Am Anfang einer Tagung über Karl Jaspers in Heidelberg sollte sich jeder Redner vorstellen. Der eine war Philosoph, der nächste Theologe, ein anderer Historiker.
Ich wurde lächelnd befragt, was ich denn eigentlich sei. Ich antwortete: «Moralpädagoge», was ein gutmütiges Lachen provozierte. Aber ich meinte es ernst und lasse mich gern so bezeichnen. 1980 schrieb ein deutscher Journalist, meine Losung sei: «Durch Wissen und Wärme aufklärerisch beeinflussen.» Dies ist in der Tat mein ständiges Ziel.
«Ein großer Geist.»
ULRICH WICKERT
«Einer der bekanntesten Politikwissenschaftler und Historiker Europas.»
HESSISCHER RUNDFUNK
Ich wurde lächelnd befragt, was ich denn eigentlich sei. Ich antwortete: «Moralpädagoge», was ein gutmütiges Lachen provozierte. Aber ich meinte es ernst und lasse mich gern so bezeichnen. 1980 schrieb ein deutscher Journalist, meine Losung sei: «Durch Wissen und Wärme aufklärerisch beeinflussen.» Dies ist in der Tat mein ständiges Ziel.
«Ein großer Geist.»
ULRICH WICKERT
«Einer der bekanntesten Politikwissenschaftler und Historiker Europas.»
HESSISCHER RUNDFUNK
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.03.2011Mit Wissen und Wärme
Der Publizist Alfred Grosser bilanziert sein Leben
Martin Luther wird der oft zitierte Satz zugeschrieben: „Wenn ich wüsste, dass morgen der jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Einen Ausspruch von derart kerniger Glaubenszuversicht hat der Reformator jedoch nie getan, denn der nachweislich älteste Beleg für dieses Zitat findet sich in einem Rundbrief der evangelischen Kirche in Hessen vom Oktober 1944. Damals nahte sich, wie bekannt, nicht das Ende der Welt, sondern das des „Tausendjährigen Reichs“ des Gottseibeiuns Adolf Hitler.
Ob jenes Zitat Alfred Grosser, der am 1. Februar seinen 86. Geburtstag feierte, dazu inspirierte, dieser Tage ein Buch zu veröffentlichen, das als „Lebensbilanz“ firmiert, kann dahinstehen. Was die Vermutung gleichwohl nahelegt, ist der ähnliche Gestus: Im Angesicht des unvermeidlich nahen Endes noch einmal ein Zeichen zu setzen, das über dieses hinausweist. Dieser Absicht diente vermeintlich dem Martin Luther das Apfelbäumchen; für den sich als „Moralpädagogen“ begreifenden Aufklärer Alfred Grosser soll diese Aufgabe wohl die jetzt vorliegende Lebensbilanz erfüllen, die den programmatisch verblüffenden, weil seltsam heiteren Titel „Die Freude und der Tod“ trägt.
Für diesen Titel liefert der Autor eine plausible Erklärung: Das Erlebnis der Freude wie das des Todes habe ihn ein Leben lang begleitet. In Frankfurt am Main geboren, musste Alfred Grosser als achtjähriges Kind mit seinen Eltern Ende 1933 nach Frankreich fliehen, um dem antisemitischen Hass, der nach der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers zu Beginn dieses Jahres in Deutschland aufloderte, zu entrinnen. Kurz nachdem die Familie in der Nähe von Paris ein neues Zuhause gefunden hatte, starb der Vater, was die Familie in eine schwierige Lage brachte. Die wurde ebenso bemeistert wie die neuen Fährnisse, die sich nach 1940 einstellten, als Frankreich unter das Kuratel der Nazis geriet, die auch hier – unterstützt von der französischen Polizei und der Regierung unter Pétain – systematisch Jagd auf Juden machten, die in die Vernichtungslager im Osten transportiert wurden. Diesem Schicksal konnte die Familie Grosser entfliehen, aber einige nahe Verwandte, die in Deutschland geblieben waren, starben in den Vernichtungslagern.
