WORUM GEHT ES?
Wie der Kriegsausbruch 1914 war auch das Kriegsende 1918 ein Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts. Der Zusammenbruch der vier größten Reiche Europas führte zur folgenreichen Neuordnung des Kontinents im Versailler Friedensvertrag von 1919. In ihrem preisgekrönten Buch schildert die Historikerin Margaret MacMillan anschaulich das Geschehen rund um die Vertragsverhandlungen: die Differenzen der Siegermächte, die Rachegelüste der Franzosen, die Annexionswünsche der Engländer,
die missachteten Erwartungen der Kolonialvölker, die demütigende Behandlung der Deutschen, das Geschacher um den Nachlass der Verlierer, schließlich der "Diktatfrieden", der Deutschland die Alleinschuld am Kriegsausbruch aufbürdete. MacMillan würdigt das Bemühen der Sieger um eine dauerhafte Friedensordnung, zeigt aber auch deutlich, wie sehr die schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündenden Konflikte bereits im Versailler Friedensschluss angelegt waren.
WAS IST BESONDERS?
Was Christopher Clarks Buch für die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs geleistet hat, leistet MacMillans Buch für die Nachgeschichte. Die erste große Gesamtdarstellung des Versailler Friedensvertrags gilt in der angelsächsischen Welt längst als Standardwerk. Brillant erzählt, fesselnde Lektüre.
WER LIEST?
- Die Leser der Bestseller von Christopher Clark und Herfried Münkler- Alle, die sich für Weltkriegsgeschichte interessieren
Wie der Kriegsausbruch 1914 war auch das Kriegsende 1918 ein Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts. Der Zusammenbruch der vier größten Reiche Europas führte zur folgenreichen Neuordnung des Kontinents im Versailler Friedensvertrag von 1919. In ihrem preisgekrönten Buch schildert die Historikerin Margaret MacMillan anschaulich das Geschehen rund um die Vertragsverhandlungen: die Differenzen der Siegermächte, die Rachegelüste der Franzosen, die Annexionswünsche der Engländer,
die missachteten Erwartungen der Kolonialvölker, die demütigende Behandlung der Deutschen, das Geschacher um den Nachlass der Verlierer, schließlich der "Diktatfrieden", der Deutschland die Alleinschuld am Kriegsausbruch aufbürdete. MacMillan würdigt das Bemühen der Sieger um eine dauerhafte Friedensordnung, zeigt aber auch deutlich, wie sehr die schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündenden Konflikte bereits im Versailler Friedensschluss angelegt waren.
WAS IST BESONDERS?
Was Christopher Clarks Buch für die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs geleistet hat, leistet MacMillans Buch für die Nachgeschichte. Die erste große Gesamtdarstellung des Versailler Friedensvertrags gilt in der angelsächsischen Welt längst als Standardwerk. Brillant erzählt, fesselnde Lektüre.
WER LIEST?
- Die Leser der Bestseller von Christopher Clark und Herfried Münkler- Alle, die sich für Weltkriegsgeschichte interessieren
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ebenso interessiert wie beklommen hat Rezensent Gustav Seibt Margaret MacMillans neues Buch "Der Friedensmacher" gelesen. Die kanadische Historikerin und Urenkelin von Lloyd George erzählt sorgfältig und mit geradezu "aristokratischer Ironie" von den Versailler Friedensberatungen im Frühjahr 1919, berichtet der Kritiker, der trotz der bisweilen düsteren Fakten gelegentlich schmunzeln muss. Vor allem aber würdigt Seibt die Aktualität von MacMillans Beschreibung der zeitnahen Vorgeschichte unserer Gegenwart: Interessiert liest er etwa im Kapitel über den Nahen Osten nach, wie die damaligen Grenzziehungen auch heute die Kurdenfrage oder das Palästina-Problem beeinflussen oder weshalb Ungarn bis heute traumatisiert geblieben ist. Nicht zuletzt lobt der Rezensent die Warmherzigkeit und Fairness dieses äußerst lehrreichen Buches.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2015Für eine bessere Ordnung in Europa
Margaret MacMillan räumt mit manchen Vorurteilen über die Pariser Friedenskonferenz von 1919 auf
Wenn ein - noch dazu preisgekröntes, überaus lesbares und höchst anschauliches - Buch erst 15 Jahre nach seinem Erscheinen in deutscher Übersetzung vorliegt, gibt es dafür sicher Gründe. Ist es der Stoff oder der Tenor? Der Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg bleibt in Deutschland bis heute ein Reizthema. Das (schulische) Erbe des "Dritten Reiches" wirkt bis heute nach. Selbst ein relativ aufgeklärter Kopf wie Hans Magnus Enzensberger genierte sich nicht, in seinem 2008 geschriebenen "Hammerstein" den Versailler Vertrag heftig zu verurteilen und "Demütigungen" zu notieren.
