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"Was ist von größeren Nutzen für die Welt: ein guter, aber gewöhnlicher Mensch, oder ein außergewöhnlicher mit einem Herz aus Eis?" Dieser Frage spürt Andrew Miller in seinem Roman nach. Im Mittelpunkt steht James Dyer, geboren im Jahre 1739 in England. James wird ein brillanter Arzt, dem allerdings etwas Unheimliches anhaftet: Er kann keinen körperlichen Schmerz empfinden, weiß aber auch nicht, was menschliche Gefühle sind. Eine Reise nach Rußland, wo er Katharina die Große gegen die Pocken impfen soll, bringt die entscheidende Wende in sein Leben. Mit Hilfe der Magie, die er bei einer…mehr

Produktbeschreibung
"Was ist von größeren Nutzen für die Welt: ein guter, aber gewöhnlicher Mensch, oder ein außergewöhnlicher mit einem Herz aus Eis?" Dieser Frage spürt Andrew Miller in seinem Roman nach. Im Mittelpunkt steht James Dyer, geboren im Jahre 1739 in England. James wird ein brillanter Arzt, dem allerdings etwas Unheimliches anhaftet: Er kann keinen körperlichen Schmerz empfinden, weiß aber auch nicht, was menschliche Gefühle sind. Eine Reise nach Rußland, wo er Katharina die Große gegen die Pocken impfen soll, bringt die entscheidende Wende in sein Leben. Mit Hilfe der Magie, die er bei einer geheimnisvollen Frau erfährt, lernt er, was es heißt, Schmerz zu empfinden.
»Was ist von größerem Nutzen für die Welt: ein guter, aber gewöhnlicher Mensch, oder ein außergewöhnlicher mit einem Herz aus Eis?« fragt einer der Protagonisten in Andrew Millers packendem historischen Roman, für den der Autor 1999 den IMPAC Preis bekommen hat. James Dyer wird im 18. Jahrhundert in eine Häuslerfamilie hineingeboren und hat von Geburt an weder Schmerzempfinden noch Gefühle. Erst auf einer Reise nach Rußland, wo der inzwischen bekannte und außergewöhnliche Chirurg Katharina die Große gegen Pocken impfen soll, lehrt ihn eine Frau mit Hilfe ungewöhnlicher Kräfte, was es heißt, Schmerzen zu empfinden.
Autorenporträt
Andrew Miller wurde 1960 in Bristol (Großbritannien) geboren und lebt heute in Somerset. Bei Zsolnay sind u.a. erschienen: Die Gabe des Schmerzes (1998), wofür er den Impac Dublin Literary Award bekam, Friedhof der Unschuldigen (2013), ausgezeichnet mit dem Costa Book of the Year Award und Die Korrektur der Vergangenheit (2023).

Nikolaus Stingl, 1952 geboren, übersetzte u. a. William H. Gass, Ben Lerner, Thomas Pynchon, Colson Whitehead und Emma Cline und wurde mit mehreren wichtigen Übersetzerpreisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.1998

Mami, er hat gar nicht gebohrt
Andrew Miller erwägt die Vorzüge des Schmerzes

Daß das achtzehnte Jahrhundert eine an genialen und abscheulichen Gestalten nicht arme Epoche war, wissen wir spätestens seit Patrick Süskinds "Parfüm". Den genialen Nüstern des Scheusals Grenouille schickt der 1960 geborene Ire Andrew Miller in seinem ersten Roman "Die Gabe des Schmerzes" nun eine weitere, nicht minder wundersame Sonderbegabung des aufgeklärten Jahrhunderts hinterher. James Dyer, die Hauptfigur, wird fühllos geboren, er empfindet vor allem keinen Schmerz. Damit ist er, nach dem Willen des Autors, prädestiniert für eine außergewöhnliche Karriere als Arzt und Meisterchirurg.

Wo bei den stümpernden Kollegen die Nerven versagen, wo sie den aufgeschnittenen Patienten sterbend im Stich lassen, führt Dyer Messer und Nadel mit kaltem Herz und ruhiger Hand. Mit diesem Versuchsaufbau möchte der Autor einen "Ideenroman" in Gang bringen. In dessen Zentrum steht die Frage: "Was braucht die Welt eher - einen guten, gewöhnlichen Menschen oder einen, der herausragt, wenngleich mit einem Herzen aus Eis, aus Stein?" Man ahnt die Antwort: es ist die Empfindung und das Mitgefühl, was den Menschen zum Menschen macht.

Der historische Hintergrund ist nicht schlecht gewählt: Die thesenhafte Opposition von Kälte und Außergewöhnlichkeit einerseits, Gefühl und Mitmenschlichkeit andererseits paßt ins achtzehnte Jahrhundert, in dem die Mitleidslehren von Rousseau und Lessing Anthropologie und Ästhetik revolutionieren. Auch die englische "Moral-sense"-Philosophie suchte die Moral aus den Fesseln der Religion und des "kalten" Rationalismus zu befreien - und fand ihr Fundament in der angeborenen Disposition zu mitfühlender Teilnahme am Schicksal der anderen. Sympathie, Menschenliebe, Rührung, Empfindsamkeit - das waren welterschließende Begriffe der Epoche. Millers Konzeption besitzt also einiges an Reiz und Stimmigkeit.