Dass Alfred Grosser trotz dieser frühen und ihn tief prägenden Erlebnisse nicht in einer entschiedenen Ablehnung seines Herkunftslandes verharrte, sondern sich vielmehr beharrlich dafür einsetzte, nach Ende des Zweiten Weltkriegs die heute selbstverständliche Aussöhnung und Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich herzustellen, ist und bleibt sein großes Verdienst. Darüber, wie das Frankfurter Bürgerkind sich in einem fremden Land und in einer fremden Kultur zurechtfand und zu einem Franzosen wurde, das die zunächst fremde Sprache bald so beherrschte, dass ihn noch nicht einmal die Anmutung eines Akzents verriet, würde man in dieser „Lebensbilanz“ ebenso gerne viel erfahren wie darüber, was ausgerechnet ihn veranlasste, sich für die Verständigung mit dem einstigen Erbfeind ein Erwachsenenleben lang erfolgreich zu engagieren.
In dieser Erwartung sieht man sich jedoch zunehmend enttäuscht, denn das Buch ist ein in sechs themenbezogene Kapitel unterteilter Rechenschaftsbericht, der Auskunft gibt über das intellektuelle Werden und Wirken des Alfred Grosser. Diese spröde Charakterisierung macht Mitteilung davon, dass sich ihr Autor dem Genre der Autobiographie, also der anekdotisch ausgeschmückten chronologischen Erzählung des eigenen Lebens versagt hat. Das ist eine Entscheidung, die der Leser bedauern wird, denn allzu oft sieht er sich mit nur sehr skizzenhaften, assoziativen oder bisweilen auch nicht ressentimentfreien Wertungen konfrontiert. Die sollen über die den Verfasser prägenden Vorlieben oder Abneigungen informieren, die ihn bei seinem Erlebnis von Literatur oder Musik, von Kunst oder Theater zuteil wurden oder die seine rege publizistische Teilnahme an öffentlichen Debatten in Frankreich und Deutschland beeinflussten. Dieses Verfahren, möglichst viel, möglichst knapp anzusprechen und darüber ein bestimmtes Urteil zu fällen, um so den Facettenreichtum der eigenen Intellektualität auszuleuchten, hat jedoch seine eigenen, bisweilen grotesken Tücken. Dafür ein Beispiel: Gegen Grossers Mitteilung, dass er so gut wie ausschließlich der Lektüre der französischen Literatur den Vorzug gibt, lässt sich nichts einwenden, auch nicht dagegen, dass er unter den deutschen Literaten des 20. Jahrhunderts vor allem Erich Kästner schätzt. „Darüber hinaus“, so schreibt er, „liebe ich auch Mann. Nicht Thomas. ,Buddenbrooks’ gewiss, auch ,Doktor Faustus’, aber dann der gekünstelte Stil! Die Sanatoriumserfahrungen meiner Frau widersprechen der Darstellung des ,Zauberberg’.“ Ein derart apodiktisches Fehlurteil verschlägt dem Rezensenten ebenso die Sprache wie das an anderer Stelle als „Randbemerkung“ gemachte Eingeständnis: „Ich habe nie den Ödipus-Komplex in seiner Benennung verstehen können. Ödipus wusste nicht, dass der von ihm Getötete sein Vater war, noch dass seine Frau seine Mutter war. Also haben Lust zum Vatermord und zum Beischlaf mit der Mutter nichts mit ihm zu tun!“
Solche und andere Zeugnisse „heiliger Einfalt“, die früher ein kritischer Verlagslektor diskret getilgt hätte, gehören aber zu den eher nebensächlichen Ärgernissen, die einem bei der Lektüre dieses Buches aufstoßen. Was daran vor allem verstört, ist die bisweilen sehr penetrante Eitelkeit des Verfassers. Der Einwand mutet gewiss paradox an, denn eine Bilanz des eigenen Lebens lässt sich nun einmal nicht ziehen, ohne dass der Erzähler oft als einer der Protagonisten in seinem Bericht figuriert. Als ein in Deutschland wie Frankreich geachteter und weithin bekannter politischer Publizist war Alfred Grosser bei vielen wichtigen Ereignissen als Statist zugegen, wurde er von den Akteuren auch wohl bisweilen um Rat und Urteil gebeten. Das alles läse man umso lieber und mit Gewinn, würde der Autor Umstände und Personen nur ausführlicher und mit dem unverwechselbaren Brio des eigenen Erlebens schildern. Davon weiß er aber außer einigen wohlfeilen Floskeln nichts mitzuteilen, so dass sich einem unweigerlich der Eindruck aufdrängt, der Bericht diene nur dazu, den Erzähler ins rechte Licht zu stellen.