Insofern verblüfft es beinahe, dass ein großer Verlag mit klarer kommerzieller Orientierung überhaupt bereit ist, ein Buch zu publizieren, dessen Autorin nach 630 Seiten zum Schluss gelangt: "Zieht man als Historiker alle Aspekte in Betracht, lässt sich das Bild eines von einem Rachefrieden niedergedrückten Deutschland nicht aufrechterhalten." So wird "Paris 1919 - six months that changed the world" kaum zu den Titeln gehören, die auf Subventionen aus der Kasse des Auswärtigen Amts hoffen dürfen (wie in den zwanziger Jahren jene "aufbauende" Kriegsunschuld-Literatur aus der Feder amerikanischer Professoren).
Allfällige Zweifel räumt Margaret Mac Millan in ihrem "Ausblick" vorbeugend aus: Hitler habe "den Krieg nicht wegen des Versailler Vertrages vom Zaun" gebrochen: "Selbst wenn man Deutschland seine alten Grenzen belassen und ihm erlaubt hätte, seine Streitkräfte nach Belieben auszubauen und sich mit Österreich zu vereinen, hätte er mehr gewollt: [...] Er hätte mehr ,Lebensraum' für das deutsche Volk und die Vernichtung seiner vermeintlichen Feinde, seien es nun Juden oder Bolschewisten, gefordert. Darüber stand nichts im Versailler Vertrag."
Insgesamt attestiert die renommierte Historikerin den Staatsmännern der Friedenskonferenz: "Auch wenn sie es noch besser hätten machen können, hätten sie es gewiss auch wesentlich schlechter machen können. Sie versuchten, selbst der Zyniker Clemenceau, eine bessere Ordnung zu schaffen." Der 1841 geborene französische Ministerpräsident Clemenceau als der bei weitem älteste war sicher nicht frei von Alterszynismus, aber deswegen keineswegs weniger an einer dauerhaften Friedensordnung und damit eo ipso besseren Ordnung interessiert als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson und der britische Premierminister David Lloyd George.
Den Staatsmännern war in Paris schmerzlich bewusst, dass der Kongress sehr viel länger dauerte als erhofft. Aber wie die in Oxford lehrende MacMillan - übrigens eine Urenkelin von David Lloyd George - sehr schön herausschält, arbeiteten sie mit höchster Intensität und widmeten sich neben der Gründung des Völkerbunds und der International Labour Organization so gut wie allen Weltproblemen: von Schantung über Mossul, Albanien, Teschen bis Eupen, Malmedy oder etwa Danzig. Dabei konferierten sie mit höchst unterschiedlichen, teilweise exotischen Figuren wie dem Komponisten Ignaz Paderewski, der ebenso einkaufsfreudigen wie charmanten Königin Maria von Rumänien oder dem umtriebigen griechischen Ministerpräsidenten Eleftherios Venizelos. Nicht zu vergessen der britische Chemiker Chaim Weizmann (auch er gesegnet mit einer extrovertierten Frau), der in Paris die Fundamente für jenen Staat legen sollte, dessen erster Präsident er 1948 wurde.
Die Delegationsleiter der besiegten Staaten hinterließen einen höchst unterschiedlichen Eindruck. Die Österreicher, vertreten von Karl Renner, wurden als angenehm und würdevoll wahrgenommen. Renner sprach genügend Französisch, um zu bekennen, dass er es nicht könne. Österreich handelte noch das Burgenland und andere Verbesserungen heraus. Der brillante ungarische Albert Graf Apponyi wechselte in seiner Ansprache von Französisch auf Englisch und endete auf Italienisch, was der Atmosphäre nur bekömmlich war. Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau als Leiter der deutschen Delegation blieb dagegen sitzen und sprach auf Deutsch. Was er sagte, rötete Clemenceau die Kopfhaut und verleitete Wilson zu einem bissigen Kommentar über die kollektive Intelligenz der Deutschen.
Bezeichnenderweise ritt auch nur die deutsche Delegation auf dem Kriegsschuld-Artikel herum, mit dem alle Friedensverträge gespickt waren. Die anderen machten kein Thema daraus. Dass sich das Deutsche Reich einiges erspart hätte, wenn es den Artikel 231 nicht wichtiger genommen hätte als die bei gleicher Gelegenheit eingegangene Verpflichtung, den Schädel des Sultans Kwakwa zu retournieren, muss man sicher nicht weiter diskutieren.
Wenn bei MacMillans immens lehrreichem Buch etwas leicht untergeht, ist es die innere Verbindung des Waffenstillstandsabkommens vom 11. November 1918 mit dem späteren Friedensvertrag. Der heftig ersehnte Waffenstillstand - alternativ dazu erwogen die Berliner Reichsführung und die Oberste Heeresleitung die Kapitulation im Felde - schrieb bis hin zur Reparationspflicht den Friedensvertrag bereits in weiten Teilen fest. Sachkundige Köpfe auf deutscher Seite wie der Reeder Albert Ballin, Walther Rathenau oder Max Warburg gaben sich auch keinen großen Illusionen über die zu erwartende Höhe hin. Wie die Autorin schreibt, fehlten so kurz nach Kriegsende brauchbare statistische Angaben, um die deutsche Zahlungskraft zu ermitteln.
Der britische Ökonom John Maynard Keynes, der als Vertreter des Schatzamtes der britischen Delegation in Versailles angehört hatte, begnügte sich für sein berühmt gewordenes - und blitzartig ins Deutsche übersetzte - Pamphlet "Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages" mit Zahlenmaterial, das die deutsche Propaganda in der niederländischen Presse verbreitete. Entsprechend gering war die deutsche Zahlungskraft. Das Deutsche Reich holte jedoch beispielsweise aus dem besetzten Frankreich von 1940 bis 1944 über 600 Milliarden Francs heraus. Also in knapp vier Jahren ein Mehrfaches der gesamten deutschen, auf viele Jahrzehnte angelegten Reparationsverpflichtungen. Dies wird bis heute gerne übersehen.
Kleine Ungenauigkeiten sind bei einem Werk dieser Größe kaum zu vermeiden. Der junge Charles de Gaulle war nicht Oberst, als er zur französischen Militärmission nach Polen abkommandiert wurde, sondern Hauptmann. General Henri Mordacq war schon etwas mehr als "Sekretär" oder "Helfer" Clemenceaus. Er war sein Kabinettschef (Clemenceau leitete auch das Kriegsministerium).
Die Übersetzung ist der Autorin nicht immer gewachsen. Welches Motiv dazu bewogen hat, die "Hautes Ecoles in Paris" (im Original) mit dem Einschub "französische Intellektuellenbrutstätten" zu ergänzen, wird man wohl nie erfahren. Die "Special notes" (im Original) sind keine "Sonderbanknoten", sondern Sonderanleihen oder einfach andere Geldpapiere (neben den Kriegsanleihen). Wilson sprach nicht am 21. August 1919 mit Lloyd George (da war er längst wieder in Washington), sondern am 21. April. Ebenso wenig sind Sprachneuschöpfungen wie "promisk" der Autorin anzulasten. Wünschen wir uns also bald eine zweite, verbesserte Auflage. Verdient hat es das Buch auf jeden Fall.
