Die Friesen leben in West-, Ost- und Nordfriesland, sie leben an der Nordsee zwischen der niederländischen Insel Texel und Dänemark. Enorm viel ist über die verschiedenen Frieslande, über besondere Aspekte friesischer Geschichte, Kultur und Sprache publiziert worden. Die Friesen sind in der Kultur des Nordens ein ständiges Leitmotiv, und wohl jeder kennt den "Schimmelreiter" von Theodor Storm, die Helgoländer Erzählungen von James Krüss oder die Figuren aus Siegfried Lenz "Deutschstunde". Thomas Steensen, langjähriger Leiter des Nordfriisk Instituut und profunder Kenner des Themas, unternimmt in diesem Buch nicht weniger als einen Gesamtüberblick über das Thema, das ein Desiderat ist schon seit langer Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2020Klootschießen, Straßenboßeln und danach ein Schluck Tee
Nachrichten aus einem zerstückelten Kulturraum: Thomas Steensen untersucht, was die Regionen der Nordseeküste zusammenhält
Als Karl der Große vor Rom nicht weiterkam, schickte er den Friesen Magnus vor. Der eroberte, wie es heißt, fast unbekleidet die Stadt für Karl, und der dankbare Frankenherrscher wollte dem Krieger kostbare Gewänder schenken, was Magnus ablehnte. Stattdessen bat er Karl um weitreichende Freiheiten für das Volk von der Nordsee, was der Franke auch zusagte: Kein Friese sollte Leibeigener sein, die Höhe der an Karl und die Kirche zu zahlenden Steuern wurde gedeckelt, die Friesen sollten keinen Kriegsdienst in fernen Ländern leisten und vor allem ihre Angelegenheiten selbst regeln dürfen.
So erzählt es jedenfalls die "Magnussage" aus dem dreizehnten Jahrhundert, und tatsächlich gehört das Beschwören der "friesischen Freiheit" zum Kern der Identität der Friesen. Dass es sich damit komplizierter verhält, und dass die Schwierigkeiten schon mit der Frage beginnen, was das eigentlich sein soll, die Friesen, Friesland, friesisch, ist einem Band zu entnehmen, den Thomas Steensen, ehemaliger Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredstedt und jetziger Vorsitzender der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, nun vorgelegt hat.
Allein das Gebiet zu bestimmen, in dem man das Land der Friesen verorten möchte, ist eine Herausforderung: Ein Teil ist in den Niederlanden (Fryslân), ein zweiter an der niedersächsischen Nordseeküste, der Ostfriesland heißt. Östlich davon findet sich erst der Landkreis "Friesland" - und in einigem geographischen Abstand, nördlich der Eider, Nordfriesland, wohin friesische Siedler in zwei Wellen vor gut tausend Jahren gezogen sind. Zwischen all diesen Gebieten erweisen sich Buchten und Flussmündungen als Hindernis, schreibt Steensen, und auf einer Fahrradreise vom äußersten Westen bis in den Norden des Bereichs stößt er immer wieder auf Menschen, die sich eher ihrer engeren Umgebung verpflichtet fühlen als der Vorstellung, einer Art Gesamtfriesentum anzugehören. Dass es damit überhaupt auch historisch gesehen kompliziert ist, dass die Friesen auch während des Erwachens der kleineren Völker im neunzehnten Jahrhundert politisch nicht auf Selbständigkeit dringen konnten, sondern sich eher entscheiden mussten, auf welchen der großen Nachbarn hin sie sich orientierten, macht das Buch sehr anschaulich.
Die Darstellung der vielen verschiedenen Sprachen und Dialekte, die unter den Begriff "Friesisch" gebracht werden können, die Einflüsse von benachbarten Sprachen, denen sie unterworfen waren und sind, und schließlich auch die Vielfalt der nichtfriesischen Sprachen im selben Gebiet - all dies bildet ein Herzstück von Steensens Buch. Dass es immer weniger gibt, die die jeweiligen Sprachen und Dialekte sprechen, ist kein ganz neuer Prozess und auch nicht auf die Friesen beschränkt. Dass aber Mobilität und Medien diesen Prozess beschleunigen, liegt auf der Hand, und die Beispiele, die Steensen nennt, auf welch mutlose Weise Zeitungen und Rundfunk gegenzusteuern versuchen, lassen für die Zukunft der friesischen Sprachen wenigstens in Deutschland nichts Gutes ahnen, allen Anstrengungen zum Trotz, wenigstens einen Teil des Schulunterrichts in der jeweiligen Lokalsprache abzuhalten.