Exemplarisch dafür ist die Erwähnung des 1967 gestorbenen SPD-Politikers Fritz Erler, für den Grosser „Bewunderung oder auch Verehrung“ empfunden haben will. „Vielleicht war es sein Widerstand gegen Hitler, der ihm eine moralische Tiefe verliehen hat, mit viel warmer Nüchternheit und mit enormen Kompetenzen auf vielen Gebieten. Ich habe beobachten können, wie er innerhalb der SPD Gehör fand – und warum das Weiße Haus ihn 1957 bei seiner Landung in New York abholen ließ: Man wollte die Ansichten eines kritischen, aber vertrauenswürdigen Mannes über die bundesdeutsche Aufrüstung zur Kenntnis nehmen. Auch bei der Nato-Tagung in Princeton, zu der wir 1956 gemeinsam anreisten, wurde er zur Zentralfigur.“
Angesichts der großen und unbestreitbaren Verdienste, die sich der Publizist Alfred Grosser um die deutsch-französische Verständigung erworben hat, muss man es umso mehr bedauern, dass die von ihm jetzt vorgelegte Lebensbilanz weit hinter den Erwartungen zurückbleibt, die man damit verknüpfen durfte. Zwar werden zahlreiche bekannte oder weniger bekannte Personen aus der deutschen und französischen Zeitgeschichte erwähnt, mit denen Grosser in Berührung kam, werden seine Meinungen und Interventionen zu den unterschiedlichsten Themen kurz referiert, erfährt man auch manches charakteristische Detail, das über die französische Politik und Gesellschaft Aufschluss gibt, aber das alles liest sich über weite Strecken wie eine erste Materialsammlung, die noch gesichtet und ausgearbeitet werden muss.
Das Buch bietet allenfalls bruchstückhaft, was es bieten soll: Die Konfession eines Mannes, der über die eigene intellektuelle Genese Auskunft geben, der darstellen wollte, wie er zu dem wurde, als der er sich selber sieht und als welcher er weithin geschätzt wird. Sein Lebensziel, so schreibt Grosser, sei es stets gewesen, „durch Wissen und Wärme“ aufklärerischen Einfluss auszuüben und so ein „klein wenig mehr“ zur Veränderung der Welt beizutragen. Eben diese, durch Wärme, durch Empathie temperierte unaufdringliche Vermittlung eines durch bewusstes Erleben erworbenen Wissens vermisst man jedoch in der jetzt vorliegenden Bilanz allzu sehr. JOHANNES WILLMS
ALFRED GROSSER: Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 256 Seiten, 19,95 Euro.
Gern erführe man, warum
er sich für die Aussöhnung mit
Deutschland einsetzte
Alfred Grosser, Jahrgang 1925, gibt nun in einem Rechenschaftsbericht Auskunft
über sein intellektuelles Werden und Wirken. Foto: Patrik Stollarz, ddp
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Publizist Alfred Grosser bilanziert sein Leben
Martin Luther wird der oft zitierte Satz zugeschrieben: „Wenn ich wüsste, dass morgen der jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Einen Ausspruch von derart kerniger Glaubenszuversicht hat der Reformator jedoch nie getan, denn der nachweislich älteste Beleg für dieses Zitat findet sich in einem Rundbrief der evangelischen Kirche in Hessen vom Oktober 1944. Damals nahte sich, wie bekannt, nicht das Ende der Welt, sondern das des „Tausendjährigen Reichs“ des Gottseibeiuns Adolf Hitler.