IGNAZ MILLER
Margaret MacMillan: Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte. Aus dem Amerikanischen von Klaus-Dieter Schmidt. Propyläen Verlag, Berlin 2015.736 S., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Margaret MacMillan räumt mit manchen Vorurteilen über die Pariser Friedenskonferenz von 1919 auf
Wenn ein - noch dazu preisgekröntes, überaus lesbares und höchst anschauliches - Buch erst 15 Jahre nach seinem Erscheinen in deutscher Übersetzung vorliegt, gibt es dafür sicher Gründe. Ist es der Stoff oder der Tenor? Der Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg bleibt in Deutschland bis heute ein Reizthema. Das (schulische) Erbe des "Dritten Reiches" wirkt bis heute nach. Selbst ein relativ aufgeklärter Kopf wie Hans Magnus Enzensberger genierte sich nicht, in seinem 2008 geschriebenen "Hammerstein" den Versailler Vertrag heftig zu verurteilen und "Demütigungen" zu notieren.
Insofern verblüfft es beinahe, dass ein großer Verlag mit klarer kommerzieller Orientierung überhaupt bereit ist, ein Buch zu publizieren, dessen Autorin nach 630 Seiten zum Schluss gelangt: "Zieht man als Historiker alle Aspekte in Betracht, lässt sich das Bild eines von einem Rachefrieden niedergedrückten Deutschland nicht aufrechterhalten." So wird "Paris 1919 - six months that changed the world" kaum zu den Titeln gehören, die auf Subventionen aus der Kasse des Auswärtigen Amts hoffen dürfen (wie in den zwanziger Jahren jene "aufbauende" Kriegsunschuld-Literatur aus der Feder amerikanischer Professoren).
Allfällige Zweifel räumt Margaret Mac Millan in ihrem "Ausblick" vorbeugend aus: Hitler habe "den Krieg nicht wegen des Versailler Vertrages vom Zaun" gebrochen: "Selbst wenn man Deutschland seine alten Grenzen belassen und ihm erlaubt hätte, seine Streitkräfte nach Belieben auszubauen und sich mit Österreich zu vereinen, hätte er mehr gewollt: [...] Er hätte mehr ,Lebensraum' für das deutsche Volk und die Vernichtung seiner vermeintlichen Feinde, seien es nun Juden oder Bolschewisten, gefordert. Darüber stand nichts im Versailler Vertrag."
Insgesamt attestiert die renommierte Historikerin den Staatsmännern der Friedenskonferenz: "Auch wenn sie es noch besser hätten machen können, hätten sie es gewiss auch wesentlich schlechter machen können. Sie versuchten, selbst der Zyniker Clemenceau, eine bessere Ordnung zu schaffen." Der 1841 geborene französische Ministerpräsident Clemenceau als der bei weitem älteste war sicher nicht frei von Alterszynismus, aber deswegen keineswegs weniger an einer dauerhaften Friedensordnung und damit eo ipso besseren Ordnung interessiert als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson und der britische Premierminister David Lloyd George.
Den Staatsmännern war in Paris schmerzlich bewusst, dass der Kongress sehr viel länger dauerte als erhofft. Aber wie die in Oxford lehrende MacMillan - übrigens eine Urenkelin von David Lloyd George - sehr schön herausschält, arbeiteten sie mit höchster Intensität und widmeten sich neben der Gründung des Völkerbunds und der International Labour Organization so gut wie allen Weltproblemen: von Schantung über Mossul, Albanien, Teschen bis Eupen, Malmedy oder etwa Danzig. Dabei konferierten sie mit höchst unterschiedlichen, teilweise exotischen Figuren wie dem Komponisten Ignaz Paderewski, der ebenso einkaufsfreudigen wie charmanten Königin Maria von Rumänien oder dem umtriebigen griechischen Ministerpräsidenten Eleftherios Venizelos. Nicht zu vergessen der britische Chemiker Chaim Weizmann (auch er gesegnet mit einer extrovertierten Frau), der in Paris die Fundamente für jenen Staat legen sollte, dessen erster Präsident er 1948 wurde.
Die Delegationsleiter der besiegten Staaten hinterließen einen höchst unterschiedlichen Eindruck. Die Österreicher, vertreten von Karl Renner, wurden als angenehm und würdevoll wahrgenommen. Renner sprach genügend Französisch, um zu bekennen, dass er es nicht könne. Österreich handelte noch das Burgenland und andere Verbesserungen heraus. Der brillante ungarische Albert Graf Apponyi wechselte in seiner Ansprache von Französisch auf Englisch und endete auf Italienisch, was der Atmosphäre nur bekömmlich war. Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau als Leiter der deutschen Delegation blieb dagegen sitzen und sprach auf Deutsch. Was er sagte, rötete Clemenceau die Kopfhaut und verleitete Wilson zu einem bissigen Kommentar über die kollektive Intelligenz der Deutschen.
