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Ungewöhnlich ist alles an dem Kind, das 1739 in eine arme englische Häuslerfamilie hineingeboren wird: James Dyer weint nie, spricht kaum, vor allem aber hat er nicht das geringste Schmerzempfinden. Von einer Jahrmarktsattraktion bringt James es schließlich zum Wunderarzt. Doch der Mann, der keinen Schmerz empfindet, weiß auch nicht, was Gefühle sind - bis er auf einer Reise nach Rußland einer seltsamen Frau begegnet, die ihn lehrt, was es heißt, ein Mensch zu sein ... Ein historischer Roman, so wundersam und fesselnd wie Patrick Süskinds "Das Parfum".

Produktbeschreibung
Ungewöhnlich ist alles an dem Kind, das 1739 in eine arme englische Häuslerfamilie hineingeboren wird: James Dyer weint nie, spricht kaum, vor allem aber hat er nicht das geringste Schmerzempfinden. Von einer Jahrmarktsattraktion bringt James es schließlich zum Wunderarzt. Doch der Mann, der keinen Schmerz empfindet, weiß auch nicht, was Gefühle sind - bis er auf einer Reise nach Rußland einer seltsamen Frau begegnet, die ihn lehrt, was es heißt, ein Mensch zu sein ... Ein historischer Roman, so wundersam und fesselnd wie Patrick Süskinds "Das Parfum".
Autorenporträt
A. D. Miller, Jahrgang 1974, studierte Literatur in Cambridge und Princeton. Er arbeitete für The Economist und war von 2004 - 2007 dessen Moskau-Korrespondent. Miller lebt mit seiner Familie in London.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.1998

Mami, er hat gar nicht gebohrt
Andrew Miller erwägt die Vorzüge des Schmerzes

Daß das achtzehnte Jahrhundert eine an genialen und abscheulichen Gestalten nicht arme Epoche war, wissen wir spätestens seit Patrick Süskinds "Parfüm". Den genialen Nüstern des Scheusals Grenouille schickt der 1960 geborene Ire Andrew Miller in seinem ersten Roman "Die Gabe des Schmerzes" nun eine weitere, nicht minder wundersame Sonderbegabung des aufgeklärten Jahrhunderts hinterher. James Dyer, die Hauptfigur, wird fühllos geboren, er empfindet vor allem keinen Schmerz. Damit ist er, nach dem Willen des Autors, prädestiniert für eine außergewöhnliche Karriere als Arzt und Meisterchirurg.

Wo bei den stümpernden Kollegen die Nerven versagen, wo sie den aufgeschnittenen Patienten sterbend im Stich lassen, führt Dyer Messer und Nadel mit kaltem Herz und ruhiger Hand. Mit diesem Versuchsaufbau möchte der Autor einen "Ideenroman" in Gang bringen. In dessen Zentrum steht die Frage: "Was braucht die Welt eher - einen guten, gewöhnlichen Menschen oder einen, der herausragt, wenngleich mit einem Herzen aus Eis, aus Stein?" Man ahnt die Antwort: es ist die Empfindung und das Mitgefühl, was den Menschen zum Menschen macht.

Der historische Hintergrund ist nicht schlecht gewählt: Die thesenhafte Opposition von Kälte und Außergewöhnlichkeit einerseits, Gefühl und Mitmenschlichkeit andererseits paßt ins achtzehnte Jahrhundert, in dem die Mitleidslehren von Rousseau und Lessing Anthropologie und Ästhetik revolutionieren. Auch die englische "Moral-sense"-Philosophie suchte die Moral aus den Fesseln der Religion und des "kalten" Rationalismus zu befreien - und fand ihr Fundament in der angeborenen Disposition zu mitfühlender Teilnahme am Schicksal der anderen. Sympathie, Menschenliebe, Rührung, Empfindsamkeit - das waren welterschließende Begriffe der Epoche. Millers Konzeption besitzt also einiges an Reiz und Stimmigkeit.