Ob jenes Zitat Alfred Grosser, der am 1. Februar seinen 86. Geburtstag feierte, dazu inspirierte, dieser Tage ein Buch zu veröffentlichen, das als „Lebensbilanz“ firmiert, kann dahinstehen. Was die Vermutung gleichwohl nahelegt, ist der ähnliche Gestus: Im Angesicht des unvermeidlich nahen Endes noch einmal ein Zeichen zu setzen, das über dieses hinausweist. Dieser Absicht diente vermeintlich dem Martin Luther das Apfelbäumchen; für den sich als „Moralpädagogen“ begreifenden Aufklärer Alfred Grosser soll diese Aufgabe wohl die jetzt vorliegende Lebensbilanz erfüllen, die den programmatisch verblüffenden, weil seltsam heiteren Titel „Die Freude und der Tod“ trägt.
Für diesen Titel liefert der Autor eine plausible Erklärung: Das Erlebnis der Freude wie das des Todes habe ihn ein Leben lang begleitet. In Frankfurt am Main geboren, musste Alfred Grosser als achtjähriges Kind mit seinen Eltern Ende 1933 nach Frankreich fliehen, um dem antisemitischen Hass, der nach der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers zu Beginn dieses Jahres in Deutschland aufloderte, zu entrinnen. Kurz nachdem die Familie in der Nähe von Paris ein neues Zuhause gefunden hatte, starb der Vater, was die Familie in eine schwierige Lage brachte. Die wurde ebenso bemeistert wie die neuen Fährnisse, die sich nach 1940 einstellten, als Frankreich unter das Kuratel der Nazis geriet, die auch hier – unterstützt von der französischen Polizei und der Regierung unter Pétain – systematisch Jagd auf Juden machten, die in die Vernichtungslager im Osten transportiert wurden. Diesem Schicksal konnte die Familie Grosser entfliehen, aber einige nahe Verwandte, die in Deutschland geblieben waren, starben in den Vernichtungslagern.
Dass Alfred Grosser trotz dieser frühen und ihn tief prägenden Erlebnisse nicht in einer entschiedenen Ablehnung seines Herkunftslandes verharrte, sondern sich vielmehr beharrlich dafür einsetzte, nach Ende des Zweiten Weltkriegs die heute selbstverständliche Aussöhnung und Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich herzustellen, ist und bleibt sein großes Verdienst. Darüber, wie das Frankfurter Bürgerkind sich in einem fremden Land und in einer fremden Kultur zurechtfand und zu einem Franzosen wurde, das die zunächst fremde Sprache bald so beherrschte, dass ihn noch nicht einmal die Anmutung eines Akzents verriet, würde man in dieser „Lebensbilanz“ ebenso gerne viel erfahren wie darüber, was ausgerechnet ihn veranlasste, sich für die Verständigung mit dem einstigen Erbfeind ein Erwachsenenleben lang erfolgreich zu engagieren.