Bezeichnenderweise ritt auch nur die deutsche Delegation auf dem Kriegsschuld-Artikel herum, mit dem alle Friedensverträge gespickt waren. Die anderen machten kein Thema daraus. Dass sich das Deutsche Reich einiges erspart hätte, wenn es den Artikel 231 nicht wichtiger genommen hätte als die bei gleicher Gelegenheit eingegangene Verpflichtung, den Schädel des Sultans Kwakwa zu retournieren, muss man sicher nicht weiter diskutieren.
Wenn bei MacMillans immens lehrreichem Buch etwas leicht untergeht, ist es die innere Verbindung des Waffenstillstandsabkommens vom 11. November 1918 mit dem späteren Friedensvertrag. Der heftig ersehnte Waffenstillstand - alternativ dazu erwogen die Berliner Reichsführung und die Oberste Heeresleitung die Kapitulation im Felde - schrieb bis hin zur Reparationspflicht den Friedensvertrag bereits in weiten Teilen fest. Sachkundige Köpfe auf deutscher Seite wie der Reeder Albert Ballin, Walther Rathenau oder Max Warburg gaben sich auch keinen großen Illusionen über die zu erwartende Höhe hin. Wie die Autorin schreibt, fehlten so kurz nach Kriegsende brauchbare statistische Angaben, um die deutsche Zahlungskraft zu ermitteln.
Der britische Ökonom John Maynard Keynes, der als Vertreter des Schatzamtes der britischen Delegation in Versailles angehört hatte, begnügte sich für sein berühmt gewordenes - und blitzartig ins Deutsche übersetzte - Pamphlet "Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages" mit Zahlenmaterial, das die deutsche Propaganda in der niederländischen Presse verbreitete. Entsprechend gering war die deutsche Zahlungskraft. Das Deutsche Reich holte jedoch beispielsweise aus dem besetzten Frankreich von 1940 bis 1944 über 600 Milliarden Francs heraus. Also in knapp vier Jahren ein Mehrfaches der gesamten deutschen, auf viele Jahrzehnte angelegten Reparationsverpflichtungen. Dies wird bis heute gerne übersehen.
Kleine Ungenauigkeiten sind bei einem Werk dieser Größe kaum zu vermeiden. Der junge Charles de Gaulle war nicht Oberst, als er zur französischen Militärmission nach Polen abkommandiert wurde, sondern Hauptmann. General Henri Mordacq war schon etwas mehr als "Sekretär" oder "Helfer" Clemenceaus. Er war sein Kabinettschef (Clemenceau leitete auch das Kriegsministerium).
Die Übersetzung ist der Autorin nicht immer gewachsen. Welches Motiv dazu bewogen hat, die "Hautes Ecoles in Paris" (im Original) mit dem Einschub "französische Intellektuellenbrutstätten" zu ergänzen, wird man wohl nie erfahren. Die "Special notes" (im Original) sind keine "Sonderbanknoten", sondern Sonderanleihen oder einfach andere Geldpapiere (neben den Kriegsanleihen). Wilson sprach nicht am 21. August 1919 mit Lloyd George (da war er längst wieder in Washington), sondern am 21. April. Ebenso wenig sind Sprachneuschöpfungen wie "promisk" der Autorin anzulasten. Wünschen wir uns also bald eine zweite, verbesserte Auflage. Verdient hat es das Buch auf jeden Fall.
IGNAZ MILLER
Margaret MacMillan: Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte. Aus dem Amerikanischen von Klaus-Dieter Schmidt. Propyläen Verlag, Berlin 2015.736 S., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein großer Stoff zum Nachdenken, den jeder Europäer in diesen Wochen nutzen sollte... Das Buch schreibt die Vorgeschichte der Gegenwart, und das ist sehr beunruhigend... Man legt MacMillans auf jeder Seite interessantes Buch genauso beklommen aus der Hand wie die "Schlafwandler" von Christopher Clark.", Süddeutsche Zeitung, Gustav Seibt, 01.12.2015