenn sie bereits laufen können.
Ihre größte Präsenz, so scheint es, entfalten die Männer im Tod, der sie in der Regel bei Schiffsunglücken vor fremden Küsten ereilt. Ständig wird auf Andros der Toten gedacht, fast jede Woche jährt sich eine Seekatastrophe, bei der Insulaner den Tod gefunden haben und jetzt rituell betrauert werden. Wer sich diesem Brauch verweigert, bleibt mit der Trauer allein wie die jung verwitwete und offensichtlich verwirrte Katarína: "Ihr Mann war vor zwölf Jahren am anderen Ende der Welt ertrunken, seitdem ertrug seine Frau das Blau des Meeres nicht mehr, sie war umgezogen, hinter einen kleinen, langweiligen Hügel, und in Begleitung ihrer Beschützerin Móska machte sie die größten und aufwendigsten Umwege, nur um die Gassen zu meiden, an deren Ende ein winziges Stück Ägäis zu sehen war." Wie viele andere Frauen der Insel kann sich auch Katarína nicht dazu überwinden, Fische oder andere Meerestiere zu verspeisen, um über die Nahrungskette nicht unwissentlich den Leichnam ihres Mannes zu sich zu nehmen. In diesem vorwiegend aus Frauenperspektive erzählten Seefahrerbuch ist das Meer keine Idylle und der sommerliche Sandstrand kein Paradies.
Das Gefüge der Groß- und Kleingruppen, die Stadtgesellschaft und die einzelnen Familien, die Hierarchien im Öffentlichen und im Privaten überlagern einander und erhalten ihre Relevanz für den Roman erst aus den Bezügen, die sich daraus für die einzelnen Konstellationen ergeben. So steht der absoluten Dominanz, die Mína, Órsas Mutter, im engeren Kreise der Familie entfaltet, ihre Machtlosigkeit außerhalb der engen Grenzen von Andros gegenüber, die sie durch den zielstrebigen Erwerb von Grundbesitz auf dem Festland auszugleichen sucht. Mína ist eine scheinbar klar konturierte, tatsächlich aber ambivalente Gestalt, die in ihren Entscheidungen über das Wohl und Wehe ihrer Töchter verfügt, aber auch in ihrem Starrsinn von der Autorin verständnisvoll geschildert wird.
Der häuslichen Kontrolle setzen die Töchter unterschiedliche Strategien entgegen: Móska flüchtet in den Kreis ihrer Freundinnen, Órsa in eine selbstentworfene Welt, deren zunehmende Intensität die Realität bald zu überlagern droht. So hat sie zwar tatsächlich eine schüchterne Liebe mit Spíros erlebt, lange bevor der ihre Schwester heiratet, aber diese Liebesbeziehung war für sie vor allem die Umsetzung eines längst entworfenen Musters, das mit der Person Spíros wenig zu tun hatte.
Daß der Zauber dieser einseitigen Liebe spätestens mit einer Eheschließung zerbrochen wäre, läßt sich vermuten, und vielleicht hat es sogar Órsa geahnt, die sich kurz darauf sonderbar passiv in eine von der Mutter arrangierte Hochzeit mit dem blassen Nikos schickt - der stille Reeder steht Órsas Gedankenfluchten nicht im Wege. Doch indem Spíros später ausgerechnet Órsas Schwester heiratet, kommt dieses Gefüge ins Wanken, wenn für Órsa die reale und die entworfene Welt auf einmal nur durch ein paar dünne Zypressenbretter getrennt sind.
Karystiani beschreibt diese Entwicklung mit der gleichen diskreten Effizienz, die den gesamten Roman auszeichnet. So löst sie ein, was Thornton Wilder 1930 mit seinem seltsam ortlosen Roman "Die Frau aus Andros" nicht leisten konnte: Sie macht aus der Kykladeninsel einen Ort der Literatur.
Ioanna Karystiani: "Die Frauen von Andros". Roman. Aus dem Neugriechischen übersetzt von Norbert Hauser. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001. 293 S., geb., 39,80 DM.
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