In dieser Erwartung sieht man sich jedoch zunehmend enttäuscht, denn das Buch ist ein in sechs themenbezogene Kapitel unterteilter Rechenschaftsbericht, der Auskunft gibt über das intellektuelle Werden und Wirken des Alfred Grosser. Diese spröde Charakterisierung macht Mitteilung davon, dass sich ihr Autor dem Genre der Autobiographie, also der anekdotisch ausgeschmückten chronologischen Erzählung des eigenen Lebens versagt hat. Das ist eine Entscheidung, die der Leser bedauern wird, denn allzu oft sieht er sich mit nur sehr skizzenhaften, assoziativen oder bisweilen auch nicht ressentimentfreien Wertungen konfrontiert. Die sollen über die den Verfasser prägenden Vorlieben oder Abneigungen informieren, die ihn bei seinem Erlebnis von Literatur oder Musik, von Kunst oder Theater zuteil wurden oder die seine rege publizistische Teilnahme an öffentlichen Debatten in Frankreich und Deutschland beeinflussten. Dieses Verfahren, möglichst viel, möglichst knapp anzusprechen und darüber ein bestimmtes Urteil zu fällen, um so den Facettenreichtum der eigenen Intellektualität auszuleuchten, hat jedoch seine eigenen, bisweilen grotesken Tücken. Dafür ein Beispiel: Gegen Grossers Mitteilung, dass er so gut wie ausschließlich der Lektüre der französischen Literatur den Vorzug gibt, lässt sich nichts einwenden, auch nicht dagegen, dass er unter den deutschen Literaten des 20. Jahrhunderts vor allem Erich Kästner schätzt. „Darüber hinaus“, so schreibt er, „liebe ich auch Mann. Nicht Thomas. ,Buddenbrooks’ gewiss, auch ,Doktor Faustus’, aber dann der gekünstelte Stil! Die Sanatoriumserfahrungen meiner Frau widersprechen der Darstellung des ,Zauberberg’.“ Ein derart apodiktisches Fehlurteil verschlägt dem Rezensenten ebenso die Sprache wie das an anderer Stelle als „Randbemerkung“ gemachte Eingeständnis: „Ich habe nie den Ödipus-Komplex in seiner Benennung verstehen können. Ödipus wusste nicht, dass der von ihm Getötete sein Vater war, noch dass seine Frau seine Mutter war. Also haben Lust zum Vatermord und zum Beischlaf mit der Mutter nichts mit ihm zu tun!“
Solche und andere Zeugnisse „heiliger Einfalt“, die früher ein kritischer Verlagslektor diskret getilgt hätte, gehören aber zu den eher nebensächlichen Ärgernissen, die einem bei der Lektüre dieses Buches aufstoßen. Was daran vor allem verstört, ist die bisweilen sehr penetrante Eitelkeit des Verfassers. Der Einwand mutet gewiss paradox an, denn eine Bilanz des eigenen Lebens lässt sich nun einmal nicht ziehen, ohne dass der Erzähler oft als einer der Protagonisten in seinem Bericht figuriert. Als ein in Deutschland wie Frankreich geachteter und weithin bekannter politischer Publizist war Alfred Grosser bei vielen wichtigen Ereignissen als Statist zugegen, wurde er von den Akteuren auch wohl bisweilen um Rat und Urteil gebeten. Das alles läse man umso lieber und mit Gewinn, würde der Autor Umstände und Personen nur ausführlicher und mit dem unverwechselbaren Brio des eigenen Erlebens schildern. Davon weiß er aber außer einigen wohlfeilen Floskeln nichts mitzuteilen, so dass sich einem unweigerlich der Eindruck aufdrängt, der Bericht diene nur dazu, den Erzähler ins rechte Licht zu stellen.
Exemplarisch dafür ist die Erwähnung des 1967 gestorbenen SPD-Politikers Fritz Erler, für den Grosser „Bewunderung oder auch Verehrung“ empfunden haben will. „Vielleicht war es sein Widerstand gegen Hitler, der ihm eine moralische Tiefe verliehen hat, mit viel warmer Nüchternheit und mit enormen Kompetenzen auf vielen Gebieten. Ich habe beobachten können, wie er innerhalb der SPD Gehör fand – und warum das Weiße Haus ihn 1957 bei seiner Landung in New York abholen ließ: Man wollte die Ansichten eines kritischen, aber vertrauenswürdigen Mannes über die bundesdeutsche Aufrüstung zur Kenntnis nehmen. Auch bei der Nato-Tagung in Princeton, zu der wir 1956 gemeinsam anreisten, wurde er zur Zentralfigur.“
Angesichts der großen und unbestreitbaren Verdienste, die sich der Publizist Alfred Grosser um die deutsch-französische Verständigung erworben hat, muss man es umso mehr bedauern, dass die von ihm jetzt vorgelegte Lebensbilanz weit hinter den Erwartungen zurückbleibt, die man damit verknüpfen durfte. Zwar werden zahlreiche bekannte oder weniger bekannte Personen aus der deutschen und französischen Zeitgeschichte erwähnt, mit denen Grosser in Berührung kam, werden seine Meinungen und Interventionen zu den unterschiedlichsten Themen kurz referiert, erfährt man auch manches charakteristische Detail, das über die französische Politik und Gesellschaft Aufschluss gibt, aber das alles liest sich über weite Strecken wie eine erste Materialsammlung, die noch gesichtet und ausgearbeitet werden muss.