Und die ersten zweihundert Seiten - die gemächlich bis zu Dyers Pubertät führen - lesen sich auch vielversprechend. Die ruhige und einfache, gelegentlich mit ungewöhnlichen Bildern aufwartende Sprache kann für sich einnehmen. James ist ein unnahbares Kind mit ernstem Blick; er redet nicht und wirkt tückisch. Der Grund seines seltsamen Verhaltens, die Schmerzunempfindlichkeit, wird erst nach Jahren aufgedeckt, als er sich erstmals klaglos ein Bein bricht. Ist das plausibel? Ein Kind, das die Welt ohne die Absicherung durch Schmerzsignale erkunden müßte, wäre Verletzungen hilflos ausgeliefert und hätte wahrscheinlich schon bald einige Gliedmaßen eingebüßt. Die Vorsicht im Umgang mit dem eigenen Leib will gelernt sein; sie resultiert aus den Erfahrungen des Schmerzes. Aber wie dem auch sei: wenn nur halbwegs gut erzählt wird, ist man bereit, solche spielverderberischen Überlegungen zurückzustellen.

Und halbwegs gut erzählt geht es ja weiter. Der Knabe James zieht mit einem Schausteller und Betrüger durchs Land und läßt sich von ihm Nadeln durch die Hand stechen, um dem staunenden und sogleich zahlungswilligen Publikum die Wirksamkeit eines gepanschten Schmerzmittels zu demonstrieren. (Jetzt bietet der Autor nachträglich das erforderliche zweite Wunder auf: eine rasend schnelle Wundheilung.) Dann wird James von einem mysteriösen Mr. Canning entführt und einem wissenschaftlichen Kollegium vorgestellt, das sich auf menschliche Kuriositäten spezialisiert hat. Auch diese Episoden erinnern an Süskind (die grandiosen Passagen über den in allen Wissenschaften dilettierenden Marquis) und machen zugleich den Abstand deutlich. Man fragt sich allmählich, ob Miller nicht doch noch etwas mehr aus seinem Einfall herauszuholen gedenkt.

In der zweiten Hälfte des Buches zieht das Tempo an. Briefe berichten, wie der junge Dyer sich als Gehilfe eines Schiffsarztes bei Seeschlachten bewährt. Schon ist von Genie die Rede. Wieder an Land, verbreitet sich sein ärztlicher Ruhm rasch. Aber auch wenn die unheimlichen Züge des eiskalten Operateurs herausgestrichen werden, so bleibt die ganze Arztgeschichte doch unbefriedigend. Der Sonderfall des Menschen ohne Schmerzempfindung wird wieder heruntergekocht auf das nicht ganz so spektakuläre Vorkommnis eines sehr kühlen, sehr sachlichen Charakters.

Bei einem Ärzte-Wettrennen nach Petersburg - der erste darf Katharina die Große gegen die Pocken impfen - kommt die lange erwartete Wandlung über den Helden. Schon die Frage "Lebt er eigentlich? Was heißt es zu leben?" verheißt nichts Gutes, aber daß es ausgerechnet eine polnische Hexe namens Mary sein würde, eine schemenhafte Unfigur, die James durch allerhand "geheimes Tun" wieder zum Fühlen bringt, hatte man dann doch nicht befürchtet. Das Auftauen der Empfindung gestaltet sich körpertherapeutisch als Wiederkehr des Verdrängten: "Sein Fleisch erinnert sich an jeden Bruch, jede Tracht Prügel, jeden Stich mit der Nadel."

Im nächsten Kapitel findet ihn der Leser als Patienten einer englischen Irrenanstalt wieder, wo ein so menschenfreundlicher wie optimistischer Impresario mit den Geisteskranken Shakespeares "Sommernachtstraum" einzustudieren versucht. Es kommt zu Zwischenfällen: "Lysander kotet sich unversehens ein." Auch James vernachlässigt die Proben; in einem abgelegenen Zimmer läßt er sich von einer Mitpatientin auf einem Stapel Zwangsjacken verführen. Er ist zum Menschen geworden: "Die Liebe ist seine Lehrmeisterin . . . Es ist, als habe er noch niemals Vögel gehört, noch niemals die Morgendämmerung gesehen. Er hat auch noch nie so geweint. Die Welt ist gut. Sie ist erstaunlich."

Das stimmt. Erstaunlich, wie der Autor es schafft, diesen Roman, der doch eine Weile ganz gut auf dem Weg war, im letzten Drittel derart in den Graben zu fahren. WOLFGANG SCHNEIDER

Andrew Miller: "Die Gabe des Schmerzes". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Zsolnay Verlag, Wien/München 1998. 382 S., geb., 39,80 DM.

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Brillant. Der Spiegel