Dennoch wirkt das Buch an keiner Stelle wie die Bestandsaufnahme einer verschwindenden Kultur, und das nicht nur, weil es in sprachlicher Hinsicht wenigstens von Föhr Erfreuliches zu berichten gibt. Der Autor macht klar, dass so etwas wie ein friesisches Bewusstsein nicht allein an die Sprache geknüpft ist. Klootschießen und Straßenboßeln in Ostfriesland, die korrekt durchgeführte Teezeremonie (schon für Theodor Storm, einen der bekanntesten Friesen aller Zeiten, war das im neunzehnten Jahrhundert überlebensnotwendig), das Leben in der einzigartigen Kulturlandschaft der Nordseeküste mit seinen Anforderungen an alle, die dort den Boden bearbeiten oder Handel treiben, schließlich die Freiheit, die ein Siedeln an der Peripherie gewährt - was davon verbindet die Bewohner der einzelnen friesischen Lande mehr als das, was sie trennt?
In seinem klug aufgebauten Buch handelt der Autor dasjenige ab, was sich analysieren lässt, er gibt kurze Einführungen in die jeweilige Geschichte, die wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten, bevor der gelernte Journalist beinahe eine Reisereportage einfügt, immer wieder aufgebrochen durch Abschnitte, die Hintergrundwissen ergänzen, und durch Reminiszenzen an Dinge, die ihm auf der Reise begegnen und auch anderswo in Friesland zu finden sind. Eifern ist dem Buch ganz fremd: Wenn etwa die wirtschaftliche Potenz der Windkraft gewürdigt wird, klingt zugleich leises Unbehagen über die Veränderung der Landschaft durch, aber eine wohlfeile Friesennostalgie findet hier keinen Raum.
Am Ende steht eine Reihe von "Fallstudien" zu Aspekten dieser historischen und geographischen Reise, auch kurze Biogramme berühmter Friesen fehlen nicht. Wie aber lautet das Fazit über die Küstenbewohner, die hier nüchtern, oft liebevoll beschrieben werden? Wer gehört dazu, wie entscheidet sich das? Die Antwort sei ganz einfach, schreibt Steensen: "Wer Friese sein will, der ist es. Wer sich anders entscheidet, der ist es nicht." Das könnte ein Modell auch für uns Binnenlandbewohner sein.
TILMAN SPRECKELSEN
Thomas Steensen: "Die Friesen". Menschen am Meer.
Wachholtz Verlag, Kiel 2020. 289 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachrichten aus einem zerstückelten Kulturraum: Thomas Steensen untersucht, was die Regionen der Nordseeküste zusammenhält
Als Karl der Große vor Rom nicht weiterkam, schickte er den Friesen Magnus vor. Der eroberte, wie es heißt, fast unbekleidet die Stadt für Karl, und der dankbare Frankenherrscher wollte dem Krieger kostbare Gewänder schenken, was Magnus ablehnte. Stattdessen bat er Karl um weitreichende Freiheiten für das Volk von der Nordsee, was der Franke auch zusagte: Kein Friese sollte Leibeigener sein, die Höhe der an Karl und die Kirche zu zahlenden Steuern wurde gedeckelt, die Friesen sollten keinen Kriegsdienst in fernen Ländern leisten und vor allem ihre Angelegenheiten selbst regeln dürfen.
So erzählt es jedenfalls die "Magnussage" aus dem dreizehnten Jahrhundert, und tatsächlich gehört das Beschwören der "friesischen Freiheit" zum Kern der Identität der Friesen. Dass es sich damit komplizierter verhält, und dass die Schwierigkeiten schon mit der Frage beginnen, was das eigentlich sein soll, die Friesen, Friesland, friesisch, ist einem Band zu entnehmen, den Thomas Steensen, ehemaliger Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredstedt und jetziger Vorsitzender der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, nun vorgelegt hat.