Das Buch bietet allenfalls bruchstückhaft, was es bieten soll: Die Konfession eines Mannes, der über die eigene intellektuelle Genese Auskunft geben, der darstellen wollte, wie er zu dem wurde, als der er sich selber sieht und als welcher er weithin geschätzt wird. Sein Lebensziel, so schreibt Grosser, sei es stets gewesen, „durch Wissen und Wärme“ aufklärerischen Einfluss auszuüben und so ein „klein wenig mehr“ zur Veränderung der Welt beizutragen. Eben diese, durch Wärme, durch Empathie temperierte unaufdringliche Vermittlung eines durch bewusstes Erleben erworbenen Wissens vermisst man jedoch in der jetzt vorliegenden Bilanz allzu sehr. JOHANNES WILLMS
ALFRED GROSSER: Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 256 Seiten, 19,95 Euro.
Gern erführe man, warum
er sich für die Aussöhnung mit
Deutschland einsetzte
Alfred Grosser, Jahrgang 1925, gibt nun in einem Rechenschaftsbericht Auskunft
über sein intellektuelles Werden und Wirken. Foto: Patrik Stollarz, ddp
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2011Tiefere Bedeutung
Alfred Grosser aktualisiert seine Lebensbilanz
Als "Moralpädagoge" wird Alfred Grosser im Klappentext empfohlen. Den Gestus des "elder scienceman" pflegen seine Werke seit vielen Jahren, und in seinen 1997 erschienenen Memoiren hat er die beeindruckende Summe seines intellektuellen, moralischen und humanistischen Engagements gezogen. Wer das eine oder andere kennt, der findet in der neuesten Bilanz viel Vertrautes. Doch nicht so sehr die Frage "Was ist neu?" als die, weshalb er seine Ein- und Ansichten wieder vorlegt, führt zum Kern seines Lebensanliegens. An mehreren Stellen beschreibt sich Grosser als Prediger. Der überzeugte Atheist erweist sich als skeptischer Sympathisant des Glaubens, vor allem dann, wenn dieser zu sozialem und karitativem Engagement und Nächstenliebe führt.
Nicht von ungefähr beruft er sich auf Bischof Myriel aus Victor Hugos Romanepos "Die Elenden", die Verkörperung des Glaubens an das Gute im Menschen, dessen selbstlose Güte den finsteren Galeerensträfling Jean Valjean in einen beispiellosen Wohltäter und Helden der Selbstverleugnung verwandelt. Menschen verwandeln: Sie durch Aufklärung nachdenklich, durch Ansporn mitfühlender, durch Kritik weniger unnachsichtig machen - das möchte Alfred Grosser. Sein Mittel dazu ist das Wort, und zwar das gesprochene weit eher als das geschriebene. Auch insofern ähnelt der Text an vielen Stellen einer Predigt, denn er springt, nur locker von Kapitelüberschriften gebändigt, von einer Assoziation zur nächsten, mischt Persönliches mit dem Weltgeschehen, macht sich lustvoll an der Tagesaktualität fest, um sie stets auf die Prinzipien eines humanistischen Credos zurückzuführen.
