»Mein Thema heute, so fürchte ich, ist fast schon beschämend aktuell.«
Was ist Freiheit, und was bedeutet sie uns? Begreifen wir sie nur als die Abwesenheit von Furcht und von Zwängen, oder meint Freiheit nicht vielmehr auch, sich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen, eine eigene politische Stimme zu haben, um von anderen gehört, erkannt und schließlich erinnert zu werden? Und: Haben wir diese Freiheit einfach, oder wer gibt sie uns, und kann man sie uns auch wieder wegnehmen? In diesem auf Deutsch bisher unveröffentlichten Essay zeichnet Hannah Arendt die historische Entwicklung des Freiheitsbegriffs nach. Dabei berücksichtigt sie insbesondere die Revolutionen in Frankreich und Amerika. Während die eine in eine Katastrophe mündete und zu einem Wendepunkt der Geschichte wurde, war die andere ein triumphaler Erfolg und blieb doch eine lokale Angelegenheit. Aber warum?
Mit einem Nachwort von Thomas Meyer
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Wirthensohn
Was ist Freiheit, und was bedeutet sie uns? Begreifen wir sie nur als die Abwesenheit von Furcht und von Zwängen, oder meint Freiheit nicht vielmehr auch, sich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen, eine eigene politische Stimme zu haben, um von anderen gehört, erkannt und schließlich erinnert zu werden? Und: Haben wir diese Freiheit einfach, oder wer gibt sie uns, und kann man sie uns auch wieder wegnehmen? In diesem auf Deutsch bisher unveröffentlichten Essay zeichnet Hannah Arendt die historische Entwicklung des Freiheitsbegriffs nach. Dabei berücksichtigt sie insbesondere die Revolutionen in Frankreich und Amerika. Während die eine in eine Katastrophe mündete und zu einem Wendepunkt der Geschichte wurde, war die andere ein triumphaler Erfolg und blieb doch eine lokale Angelegenheit. Aber warum?
Mit einem Nachwort von Thomas Meyer
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Wirthensohn
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2018Die Welt als Stoff des Handelns
Im Nachlass ist ein Vortrag Hannah Arendts über die republikanische Freiheit und ihre Gefährdungen aufgetaucht:
Eine Begründung der politischen Existenz nach antikem Vorbild, unter angemessenen ökonomischen und technischen Bedingungen
VON GUSTAV SEIBT
Wie kommt das Neue in die Welt? Oft dadurch, dass etwas Altes wiederhergestellt werden soll. Der Begriff „Revolution“, der für unsere Ohren mit dem Bruch zu etwas völlig Neuem verbunden ist, stammt aus der Himmelskunde, wo er das Zurückschwingen der Gestirne, einen gesetzmäßigen Vorgang also, beschrieb. Daher sollte er bei frühen politischen Verwendungen die Rückkehr zu einer gesetzmäßigen Ordnung bezeichnen. Die „Glorious Revolution“, die glorreiche Revolution in England 1688, war gedacht als Restauration einer rechtmäßigen, gesetzlich gebundenen Königsgewalt. Die Freiheit, die dabei etabliert wurde, sollte althergebracht sein, nicht neu.
Darauf wies Hannah Arendt, eine der großen Theoretikerinnen der Revolution, 1967 hin, in einem Vortrag, der erst jetzt aus dem Nachlass publiziert wird. Er beleuchtet in einem geschichtsphilosophischen Riesenbogen den Zusammenhang von Freiheit und Revolution. Dieser großartige Text überschneidet sich in vielen Punkten mit Arendts Buch „Über die Revolution“ von 1963 und mit einem Vortrag aus dem Jahr 1961 über „Revolution und Freiheit“. Doch Arendts Nachdenken arbeitete unentwegt weiter, im Kontakt mit den zeitgenössischen Erhebungen vor allem der Sechzigerjahre, den kolonialen und den studentischen Revolten. Das macht das lange verschollene Stück so reizvoll.
