Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.1996Der Maler trank Rheinwein
Irgendwie unnahbar: Nina Berberovas Roman "Die Gebieterin"
Das Milieu, das Nina Berberova immer wieder vorgeführt hat, ist das der "weißen" Russen, die nach der Oktoberrevolution geflüchtet und in Paris oder anderswo gestrandet sind. Als "Chronistin von Billancourt" hat man die 1901 in St. Petersburg geborene Autorin bezeichnet - in Billancourt bei Paris befanden sich die Renault-Autowerke, wo in den zwanziger Jahren ehemalige Offiziere der Zarenarmee ihr Brot am Fließband verdienten. Nina Berberova kannte dieses Emigrantenmilieu der jobbenden, ihre Diamanten verscherbelnden Adeligen und abgetakelten Würdenträger gut: 1922 hatte sie mit ihrem Mann, dem Dichter Wladislaw Chodassewitsch, Rußland verlassen, die nächsten Stationen hießen Berlin, Prag, Sorrent (wo Gorki das Paar beherbergte) und ab 1925 - für zweieinhalb Jahrzehnte - Paris. 1950 emigrierte sie in die Vereinigten Staaten, 1993 starb sie mit 92 Jahren in Philadelphia. Das Leben dieser Jahrhundertzeugin wurde 1990 auch dem deutschen Leser durch ihre Autobiographie vor Augen gerückt, die auf deutsch den etwas hilflosen Titel "Ich komme aus St. Petersburg" verpaßt bekam.
Auch wenn sie in Deutschland nicht wie in ihrer einstigen Wahlheimat Frankreich in aller Breite ediert ist und späte Bestsellererfolge feiern konnte, genießt Nina Berberova auch hier seit dem Erscheinen ihrer Romane "Die Begleiterin" (1987) und "Der Lakai und die Hure" (1988) oder ihrer drei späten Novellen "Der Traum von Liebe, die bleibt" (1993) einen Ruf als Verfasserin von nicht sehr innovativen, doch psychologisch und atmosphärisch stimmigen Schilderungen des russischen Emigrantenmilieus. Dem neu übersetzten Roman "Die Gebieterin" steht man aber auch als wohlwollender Betrachter ein bißchen ratlos gegenüber und fragt sich, warum aus der Fülle des auf deutsch noch Unveröffentlichten gerade dieser Text übersetzt werden mußte. Zur ihrem Ruhm wird der kurze Roman oder die lange Erzählung nicht viel beitragen können.
Iwan und Sascha, die beiden Söhne eines noch in Rußland verstorbenen Generals, versuchen als Emigranten in Paris über die Runden zu kommen. Iwan, der ältere, arbeitet nachts als Taxifahrer, um dem jüngeren das Studium der Rechte zu ermöglichen. Sie teilen sich das Zimmer und das Bett - kommt der Taxifahrer nach Hause, hat der Student aufzustehen. Dieses brüderliche Zusammenleben ist der anrührendste Teil des dünnen Romans. Die Mutter hat sich aus den materiellen Engpässen weggestohlen, in zweiter Ehe einen Amerikaner geheiratet und lebt in Pittsburgh. Iwan ist mit der Näherin Katja verlobt, Sascha wartet auf die große Liebe. Als sich sein Studienfreund Andrej mit der neunzehnjährigen begüterten Schenja Schilowskaja verlobt, begegnet Sascha ihrer Schwester, der rätselhaften Lena: "Sie war so selbständig und dann wieder unaufmerksam, so bezaubernd und dann wieder unnahbar."
Viel konkreter wird sie aber nicht, und das Geheimnis, das diese "Gebieterin" umwehen soll, erfährt keinerlei sinnliche Verdichtung. Sie ist selbstbewußt und "gebieterisch" und lädt Sascha, als der noch zögert, zu einer Liebesnacht in eine Wohnung ein, wo sie einmal mit einem deutschen Maler - der jetzt verschwunden, verstorben ist? - gelebt haben soll. Während sich Iwans und Katjas, Andrejs und Schenjas Liebe unkompliziert entwickeln darf, raunt die mysteriöse Lena ihrem tumben Sascha etwas von künftigen "Schwierigkeiten" ins Ohr, ohne daß der Leser im Verlauf des Romans irgendwelche Andeutungen geschenkt bekäme, worin die denn wohl bestehen könnten. Der abwesende Maler bleibt so blaß wie die anwesenden Russen.
Lauter Klischees: "Die Deutschen können sich benehmen" und haben natürlich eine Flasche Rheinwein in der Küche stehen. Die russischen Frauen sind "modern", deshalb hat Mr. Torn aus Pittsburgh Iwans und Saschas Mama geehelicht - man stelle sich vor: Sie ist eine Generalswitwe! Der Zauderer Sascha wird letztlich seiner neuen Liebe nicht recht froh, offenbar ist er für das Glück weniger begabt als die anderen: "So aber konnte er nicht weinen, Kälte und Gehässigkeit befanden sich in seiner abgestorbenen Seele, und eine Langeweile, eine den Schlaf vertreibende Langeweile breitete sich in ihm aus und seine alles vergiftenden Gedanken." Schluß. Statt dieser "Gebieterin" sollte man vielleicht noch einmal die vor ein paar Jahren erschienene "Begleiterin" lesen. RALPH DUTLI
Nina Berberova: "Die Gebieterin". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke. Luchterhand Literaturverlag, München 1996. 140 S., geb., 29,80 DM.