Und die ersten zweihundert Seiten - die gemächlich bis zu Dyers Pubertät führen - lesen sich auch vielversprechend. Die ruhige und einfache, gelegentlich mit ungewöhnlichen Bildern aufwartende Sprache kann für sich einnehmen. James ist ein unnahbares Kind mit ernstem Blick; er redet nicht und wirkt tückisch. Der Grund seines seltsamen Verhaltens, die Schmerzunempfindlichkeit, wird erst nach Jahren aufgedeckt, als er sich erstmals klaglos ein Bein bricht. Ist das plausibel? Ein Kind, das die Welt ohne die Absicherung durch Schmerzsignale erkunden müßte, wäre Verletzungen hilflos ausgeliefert und hätte wahrscheinlich schon bald einige Gliedmaßen eingebüßt. Die Vorsicht im Umgang mit dem eigenen Leib will gelernt sein; sie resultiert aus den Erfahrungen des Schmerzes. Aber wie dem auch sei: wenn nur halbwegs gut erzählt wird, ist man bereit, solche spielverderberischen Überlegungen zurückzustellen.

Und halbwegs gut erzählt geht es ja weiter. Der Knabe James zieht mit einem Schausteller und Betrüger durchs Land und läßt sich von ihm Nadeln durch die Hand stechen, um dem staunenden und sogleich zahlungswilligen Publikum die Wirksamkeit eines gepanschten Schmerzmittels zu demonstrieren. (Jetzt bietet der Autor nachträglich das erforderliche zweite Wunder auf: eine rasend schnelle Wundheilung.) Dann wird James von einem mysteriösen Mr. Canning entführt und einem wissenschaftlichen Kollegium vorgestellt, das sich auf menschliche Kuriositäten spezialisiert hat. Auch diese Episoden erinnern an Süskind (die grandiosen Passagen über den in allen Wissenschaften dilettierenden Marquis) und machen zugleich den Abstand deutlich. Man fragt sich allmählich, ob Miller nicht doch noch etwas mehr aus seinem Einfall herauszuholen gedenkt.

In der zweiten Hälfte des Buches zieht das Tempo an. Briefe berichten, wie der junge Dyer sich als Gehilfe eines Schiffsarztes bei Seeschlachten bewährt. Schon ist von Genie die Rede. Wieder an Land, verbreitet sich sein ärztlicher Ruhm rasch. Aber auch wenn die unheimlichen Züge des eiskalten Operateurs herausgestrichen werden, so bleibt die ganze Arztgeschichte doch unbefriedigend. Der Sonderfall des Menschen ohne Schmerzempfindung wird wieder heruntergekocht auf das nicht ganz so spektakuläre Vorkommnis eines sehr kühlen, sehr sachlichen Charakters.

Bei einem Ärzte-Wettrennen nach Petersburg - der erste darf Katharina die Große gegen die Pocken impfen - kommt die lange erwartete Wandlung über den Helden. Schon die Frage "Lebt er eigentlich? Was heißt es zu leben?" verheißt nichts Gutes, aber daß es ausgerechnet eine polnische Hexe namens Mary sein würde, eine schemenhafte Unfigur, die James durch allerhand "geheimes Tun" wieder zum Fühlen bringt, hatte man dann doch nicht befürchtet. Das Auftauen der Empfindung gestaltet sich körpertherapeutisch als Wiederkehr des Verdrängten: "Sein Fleisch erinnert sich an jeden Bruch, jede Tracht Prügel, jeden Stich mit der Nadel."

Im nächsten Kapitel findet ihn der Leser als Patienten einer englischen Irrenanstalt wieder, wo ein so menschenfreundlicher wie optimistischer Impresario mit den Geisteskranken Shakespeares "Sommernachtstraum" einzustudieren versucht. Es kommt zu Zwischenfällen: "Lysander kotet sich unversehens ein." Auch James vernachlässigt die Proben; in einem abgelegenen Zimmer läßt er sich von einer Mitpatientin auf einem Stapel Zwangsjacken verführen. Er ist zum Menschen geworden: "Die Liebe ist seine Lehrmeisterin . . . Es ist, als habe er noch niemals Vögel gehört, noch niemals die Morgendämmerung gesehen. Er hat auch noch nie so geweint. Die Welt ist gut. Sie ist erstaunlich."

Das stimmt. Erstaunlich, wie der Autor es schafft, diesen Roman, der doch eine Weile ganz gut auf dem Weg war, im letzten Drittel derart in den Graben zu fahren. WOLFGANG SCHNEIDER

Andrew Miller: "Die Gabe des Schmerzes". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Zsolnay Verlag, Wien/München 1998. 382 S., geb., 39,80 DM.

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"Andrew Miller hat einen farbenprächtigen Roman voll überbordender Phantasie geschrieben, er hat ein theatrum mundi geschaffen, in dem am Beispiel des James Dyer "das Trugbild eines möglichen, noch nicht zur Welt gekommenen und vielleicht niemals zur Welt kommenden Menschen" gezeichnet wird. Es ist in diesem Sinne ein utopischer Roman, der alle Trockenheit und Gelehrsamkeit meidet und die Klippen der Rechthaberei wie auch der Sentimentalität souverän umschifft." Claus Ulrich Bielefeld, Süddeutsche Zeitung "Mit feinem Gespür für exotisch-skurrile Typen und Situationen, die für die Umbruchphase des aufklärerischen 18. Jahrhunderts so typisch waren, beschreibt Miller den Konflikt des Wundarztes, der erst die "Gabe des Schmerzes" empfangen muss, um Sympathie für andere empfinden zu können." Peter Münder, Spiegel Special