Für Arendt ist Freiheit immer politisch, sie realisiert sich beim Zusammenwirken Freier und Gleicher in einem politischen Raum, wo sie um die richtige Form des Zusammenleben streiten. Freiheit ist republikanisch. Die Staatsform der Republik, die von den neuzeitlichen Revolutionen errungen wurde, ist ihr Ort und ihr Ziel. Diese politische Freiheit aber setzt die Befreiung der Individuen von Zwang und Not schon voraus.
Damit verbannt Arendt die klassisch liberale „negative Freiheit“, also die Schutzrechte des Individuums, das von Staat und Gesellschaft vor allem in Ruhe gelassen werden möchte, um seine privaten Zwecke zu verfolgen – vom Wirtschaftsleben bis zur Selbstverwirklichung in Genuss und Bildung – in die zweite Reihe. Die höchste Freiheit findet statt unter Menschen, „die in der Öffentlichkeit gemeinsam Freude“ haben, „um von anderen gesehen, gehört, erkannt und erinnert zu werden“. Freiheit ist das Leben in einer Welt, die zum Stoff des Handelns wird; sie mehr als der Selbstgenuss in einem menschenrechtlich abgesicherten Privatraum, wo kleinteilig ausgerechnet wird, welche Freiheitsäußerung mit welchen Interessen anderer in Konflikt kommen könnte.
Solche positive Freiheit ist die politische Existenz nach antikem Vorbild, und ohne dieses Vorbild, das in den Historien der Griechen und Römer überliefert ist, wären, so glaubt Arendt, auch die modernen republikanischen Revolutionen nicht möglich gewesen. Dabei realisiert sie auch die anthropologische Möglichkeit zu immer Neuem, die schon in dem Umstand angelegt ist, dass wir alle geboren werden und als neue Wesen in die Welt gelangen. Freiheit ist so unvermeidlich und so unvorhersehbar wie das Leben selbst.
Doch die republikanische, im Kern anthropologische Freiheit braucht zu ihrer Verwirklichung materielle Möglichkeiten. Sie hat soziale Voraussetzungen. Diese konturiert Arendt in dem wiederentdeckten Text schärfer, auch illusionsloser als in allen ihren früheren Äußerungen.
Die amerikanischen Bürger und die französischen Intellektuellen, die die großen Revolutionen der Neuzeit, die amerikanische von 1776 und die französische von 1789, in Gang setzten, hatten die „Freiheit, frei zu sein“ schon, so Arendt, denn sie waren materiell sorgenfrei, sie lebten von Grundbesitz und Renten, sie zählten nicht zu den Elenden und Unglücklichen (den „misérables“ und „malheureux“), die täglich gegen die Armut ums Überleben kämpfen mussten. Die Freiheit, frei zu sein, ist das, was die Antike „Muße“ nannte.
In dem bisher schon bekannten Vortrag von 1961 sah Arendt das materielle Fundament der amerikanischen Freiheit im Rohstoffreichtum und im vorerst unbegrenzt verfügbaren Land des nordamerikanischen Kontinents. 1967, in dem jetzt publizierten Text, weist sie auf die Sklaverei hin. Die Sklaverei aber betraf in der Überzeugung der Gründerväter eine „andere Rasse“, Not und Elend mussten also nicht als Problem des eigenen republikanischen Verbands begriffen werden. Das Elend lag draußen und unten, irgendwo am Rand und in den Fundamenten. Diese Auslagerung der sozialen Frage teilte die junge amerikanische Republik mit den antiken Poleis, die auch nur einer kleinen Schicht männlicher Stadtbürger den Zugang zum politischen Leben unter Freien und Gleichen gewährten.
Der Französischen Revolution war eine solche Konzentration auf einen verfassungspolitisch-sozialen Kern versagt. Sie musste nicht nur eine Republik gründen, sondern sah sich sogleich auch mit der sozialen Frage, mit dem Elend der hungernden Landbevölkerung und der hauptstädtischen Massen konfrontiert. Die Not von Müttern, denen die Kinder verhungerten, gab ihr, so zitiert Arendt eine eindrucksvolle Passage von Lord Acton, eine „diamantene Härte“. Aber der Zwang zur sozialen Revolution, zur riesenhaften Umverteilung von adeligem und kirchlichem Eigentum, führte die Pariser Revolution eben auch in den Terror. Sie musste das Volk insgesamt aus dem Elend befreien, „die Menschen befreien, damit sie frei sein konnten“. Zusätzlich zur Umwälzung der Staatsform also Umwälzung der Gesellschaft.
Das aber führte diese und die späteren europäischen Revolutionen immer wieder auf jenen totalitären Pfad, den die liberalen Kritiker der sogenannten „positiven Freiheit“, also der Freiheit, die Welt zu verändern, ihr vorgehalten haben. Arendts neu aufgetauchter Text passt präzise zu einem Sammelband, der die philosophische Kontroverse dokumentiert, die sich an Isaiah Berlins berühmte Abhandlung „Zwei Freiheitsbegriffe“ von 1958 anschloss. Berlin hatte die totalitären Potenziale des positiven Freiheitsbegriffs im Blick, auf die Arendt in ihren Revolutionsschriften hinwies, im Übrigen ohne viel auf die von Berlin bevorzugte negative Freiheit zu geben.
Denn die beiden Aspekte der Freiheit stehen bei ihr in einem Bedingungsverhältnis: Die Gründer von 1776 und 1789 waren schon weitgehend frei; doch konnte die von ihnen vorgelebte republikanische Freiheit auf Dauer nicht an den Schranken des Privilegs haltmachen. Der Individualismus der negativen Freiheit kann nicht einfach rationiert werden. Die Tragik der Französischen Revolution bestand darin, dass sie um des Wohls der Massen willen zu der aufgeklärten Despotie zurückkehrte, gegen die sie ursprünglich angetreten war: Sie mündete in eine Diktatur.
Arendts Ausblick ist nüchtern: Es sind in ihrer Gegenwart nicht „irgendwelche modernen politischen Vorstellungen, darunter auch revolutionäre Ideen“, die die Freiheit, frei zu sein, für alle ermöglichen, sondern der technische Fortschritt. Erst er befreit die vielen davon, die Last der wenigen zu tragen, „sodass zumindest einige frei sein konnten“. Technik ersetzt Sklaverei. Ohne Massenwohlstand keine Massendemokratie, und ohne Demokratie keine Freiheitsrechte der zahllosen Einzelnen.
Dabei hat Hannah Arendt genauso wenig wie Isaiah Berlin das despotische Potenzial der Massendemokratie verkannt. Menschenrechte als Schutzrechte, Verfassungsprinzipien wie Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz als Machtbalancen sind in Massendemokratien noch wichtiger als unter den galanten republikanischen Umständen, in denen privilegierte Gleiche im edlen Wettstreit ums Gemeinwohl ringen. Dass die von Hannah Arendt eher geringschätzig behandelte negative Freiheit des Individuums angesichts der jüngsten Kommunikations- und Überwachungstechnologien eine dramatisch neue Brisanz erhält, ist evident, aber noch gar nicht hinreichend ausbuchstabiert.
Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. Mit einem Nachwort von Thomas Meyer. Aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2018. 63 Seiten, 8 Euro. E-Book 6,99 Euro.
Philipp Schink (Hrsg.): Freiheit. Zeitgenössische Texte zu einer philosophischen Kontroverse. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 521 Seiten, 22 Euro.
Revolution ist ein Wort
aus der Astronomie, und es
bedeutet Zurückwälzung
Die Helden der Französischen
Revolution waren schon frei.
Sie lebten von ihren Renten
Was aber ist mit der „negativen“
Freiheit: dem Recht, in
Ruhe gelassen zu werden?
Wenn die Antike von Freiheit sprach, dann meinte sie damit zuerst die Freiheit zur Muße: Hannah Arendt (1906-1975).
Foto: ddpimages
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Im Nachlass ist ein Vortrag Hannah Arendts über die republikanische Freiheit und ihre Gefährdungen aufgetaucht:
Eine Begründung der politischen Existenz nach antikem Vorbild, unter angemessenen ökonomischen und technischen Bedingungen
VON GUSTAV SEIBT
Wie kommt das Neue in die Welt? Oft dadurch, dass etwas Altes wiederhergestellt werden soll. Der Begriff „Revolution“, der für unsere Ohren mit dem Bruch zu etwas völlig Neuem verbunden ist, stammt aus der Himmelskunde, wo er das Zurückschwingen der Gestirne, einen gesetzmäßigen Vorgang also, beschrieb. Daher sollte er bei frühen politischen Verwendungen die Rückkehr zu einer gesetzmäßigen Ordnung bezeichnen. Die „Glorious Revolution“, die glorreiche Revolution in England 1688, war gedacht als Restauration einer rechtmäßigen, gesetzlich gebundenen Königsgewalt. Die Freiheit, die dabei etabliert wurde, sollte althergebracht sein, nicht neu.
Darauf wies Hannah Arendt, eine der großen Theoretikerinnen der Revolution, 1967 hin, in einem Vortrag, der erst jetzt aus dem Nachlass publiziert wird. Er beleuchtet in einem geschichtsphilosophischen Riesenbogen den Zusammenhang von Freiheit und Revolution. Dieser großartige Text überschneidet sich in vielen Punkten mit Arendts Buch „Über die Revolution“ von 1963 und mit einem Vortrag aus dem Jahr 1961 über „Revolution und Freiheit“. Doch Arendts Nachdenken arbeitete unentwegt weiter, im Kontakt mit den zeitgenössischen Erhebungen vor allem der Sechzigerjahre, den kolonialen und den studentischen Revolten. Das macht das lange verschollene Stück so reizvoll.
Für Arendt ist Freiheit immer politisch, sie realisiert sich beim Zusammenwirken Freier und Gleicher in einem politischen Raum, wo sie um die richtige Form des Zusammenleben streiten. Freiheit ist republikanisch. Die Staatsform der Republik, die von den neuzeitlichen Revolutionen errungen wurde, ist ihr Ort und ihr Ziel. Diese politische Freiheit aber setzt die Befreiung der Individuen von Zwang und Not schon voraus.
Damit verbannt Arendt die klassisch liberale „negative Freiheit“, also die Schutzrechte des Individuums, das von Staat und Gesellschaft vor allem in Ruhe gelassen werden möchte, um seine privaten Zwecke zu verfolgen – vom Wirtschaftsleben bis zur Selbstverwirklichung in Genuss und Bildung – in die zweite Reihe. Die höchste Freiheit findet statt unter Menschen, „die in der Öffentlichkeit gemeinsam Freude“ haben, „um von anderen gesehen, gehört, erkannt und erinnert zu werden“. Freiheit ist das Leben in einer Welt, die zum Stoff des Handelns wird; sie mehr als der Selbstgenuss in einem menschenrechtlich abgesicherten Privatraum, wo kleinteilig ausgerechnet wird, welche Freiheitsäußerung mit welchen Interessen anderer in Konflikt kommen könnte.
Solche positive Freiheit ist die politische Existenz nach antikem Vorbild, und ohne dieses Vorbild, das in den Historien der Griechen und Römer überliefert ist, wären, so glaubt Arendt, auch die modernen republikanischen Revolutionen nicht möglich gewesen. Dabei realisiert sie auch die anthropologische Möglichkeit zu immer Neuem, die schon in dem Umstand angelegt ist, dass wir alle geboren werden und als neue Wesen in die Welt gelangen. Freiheit ist so unvermeidlich und so unvorhersehbar wie das Leben selbst.
Doch die republikanische, im Kern anthropologische Freiheit braucht zu ihrer Verwirklichung materielle Möglichkeiten. Sie hat soziale Voraussetzungen. Diese konturiert Arendt in dem wiederentdeckten Text schärfer, auch illusionsloser als in allen ihren früheren Äußerungen.
Die amerikanischen Bürger und die französischen Intellektuellen, die die großen Revolutionen der Neuzeit, die amerikanische von 1776 und die französische von 1789, in Gang setzten, hatten die „Freiheit, frei zu sein“ schon, so Arendt, denn sie waren materiell sorgenfrei, sie lebten von Grundbesitz und Renten, sie zählten nicht zu den Elenden und Unglücklichen (den „misérables“ und „malheureux“), die täglich gegen die Armut ums Überleben kämpfen mussten. Die Freiheit, frei zu sein, ist das, was die Antike „Muße“ nannte.
In dem bisher schon bekannten Vortrag von 1961 sah Arendt das materielle Fundament der amerikanischen Freiheit im Rohstoffreichtum und im vorerst unbegrenzt verfügbaren Land des nordamerikanischen Kontinents. 1967, in dem jetzt publizierten Text, weist sie auf die Sklaverei hin. Die Sklaverei aber betraf in der Überzeugung der Gründerväter eine „andere Rasse“, Not und Elend mussten also nicht als Problem des eigenen republikanischen Verbands begriffen werden. Das Elend lag draußen und unten, irgendwo am Rand und in den Fundamenten. Diese Auslagerung der sozialen Frage teilte die junge amerikanische Republik mit den antiken Poleis, die auch nur einer kleinen Schicht männlicher Stadtbürger den Zugang zum politischen Leben unter Freien und Gleichen gewährten.
Der Französischen Revolution war eine solche Konzentration auf einen verfassungspolitisch-sozialen Kern versagt. Sie musste nicht nur eine Republik gründen, sondern sah sich sogleich auch mit der sozialen Frage, mit dem Elend der hungernden Landbevölkerung und der hauptstädtischen Massen konfrontiert. Die Not von Müttern, denen die Kinder verhungerten, gab ihr, so zitiert Arendt eine eindrucksvolle Passage von Lord Acton, eine „diamantene Härte“. Aber der Zwang zur sozialen Revolution, zur riesenhaften Umverteilung von adeligem und kirchlichem Eigentum, führte die Pariser Revolution eben auch in den Terror. Sie musste das Volk insgesamt aus dem Elend befreien, „die Menschen befreien, damit sie frei sein konnten“. Zusätzlich zur Umwälzung der Staatsform also Umwälzung der Gesellschaft.
Das aber führte diese und die späteren europäischen Revolutionen immer wieder auf jenen totalitären Pfad, den die liberalen Kritiker der sogenannten „positiven Freiheit“, also der Freiheit, die Welt zu verändern, ihr vorgehalten haben. Arendts neu aufgetauchter Text passt präzise zu einem Sammelband, der die philosophische Kontroverse dokumentiert, die sich an Isaiah Berlins berühmte Abhandlung „Zwei Freiheitsbegriffe“ von 1958 anschloss. Berlin hatte die totalitären Potenziale des positiven Freiheitsbegriffs im Blick, auf die Arendt in ihren Revolutionsschriften hinwies, im Übrigen ohne viel auf die von Berlin bevorzugte negative Freiheit zu geben.
Denn die beiden Aspekte der Freiheit stehen bei ihr in einem Bedingungsverhältnis: Die Gründer von 1776 und 1789 waren schon weitgehend frei; doch konnte die von ihnen vorgelebte republikanische Freiheit auf Dauer nicht an den Schranken des Privilegs haltmachen. Der Individualismus der negativen Freiheit kann nicht einfach rationiert werden. Die Tragik der Französischen Revolution bestand darin, dass sie um des Wohls der Massen willen zu der aufgeklärten Despotie zurückkehrte, gegen die sie ursprünglich angetreten war: Sie mündete in eine Diktatur.
Arendts Ausblick ist nüchtern: Es sind in ihrer Gegenwart nicht „irgendwelche modernen politischen Vorstellungen, darunter auch revolutionäre Ideen“, die die Freiheit, frei zu sein, für alle ermöglichen, sondern der technische Fortschritt. Erst er befreit die vielen davon, die Last der wenigen zu tragen, „sodass zumindest einige frei sein konnten“. Technik ersetzt Sklaverei. Ohne Massenwohlstand keine Massendemokratie, und ohne Demokratie keine Freiheitsrechte der zahllosen Einzelnen.
Dabei hat Hannah Arendt genauso wenig wie Isaiah Berlin das despotische Potenzial der Massendemokratie verkannt. Menschenrechte als Schutzrechte, Verfassungsprinzipien wie Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz als Machtbalancen sind in Massendemokratien noch wichtiger als unter den galanten republikanischen Umständen, in denen privilegierte Gleiche im edlen Wettstreit ums Gemeinwohl ringen. Dass die von Hannah Arendt eher geringschätzig behandelte negative Freiheit des Individuums angesichts der jüngsten Kommunikations- und Überwachungstechnologien eine dramatisch neue Brisanz erhält, ist evident, aber noch gar nicht hinreichend ausbuchstabiert.
Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. Mit einem Nachwort von Thomas Meyer. Aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2018. 63 Seiten, 8 Euro. E-Book 6,99 Euro.
Philipp Schink (Hrsg.): Freiheit. Zeitgenössische Texte zu einer philosophischen Kontroverse. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 521 Seiten, 22 Euro.
Revolution ist ein Wort
aus der Astronomie, und es
bedeutet Zurückwälzung
Die Helden der Französischen
Revolution waren schon frei.
Sie lebten von ihren Renten
Was aber ist mit der „negativen“
Freiheit: dem Recht, in
Ruhe gelassen zu werden?
Wenn die Antike von Freiheit sprach, dann meinte sie damit zuerst die Freiheit zur Muße: Hannah Arendt (1906-1975).
Foto: ddpimages
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2018Neubeginn für die Gemeinschaft
Erstmals übersetzt: Hannah Arendts Essay über Freiheit
Wer eines von Hannah Arendts größeren Werken kennt, etwa die Bücher "Über die Revolution" oder "Vita activa", dem wird der jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlichte, aus einem Vortrag hervorgegangene Essay "Die Freiheit, frei zu sein" nichts wesentlich Neues bringen. Einige ihrer großen Themen sind in der Verkürzung pointierter herausgearbeitet - etwa die unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen, die laut Arendt für den Erfolg der Amerikanischen Revolution und das in ihren Augen totale Desaster der Französischen verantwortlich waren.
Das hat Arendts Nüchternheit im Blick auf die politischen Folgen sozialer Umstürze begründet: die "Befreiung" führe nicht zu Freiheit, weil die "soziale Revolution" unvermeidlich mit Gewalt verbunden sei und zu Terror führen könne. Ein Thema, das die Politikwissenschaft bis heute beschäftigt. Pointiert formuliert sie auch noch einmal ihre von Aristoteles entlehnte These, dass Freiheit im emphatischen Wortsinn bedeute, sich im öffentlichen Raum zu betätigen, also politisch aktiv zu sein in einer Arena, mit dem persönlichen Antrieb, sich auszuzeichnen, Ruhm und Ehre zu erringen.
Ein anderes ihrer großen Themen wird nur berührt: Die These von der Bedeutung der "Natalität", also davon, dass mit jedem neuen Leben, das in die Welt kommt, ein Neubeginn möglich sei, nicht nur für den Einzelnen, sondern letztlich auch für die politische Gemeinschaft, in der sich die Einzelnen zusammenfinden und verbünden können. Aus dieser "Verbündung" entsteht Macht - die unorthodoxe Ableitung eines Zentralbegriffs der Politik, den Arendt scharf von dem für sie vorpolitischen Mittel der Gewalt abhebt. Das heuristische Potential dieser Unterscheidung hat der lange Schatten von Max Webers Definition der Macht verdunkelt.
Thomas Meyer informiert in seinem Nachwort über die Entstehungsgeschichte dieses Essays und arbeitet Arendts Bedeutung für die politische Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert heraus. Sie gründet in An- und Einsichten, die in vielerlei Hinsicht quer zu den vorherrschenden Ideologien wie Liberalismus oder Sozialismus stehen. Obwohl Arendts persönliche Sympathie eher der politischen Linken galt, haben ihre Argumente - es fällt schwer von einer geschlossenen Theorie zu sprechen - bis in den Stil des Denkens und Schreibens hinein Berührungspunkte mit englischen Konservativen des vergangenen Jahrhunderts wie Michael Oakeshott oder Isaiah Berlin. Es ist diese Unvoreingenommenheit und die Offenheit für Interpretationen, die auch den Reiz dieses kleinen Büchleins ausmacht.
GÜNTHER NONNENMACHER.
Hannah Arendt: "Die Freiheit, frei zu sein".
Deutscher Taschenbuchverlag, München 2018. 60 S., br., 8,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erstmals übersetzt: Hannah Arendts Essay über Freiheit
Wer eines von Hannah Arendts größeren Werken kennt, etwa die Bücher "Über die Revolution" oder "Vita activa", dem wird der jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlichte, aus einem Vortrag hervorgegangene Essay "Die Freiheit, frei zu sein" nichts wesentlich Neues bringen. Einige ihrer großen Themen sind in der Verkürzung pointierter herausgearbeitet - etwa die unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen, die laut Arendt für den Erfolg der Amerikanischen Revolution und das in ihren Augen totale Desaster der Französischen verantwortlich waren.
Das hat Arendts Nüchternheit im Blick auf die politischen Folgen sozialer Umstürze begründet: die "Befreiung" führe nicht zu Freiheit, weil die "soziale Revolution" unvermeidlich mit Gewalt verbunden sei und zu Terror führen könne. Ein Thema, das die Politikwissenschaft bis heute beschäftigt. Pointiert formuliert sie auch noch einmal ihre von Aristoteles entlehnte These, dass Freiheit im emphatischen Wortsinn bedeute, sich im öffentlichen Raum zu betätigen, also politisch aktiv zu sein in einer Arena, mit dem persönlichen Antrieb, sich auszuzeichnen, Ruhm und Ehre zu erringen.
Ein anderes ihrer großen Themen wird nur berührt: Die These von der Bedeutung der "Natalität", also davon, dass mit jedem neuen Leben, das in die Welt kommt, ein Neubeginn möglich sei, nicht nur für den Einzelnen, sondern letztlich auch für die politische Gemeinschaft, in der sich die Einzelnen zusammenfinden und verbünden können. Aus dieser "Verbündung" entsteht Macht - die unorthodoxe Ableitung eines Zentralbegriffs der Politik, den Arendt scharf von dem für sie vorpolitischen Mittel der Gewalt abhebt. Das heuristische Potential dieser Unterscheidung hat der lange Schatten von Max Webers Definition der Macht verdunkelt.
Thomas Meyer informiert in seinem Nachwort über die Entstehungsgeschichte dieses Essays und arbeitet Arendts Bedeutung für die politische Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert heraus. Sie gründet in An- und Einsichten, die in vielerlei Hinsicht quer zu den vorherrschenden Ideologien wie Liberalismus oder Sozialismus stehen. Obwohl Arendts persönliche Sympathie eher der politischen Linken galt, haben ihre Argumente - es fällt schwer von einer geschlossenen Theorie zu sprechen - bis in den Stil des Denkens und Schreibens hinein Berührungspunkte mit englischen Konservativen des vergangenen Jahrhunderts wie Michael Oakeshott oder Isaiah Berlin. Es ist diese Unvoreingenommenheit und die Offenheit für Interpretationen, die auch den Reiz dieses kleinen Büchleins ausmacht.
GÜNTHER NONNENMACHER.
Hannah Arendt: "Die Freiheit, frei zu sein".
Deutscher Taschenbuchverlag, München 2018. 60 S., br., 8,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hannah Arendt erst jetzt aus dem Nachlass publizierter Vortrag von 1967 wirft laut Gustav Seibt ein Licht auf den Zusammenhang von Freiheit und Revolution. Der geschichtsphilosophische "Riesenbogen", den Arendt spannt macht den Text für Seibt zu einem Leckerbissen, auch oder vielmehr gerade weil er sich mit Arendts früherem Buch "Über die Revolution" und ihrem Vortrag "Revolution und Freiheit" von 1961 überschneidet. Für Seibt liegt ein nicht unerheblicher Reiz darin, das Nachdenken Arendts über den Themenkomplex in seinen Veränderungen zu beobachten. Was erfährt er hier? Dass Freiheit für Arendt immer politisch ist und so unvorhersehbar wie das Leben selbst etwa. Und dass die bei Arendt vorkommende negative Freiheit des Einzelnen im Angesicht heutiger Überwachunsgszenarien neue Brisanz bekommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Text, der auch heute eine Zukunft hat. Frankfurter Rundschau 20180622