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Irgendwie unnahbar: Nina Berberovas Roman "Die Gebieterin"
Das Milieu, das Nina Berberova immer wieder vorgeführt hat, ist das der "weißen" Russen, die nach der Oktoberrevolution geflüchtet und in Paris oder anderswo gestrandet sind. Als "Chronistin von Billancourt" hat man die 1901 in St. Petersburg geborene Autorin bezeichnet - in Billancourt bei Paris befanden sich die Renault-Autowerke, wo in den zwanziger Jahren ehemalige Offiziere der Zarenarmee ihr Brot am Fließband verdienten. Nina Berberova kannte dieses Emigrantenmilieu der jobbenden, ihre Diamanten verscherbelnden Adeligen und abgetakelten Würdenträger gut: 1922 hatte sie mit ihrem Mann, dem Dichter Wladislaw Chodassewitsch, Rußland verlassen, die nächsten Stationen hießen Berlin, Prag, Sorrent (wo Gorki das Paar beherbergte) und ab 1925 - für zweieinhalb Jahrzehnte - Paris. 1950 emigrierte sie in die Vereinigten Staaten, 1993 starb sie mit 92 Jahren in Philadelphia. Das Leben dieser Jahrhundertzeugin wurde 1990 auch dem deutschen Leser durch ihre Autobiographie vor Augen gerückt, die auf deutsch den etwas hilflosen Titel "Ich komme aus St. Petersburg" verpaßt bekam.
Auch wenn sie in Deutschland nicht wie in ihrer einstigen Wahlheimat Frankreich in aller Breite ediert ist und späte Bestsellererfolge feiern konnte, genießt Nina Berberova auch hier seit dem Erscheinen ihrer Romane "Die Begleiterin" (1987) und "Der Lakai und die Hure" (1988) oder ihrer drei späten Novellen "Der Traum von Liebe, die bleibt" (1993) einen Ruf als Verfasserin von nicht sehr innovativen, doch psychologisch und atmosphärisch stimmigen Schilderungen des russischen Emigrantenmilieus. Dem neu übersetzten Roman "Die Gebieterin" steht man aber auch als wohlwollender Betrachter ein bißchen ratlos gegenüber und fragt sich, warum aus der Fülle des auf deutsch noch Unveröffentlichten gerade dieser Text übersetzt werden mußte. Zur ihrem Ruhm wird der kurze Roman oder die lange Erzählung nicht viel beitragen können.
Iwan und Sascha, die beiden Söhne eines noch in Rußland verstorbenen Generals, versuchen als Emigranten in Paris über die Runden zu kommen. Iwan, der ältere, arbeitet nachts als Taxifahrer, um dem jüngeren das Studium der Rechte zu ermöglichen. Sie teilen sich das Zimmer und das Bett - kommt der Taxifahrer nach Hause, hat der Student aufzustehen. Dieses brüderliche Zusammenleben ist der anrührendste Teil des dünnen Romans. Die Mutter hat sich aus den materiellen Engpässen weggestohlen, in zweiter Ehe einen Amerikaner geheiratet und lebt in Pittsburgh. Iwan ist mit der Näherin Katja verlobt, Sascha wartet auf die große Liebe. Als sich sein Studienfreund Andrej mit der neunzehnjährigen begüterten Schenja Schilowskaja verlobt, begegnet Sascha ihrer Schwester, der rätselhaften Lena: "Sie war so selbständig und dann wieder unaufmerksam, so bezaubernd und dann wieder unnahbar."
Viel konkreter wird sie aber nicht, und das Geheimnis, das diese "Gebieterin" umwehen soll, erfährt keinerlei sinnliche Verdichtung. Sie ist selbstbewußt und "gebieterisch" und lädt Sascha, als der noch zögert, zu einer Liebesnacht in eine Wohnung ein, wo sie einmal mit einem deutschen Maler - der jetzt verschwunden, verstorben ist? - gelebt haben soll. Während sich Iwans und Katjas, Andrejs und Schenjas Liebe unkompliziert entwickeln darf, raunt die mysteriöse Lena ihrem tumben Sascha etwas von künftigen "Schwierigkeiten" ins Ohr, ohne daß der Leser im Verlauf des Romans irgendwelche Andeutungen geschenkt bekäme, worin die denn wohl bestehen könnten. Der abwesende Maler bleibt so blaß wie die anwesenden Russen.
Lauter Klischees: "Die Deutschen können sich benehmen" und haben natürlich eine Flasche Rheinwein in der Küche stehen. Die russischen Frauen sind "modern", deshalb hat Mr. Torn aus Pittsburgh Iwans und Saschas Mama geehelicht - man stelle sich vor: Sie ist eine Generalswitwe! Der Zauderer Sascha wird letztlich seiner neuen Liebe nicht recht froh, offenbar ist er für das Glück weniger begabt als die anderen: "So aber konnte er nicht weinen, Kälte und Gehässigkeit befanden sich in seiner abgestorbenen Seele, und eine Langeweile, eine den Schlaf vertreibende Langeweile breitete sich in ihm aus und seine alles vergiftenden Gedanken." Schluß. Statt dieser "Gebieterin" sollte man vielleicht noch einmal die vor ein paar Jahren erschienene "Begleiterin" lesen. RALPH DUTLI
Nina Berberova: "Die Gebieterin". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke. Luchterhand Literaturverlag, München 1996. 140 S., geb., 29,80 DM.
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