Allein das Gebiet zu bestimmen, in dem man das Land der Friesen verorten möchte, ist eine Herausforderung: Ein Teil ist in den Niederlanden (Fryslân), ein zweiter an der niedersächsischen Nordseeküste, der Ostfriesland heißt. Östlich davon findet sich erst der Landkreis "Friesland" - und in einigem geographischen Abstand, nördlich der Eider, Nordfriesland, wohin friesische Siedler in zwei Wellen vor gut tausend Jahren gezogen sind. Zwischen all diesen Gebieten erweisen sich Buchten und Flussmündungen als Hindernis, schreibt Steensen, und auf einer Fahrradreise vom äußersten Westen bis in den Norden des Bereichs stößt er immer wieder auf Menschen, die sich eher ihrer engeren Umgebung verpflichtet fühlen als der Vorstellung, einer Art Gesamtfriesentum anzugehören. Dass es damit überhaupt auch historisch gesehen kompliziert ist, dass die Friesen auch während des Erwachens der kleineren Völker im neunzehnten Jahrhundert politisch nicht auf Selbständigkeit dringen konnten, sondern sich eher entscheiden mussten, auf welchen der großen Nachbarn hin sie sich orientierten, macht das Buch sehr anschaulich.
Die Darstellung der vielen verschiedenen Sprachen und Dialekte, die unter den Begriff "Friesisch" gebracht werden können, die Einflüsse von benachbarten Sprachen, denen sie unterworfen waren und sind, und schließlich auch die Vielfalt der nichtfriesischen Sprachen im selben Gebiet - all dies bildet ein Herzstück von Steensens Buch. Dass es immer weniger gibt, die die jeweiligen Sprachen und Dialekte sprechen, ist kein ganz neuer Prozess und auch nicht auf die Friesen beschränkt. Dass aber Mobilität und Medien diesen Prozess beschleunigen, liegt auf der Hand, und die Beispiele, die Steensen nennt, auf welch mutlose Weise Zeitungen und Rundfunk gegenzusteuern versuchen, lassen für die Zukunft der friesischen Sprachen wenigstens in Deutschland nichts Gutes ahnen, allen Anstrengungen zum Trotz, wenigstens einen Teil des Schulunterrichts in der jeweiligen Lokalsprache abzuhalten.
Dennoch wirkt das Buch an keiner Stelle wie die Bestandsaufnahme einer verschwindenden Kultur, und das nicht nur, weil es in sprachlicher Hinsicht wenigstens von Föhr Erfreuliches zu berichten gibt. Der Autor macht klar, dass so etwas wie ein friesisches Bewusstsein nicht allein an die Sprache geknüpft ist. Klootschießen und Straßenboßeln in Ostfriesland, die korrekt durchgeführte Teezeremonie (schon für Theodor Storm, einen der bekanntesten Friesen aller Zeiten, war das im neunzehnten Jahrhundert überlebensnotwendig), das Leben in der einzigartigen Kulturlandschaft der Nordseeküste mit seinen Anforderungen an alle, die dort den Boden bearbeiten oder Handel treiben, schließlich die Freiheit, die ein Siedeln an der Peripherie gewährt - was davon verbindet die Bewohner der einzelnen friesischen Lande mehr als das, was sie trennt?
In seinem klug aufgebauten Buch handelt der Autor dasjenige ab, was sich analysieren lässt, er gibt kurze Einführungen in die jeweilige Geschichte, die wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten, bevor der gelernte Journalist beinahe eine Reisereportage einfügt, immer wieder aufgebrochen durch Abschnitte, die Hintergrundwissen ergänzen, und durch Reminiszenzen an Dinge, die ihm auf der Reise begegnen und auch anderswo in Friesland zu finden sind. Eifern ist dem Buch ganz fremd: Wenn etwa die wirtschaftliche Potenz der Windkraft gewürdigt wird, klingt zugleich leises Unbehagen über die Veränderung der Landschaft durch, aber eine wohlfeile Friesennostalgie findet hier keinen Raum.
Am Ende steht eine Reihe von "Fallstudien" zu Aspekten dieser historischen und geographischen Reise, auch kurze Biogramme berühmter Friesen fehlen nicht. Wie aber lautet das Fazit über die Küstenbewohner, die hier nüchtern, oft liebevoll beschrieben werden? Wer gehört dazu, wie entscheidet sich das? Die Antwort sei ganz einfach, schreibt Steensen: "Wer Friese sein will, der ist es. Wer sich anders entscheidet, der ist es nicht." Das könnte ein Modell auch für uns Binnenlandbewohner sein.
TILMAN SPRECKELSEN
Thomas Steensen: "Die Friesen". Menschen am Meer.
Wachholtz Verlag, Kiel 2020. 289 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main