Daher lässt sich nur ein Eindruck des Bogens vermitteln, den das Buch inhaltlich schlägt. Die Klammer bilden Betrachtungen über seine Chancen zum Glück und über die Freude an seinem ausgefüllten Leben. Die Kapitel dazwischen behandeln vor allem Verhältnisse - das von Politik und Moral ebenso wie jenes von Geld und Macht. Solche Passagen erweisen in Tonlage und Perspektive Grossers Wahlverwandtschaft zu Helmut Schmidt, den er mehrfach lobend zitiert. Dabei umfasst der Themenkatalog nahezu die gesamte europäische Zeitgeschichte seit 1945. Auch von den Debatten der vergangenen Jahre bleibt kaum eine außen vor. Finanzmarktkrise, Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab", Präimplantationsdiagnostik, Kritik an der Selbstherrlichkeit von Nicolas Sarkozy: Grosser hat zu allem etwas zu sagen. Das hat wegen der Lust des Autors an der Provokation und seinem Sinn für Ironie einigen Unterhaltungswert, aber ihm geht es um mehr: Er möchte sein Publikum zur kritischen Stellungnahme ermuntern. Die eindringlichsten Passagen sind diejenigen, in denen er keine Antworten gibt, sondern die Fragen nach der ethischen Grundlage für gesellschaftliches und politisches Handeln stellt.
Der Leser erfährt daneben viel über die Einstellungen Grossers zu Sport und Kultur, zur Presse und zur Wissenschaft. Der Autor porträtiert in liebevollen Miniaturen seine Mutter und seine Ehefrau. Vor allem reflektiert Grosser die Grundlagen seiner Spiritualität. Die Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben, Begegnungen mit kirchlichen Würdenträgern und mit einfachen Christen, die Frage nach dem Leid in der Welt und nach dem Sinn des Todes füllen ein Drittel des Buches. Sie bilden das geistige Gravitationszentrum des Textes. Grosser lehnt den Kern der christlichen Frohbotschaft ab, die Existenz Gottes und die Erlösung des Menschen durch das Leiden und die Auferstehung Jesu Christi. Er kritisiert scharf die Verbrechen, Unterdrückung und Intoleranz der Kirche durch die Jahrhunderte. Zugleich teilt er viele Maßgaben, die Gläubige aus der Bergpredigt ableiten, und kokettiert mit der Meinung seiner Zeitgenossen, er sei ein Christ, ohne es zu wissen. Grosser selbst weist dies entschieden zurück und umschreibt sein Verhältnis zu Gläubigen, er wolle "mitempfindend positiv mitwirken". In seinem eigenen Credo käme das Wort "Gott" nicht vor. Es ist das eines engagierten Humanisten, dem Freiheit, Toleranz und Offenheit am höchsten gelten.
BERNHARD GOTTO
Alfred Grosser: Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 288 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alfred Grosser aktualisiert seine Lebensbilanz
Als "Moralpädagoge" wird Alfred Grosser im Klappentext empfohlen. Den Gestus des "elder scienceman" pflegen seine Werke seit vielen Jahren, und in seinen 1997 erschienenen Memoiren hat er die beeindruckende Summe seines intellektuellen, moralischen und humanistischen Engagements gezogen. Wer das eine oder andere kennt, der findet in der neuesten Bilanz viel Vertrautes. Doch nicht so sehr die Frage "Was ist neu?" als die, weshalb er seine Ein- und Ansichten wieder vorlegt, führt zum Kern seines Lebensanliegens. An mehreren Stellen beschreibt sich Grosser als Prediger. Der überzeugte Atheist erweist sich als skeptischer Sympathisant des Glaubens, vor allem dann, wenn dieser zu sozialem und karitativem Engagement und Nächstenliebe führt.
Nicht von ungefähr beruft er sich auf Bischof Myriel aus Victor Hugos Romanepos "Die Elenden", die Verkörperung des Glaubens an das Gute im Menschen, dessen selbstlose Güte den finsteren Galeerensträfling Jean Valjean in einen beispiellosen Wohltäter und Helden der Selbstverleugnung verwandelt. Menschen verwandeln: Sie durch Aufklärung nachdenklich, durch Ansporn mitfühlender, durch Kritik weniger unnachsichtig machen - das möchte Alfred Grosser. Sein Mittel dazu ist das Wort, und zwar das gesprochene weit eher als das geschriebene. Auch insofern ähnelt der Text an vielen Stellen einer Predigt, denn er springt, nur locker von Kapitelüberschriften gebändigt, von einer Assoziation zur nächsten, mischt Persönliches mit dem Weltgeschehen, macht sich lustvoll an der Tagesaktualität fest, um sie stets auf die Prinzipien eines humanistischen Credos zurückzuführen.
Daher lässt sich nur ein Eindruck des Bogens vermitteln, den das Buch inhaltlich schlägt. Die Klammer bilden Betrachtungen über seine Chancen zum Glück und über die Freude an seinem ausgefüllten Leben. Die Kapitel dazwischen behandeln vor allem Verhältnisse - das von Politik und Moral ebenso wie jenes von Geld und Macht. Solche Passagen erweisen in Tonlage und Perspektive Grossers Wahlverwandtschaft zu Helmut Schmidt, den er mehrfach lobend zitiert. Dabei umfasst der Themenkatalog nahezu die gesamte europäische Zeitgeschichte seit 1945. Auch von den Debatten der vergangenen Jahre bleibt kaum eine außen vor. Finanzmarktkrise, Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab", Präimplantationsdiagnostik, Kritik an der Selbstherrlichkeit von Nicolas Sarkozy: Grosser hat zu allem etwas zu sagen. Das hat wegen der Lust des Autors an der Provokation und seinem Sinn für Ironie einigen Unterhaltungswert, aber ihm geht es um mehr: Er möchte sein Publikum zur kritischen Stellungnahme ermuntern. Die eindringlichsten Passagen sind diejenigen, in denen er keine Antworten gibt, sondern die Fragen nach der ethischen Grundlage für gesellschaftliches und politisches Handeln stellt.
Der Leser erfährt daneben viel über die Einstellungen Grossers zu Sport und Kultur, zur Presse und zur Wissenschaft. Der Autor porträtiert in liebevollen Miniaturen seine Mutter und seine Ehefrau. Vor allem reflektiert Grosser die Grundlagen seiner Spiritualität. Die Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben, Begegnungen mit kirchlichen Würdenträgern und mit einfachen Christen, die Frage nach dem Leid in der Welt und nach dem Sinn des Todes füllen ein Drittel des Buches. Sie bilden das geistige Gravitationszentrum des Textes. Grosser lehnt den Kern der christlichen Frohbotschaft ab, die Existenz Gottes und die Erlösung des Menschen durch das Leiden und die Auferstehung Jesu Christi. Er kritisiert scharf die Verbrechen, Unterdrückung und Intoleranz der Kirche durch die Jahrhunderte. Zugleich teilt er viele Maßgaben, die Gläubige aus der Bergpredigt ableiten, und kokettiert mit der Meinung seiner Zeitgenossen, er sei ein Christ, ohne es zu wissen. Grosser selbst weist dies entschieden zurück und umschreibt sein Verhältnis zu Gläubigen, er wolle "mitempfindend positiv mitwirken". In seinem eigenen Credo käme das Wort "Gott" nicht vor. Es ist das eines engagierten Humanisten, dem Freiheit, Toleranz und Offenheit am höchsten gelten.
BERNHARD GOTTO
Alfred Grosser: Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 288 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Johannes Willms kann seine Enttäuschung gar nicht genug betonen. Von Alfred Grossers Lebensrückblick hätte sich Willms wirklich mehr erwartet. Mehr Reflexion, statt bloße Materialanhäufung und Namedropping, mehr darüber, wie sich Grosser als Kind in der französischen Diaspora zurechtfand und wie ausgerechnet er nach dem Krieg zum Aushängeschild deutsch-französischer Verständigung werden konnte. Das Skizzenhafte der Erinnerungen wird für Willms noch schwerer erträglich durch eher assoziative und mitunter vom Ressentiment geprägte Wertungen zu Musik, Theater und Literatur. Willms stößt auf groteske Fehlurteile und auf eine penetrante Eitelkeit des Autors, für die ein aufmerksames Lektorat seiner Meinung nach hätte zuständig sein müssen. Ein mitreißender, für den Leser erkenntnisbringender Lebensbericht, findet er, sieht anders aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH