Ulinka Rublack bietet eine große, spannende und anschaulich geschriebene Kulturgeschichte der Mode in der Renaissance und zeigt, wie Mode Geschichte macht und wie sie sich zu Beginn der globalen Ökonomie rasant veränderte. Lebensnah schildert die Autorin die Begebenheiten, welche die Kleidung so bedeutsam für unsere Kultur und Gesellschaft machten und uns bis in unsere Gegenwart prägen.
In ihrer fulminanten Darstellung zur Geburt der Mode präsentiert Ulinka Rublack ein ganz neues Bild der Renaissance. Sie nimmt die äußere Erscheinung der Menschen in den Blick und zeichnet nach, was sie trugen, wie sie sich bewegten und welche Bilder sie von ihrem Aussehen entwarfen. Es war eine Epoche, in der die Europäer eine völlig neue Sensibilität dafür entwickelten, wo sie in der Welt standen und wie sie ihr Leben darin gestalten wollten. Glänzend schildert die Autorin in ihrer gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Betrachtung, wie durch die neuartige Beschäftigung mit vielfältigen Bildmedien und durch den regen Austausch mit anderen Welten in anderen Kulturen und Mentalitäten die Einstellung zum Konsum von Kleidung Teil einer umfassenderen Lebensanschauung wurde. Sie illustriert diese Entwicklung am Beispiel prominenter Figuren wie des international bekannten Malers Albrecht Dürer aber auch regionaler Größen wie des Augsburger Buchhalters und ersten »Mode-Influencers« Matthäus Schwarz. Dieses reich bebilderte Standardwerk - voller überraschender und oft auch erheiternder Einsichten - lässt eine Epoche der deutschen und europäischen Geschichte mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart in ganz neuem Licht erstrahlen.
In ihrer fulminanten Darstellung zur Geburt der Mode präsentiert Ulinka Rublack ein ganz neues Bild der Renaissance. Sie nimmt die äußere Erscheinung der Menschen in den Blick und zeichnet nach, was sie trugen, wie sie sich bewegten und welche Bilder sie von ihrem Aussehen entwarfen. Es war eine Epoche, in der die Europäer eine völlig neue Sensibilität dafür entwickelten, wo sie in der Welt standen und wie sie ihr Leben darin gestalten wollten. Glänzend schildert die Autorin in ihrer gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Betrachtung, wie durch die neuartige Beschäftigung mit vielfältigen Bildmedien und durch den regen Austausch mit anderen Welten in anderen Kulturen und Mentalitäten die Einstellung zum Konsum von Kleidung Teil einer umfassenderen Lebensanschauung wurde. Sie illustriert diese Entwicklung am Beispiel prominenter Figuren wie des international bekannten Malers Albrecht Dürer aber auch regionaler Größen wie des Augsburger Buchhalters und ersten »Mode-Influencers« Matthäus Schwarz. Dieses reich bebilderte Standardwerk - voller überraschender und oft auch erheiternder Einsichten - lässt eine Epoche der deutschen und europäischen Geschichte mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart in ganz neuem Licht erstrahlen.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Ralph Gerstenberg findet viel Freude beim Lesen von Ulinka Rublacks "Die Geburt der Mode: Eine Kulturgeschichte der Renaissance". Die Autorin gibt den Leser*innen darin einen Überblick über den mithilfe von Mode, Kleidung und Stil immer mehr ins Zentrum rückenden individuellen Menschen anhand von zahlreichen Beispielen: Albrecht Dürer dokumentierte etwa als erster seine äußerlichen Veränderungen mit Selbstporträts, der Augsburger Buchhalter Matthäus Schwarz, ließ indes seine Kostümierungen in einem "Trachtenbuch" festhalten, lernt Gerstenberg. Das wirkt dem Rezensenten zufolge teilweise überraschend zeitgemäß und wird stets konkret und mit eindrucksvollem Bildmaterial unterstützt. Insgesamt liest sie eine detailreiche und fundierte Analyse dieses Zeitalters, die sich auch als Sittengeschichte lesen lässt. Gerstenberg erfährt hier nicht nur Neues, sondern wird dank Rublacks lebendigem Erzählton auch gut unterhalten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2022Was soll der Akt im Kleiderbuch?
Als eine uns geläufige symbolische Praxis sich merklich intensivierte: Ulinka Rublack widmet dem Phänomen der Mode im frühmodernen Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts eine lesenswerte Darstellung.
Mode hat es immer schon gegeben. Jedenfalls behauptete dies Georg Simmel 1905 in seinem klassischen Text zur "Philosophie der Mode". In ihr verdichte sich die grundlegende Spannung von "Egalisierungs- und [...] Individualisierungstrieb" der Menschen, das Bedürfnis nach sozialer Anlehnung versus individueller Abgrenzung. Simmels Vorstellung von sozialen "Klassenmoden" besagt, dass die unteren Schichten gerade im Bereich der Kleidung durch "bloßen Geldeinsatz" und billigeres Imitat die höheren Stände nachahmen können. Daraus folge eine Dynamik des schnellen Wandels, des Sich-Überbietens und Sich-Absetzens: "Die Lebensbedingungen der Mode als einer durchgängigen Erscheinung in der Geschichte unserer Gattung sind hiermit umschrieben."
Wenn es freilich Mode immer schon gegeben hat, wie lässt sich dann von der "Geburt der Mode" sprechen? Unter diesem Titel liegt jetzt eine umfangreiche, reich bebilderte "Kulturgeschichte der Renaissance" von Ulinka Rublack vor, die bereits 2010 auf Englisch erschienen ist. Im Original heißt das Buch wesentlich vorsichtiger "Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe". Tatsächlich bewegen sich die Thesen Rublacks zwischen beiden Titelversionen: Untersucht wird Mode als soziale "symbolische Praxis".
Es geht um Kleidung als Form von Aneignung, Ausdruck und Absicherung einer bestimmten Vorstellung vom Selbst in der Gesellschaft. Es geht um ein Markieren oder Reklamieren von "kultureller Identität", aber auch um ein Bedürfnis nach dem "materiellen Ausdruck neuer Gefühlswelten" und um eine neue Lust am Konsum. Diese "symbolische Praxis" erfuhr in der Renaissance eine entscheidende Intensivierung und Beschleunigung. So sah etwa eine 1596 in Leipzig erlassene Kleiderordnung frustriert von detaillierten Vorschriften ab, gäbe es doch "fast nichts gewisses anzuordnen vnnd fürzuschreiben, alldieweil die Trachten vnd der Zeug bey der Deutschen Nation fast alle Jar vnd also von der einen zur andern sich verändern". Insgesamt konzentriert sich Rublack auf die Situation im "frühmodernen Deutschland". Damit eröffnet sie eine neue Perspektive, haben doch zumindest Deutschlands reformierte Gebiete im sechzehnten. Jahrhundert bislang nicht als Mode-Hotspots gegolten.
Rublacks Buch liefert also keine Entwicklungsgeschichte der Kleiderstile im Zeitraum von 1300 bis 1600. Es untersucht nicht systematisch die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, herstellungstechnischen oder ästhetischen Transformationen und Gründe, warum neue, aufwendige, schnell wechselnde Kleidung in frühmodernen deutschen Landen so wichtig wurde. Und es vergleicht nicht eingehender mit anderen europäischen Mode-Szenen in Italien, Frankreich, Spanien, Burgund oder den Niederlanden. Das Buch konzentriert sich auf eine Reihe außergewöhnlicher Bild- und Textzeugnisse zum Phänomen Mode, die zwischen Straßburg, Augsburg, Nürnberg, Leipzig und Frankfurt/Oder entstanden sind. Man könnte sagen, es geht um die neuen Paratexte und Parabilder von Mode im sechzehnten Jahrhundert.
Den Auftakt macht das bekannte, spektakuläre Bilderbuch, das der Augsburger Bürgersohn und Buchhalter der Fugger, Matthäus Schwarz (1496 - 1574) mit dreiundzwanzig Jahren 1520 anzulegen begann, parallel zu einer heute verlorenen Autobiographie "Der welt Lauf". In dem Manuskript (heute in Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum) lässt Schwarz sich bis zu seinem Tod mit seinen zu wichtigen Anlässen erworbenen Kleidern abbilden, teils im Abstand von nur einem Monat. Die genau datierten 137 Momentaufnahmen dieses vestimentären Lebenslaufs erinnern unweigerlich an heutige selfies auf einer time-line. Allerdings verlangten die von professionellen Malern gefertigten ganzfigurigen Porträts einen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand. Außerdem ließ Schwartz seine Kindheit und Jugend rückblickend darstellen. Und im Unterschied zu heutigen Sozialen Medien ist darüber nur zu spekulieren, für welches Publikum das "klaydungsbuechlin" eigentlich gedacht war. Dass sein Sohn Veit das Mode-Projekt dann mit einer eigenen illustrierten Autobiographie fortführte, belegt jedenfalls die Bedeutung innerhalb der Familie.
Die Serie von Bildnissen in aufwendiger Kleidung wird im Sommer 1526 von zwei Akt-Darstellungen unterbrochen. Dargestellt ist Matthäus von hinten und von vorne, sein Kommentar dazu vermerkt: "dan ich wart faist und dick worden". Rublack deutet die Bilder als besonders unmittelbare Zeugnisse eines neuzeitlichen Interesses am Ich. Dagegen hat etwa Valentin Groebner zur Vorsicht gemahnt und zu bedenken gegeben, dass der zu diesem Zeitpunkt fast dreißigjährige Matthäus Schwarz auf seinen (idealen) Auferstehungskörper vorausgewiesen haben könnte. Zu überlegen wäre vielleicht eher, ob dieser explizit als zu dick wahrgenommene Körper durch seinen demonstrativen Mangel an Perfektion an die prinzipielle Fehlbarkeit des Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies erinnern sollte. Jedenfalls wurde mit dem menschlichen Abweichen von der göttlichen Schöpfung im Mittelalter die Verschiedenheit und Veränderlichkeit der menschlichen Kulturen insgesamt - voran der Sprachen, Waffen und Kleidung - überhaupt begründet.
Eine solche Spannung zwischen moralischer und sozialer Wertung und interessiertem, dokumentierendem oder schlicht erfreut-beeindrucktem Blick auf Kleidung und Erscheinungsbild scheint für das gesamte sechzehnte Jahrhundert konstitutiv. Das zeigt Rublack in weiteren Kapiteln zu Einsatz, Symbolik und Kritik von Kleidung in den Religionsstreitigkeiten der Zeit, zur Frage nach der Konstruktion und Wahrnehmung nationaler Identität oder zum "bürgerlichen Geschmack". Vor allem aber entstanden im deutschsprachigen Raum auch die ersten Trachtenbücher: Schon um 1530 hatte Hans Weiditz nicht weniger als 154 aquarellierte Federzeichnungen gefertigt, die verschiedene Bekleidungsformen von den heimischen Prälaten bis zu den "Indianern" der Neuen Welt versammelten. Auch wenn sich in anderen solcher Zusammenstellungen abwertende Darstellungsweisen finden, so betont Rublack zurecht, dass insbesondere Weiditz' Tafeln zeigten, "wie ein respektvoller Blick auf den Anderen vor 500 Jahren aussehen konnte".
Rublack liefert eine Fülle von Quellen, Beobachtungen und Ideen, die ihr Buch unbedingt lesenswert machen. Im Unterschied dazu bediente sich Simmel für seine so knappe wie allumfassende Argumentation nur einer Hand voll historischer Verweise. Zwei davon sollten ausgerechnet belegen, dass es in der Renaissance Kleidung jenseits von Mode gegeben habe: nämlich die allesamt in Schwarz gehüllten Patrizier in Venedig und die angeblich hyper-individuell gekleideten Florentiner Männer um 1390, bei denen kein gemeinsamer Geschmack erkennbar sei. So unzureichend diese historischen Detail-Argumente Simmels sind, so sehr hätte man sich von Rublack etwas systematischere Analysen gewünscht, um die Spezifik der Situation im deutschsprachigen Raum und die historischen Veränderungen zwischen 1300 und 1600 für die Geburt der Modeillustration besser einschätzen zu können. ULRICH PFISTERER
Ulinka Rublack: "Die Geburt der Mode". Eine Kulturgeschichte der Renaissance.
Aus dem Englischen von Karin Schuler. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022. 536 S., Abb., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als eine uns geläufige symbolische Praxis sich merklich intensivierte: Ulinka Rublack widmet dem Phänomen der Mode im frühmodernen Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts eine lesenswerte Darstellung.
Mode hat es immer schon gegeben. Jedenfalls behauptete dies Georg Simmel 1905 in seinem klassischen Text zur "Philosophie der Mode". In ihr verdichte sich die grundlegende Spannung von "Egalisierungs- und [...] Individualisierungstrieb" der Menschen, das Bedürfnis nach sozialer Anlehnung versus individueller Abgrenzung. Simmels Vorstellung von sozialen "Klassenmoden" besagt, dass die unteren Schichten gerade im Bereich der Kleidung durch "bloßen Geldeinsatz" und billigeres Imitat die höheren Stände nachahmen können. Daraus folge eine Dynamik des schnellen Wandels, des Sich-Überbietens und Sich-Absetzens: "Die Lebensbedingungen der Mode als einer durchgängigen Erscheinung in der Geschichte unserer Gattung sind hiermit umschrieben."
Wenn es freilich Mode immer schon gegeben hat, wie lässt sich dann von der "Geburt der Mode" sprechen? Unter diesem Titel liegt jetzt eine umfangreiche, reich bebilderte "Kulturgeschichte der Renaissance" von Ulinka Rublack vor, die bereits 2010 auf Englisch erschienen ist. Im Original heißt das Buch wesentlich vorsichtiger "Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe". Tatsächlich bewegen sich die Thesen Rublacks zwischen beiden Titelversionen: Untersucht wird Mode als soziale "symbolische Praxis".
Es geht um Kleidung als Form von Aneignung, Ausdruck und Absicherung einer bestimmten Vorstellung vom Selbst in der Gesellschaft. Es geht um ein Markieren oder Reklamieren von "kultureller Identität", aber auch um ein Bedürfnis nach dem "materiellen Ausdruck neuer Gefühlswelten" und um eine neue Lust am Konsum. Diese "symbolische Praxis" erfuhr in der Renaissance eine entscheidende Intensivierung und Beschleunigung. So sah etwa eine 1596 in Leipzig erlassene Kleiderordnung frustriert von detaillierten Vorschriften ab, gäbe es doch "fast nichts gewisses anzuordnen vnnd fürzuschreiben, alldieweil die Trachten vnd der Zeug bey der Deutschen Nation fast alle Jar vnd also von der einen zur andern sich verändern". Insgesamt konzentriert sich Rublack auf die Situation im "frühmodernen Deutschland". Damit eröffnet sie eine neue Perspektive, haben doch zumindest Deutschlands reformierte Gebiete im sechzehnten. Jahrhundert bislang nicht als Mode-Hotspots gegolten.
Rublacks Buch liefert also keine Entwicklungsgeschichte der Kleiderstile im Zeitraum von 1300 bis 1600. Es untersucht nicht systematisch die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, herstellungstechnischen oder ästhetischen Transformationen und Gründe, warum neue, aufwendige, schnell wechselnde Kleidung in frühmodernen deutschen Landen so wichtig wurde. Und es vergleicht nicht eingehender mit anderen europäischen Mode-Szenen in Italien, Frankreich, Spanien, Burgund oder den Niederlanden. Das Buch konzentriert sich auf eine Reihe außergewöhnlicher Bild- und Textzeugnisse zum Phänomen Mode, die zwischen Straßburg, Augsburg, Nürnberg, Leipzig und Frankfurt/Oder entstanden sind. Man könnte sagen, es geht um die neuen Paratexte und Parabilder von Mode im sechzehnten Jahrhundert.
Den Auftakt macht das bekannte, spektakuläre Bilderbuch, das der Augsburger Bürgersohn und Buchhalter der Fugger, Matthäus Schwarz (1496 - 1574) mit dreiundzwanzig Jahren 1520 anzulegen begann, parallel zu einer heute verlorenen Autobiographie "Der welt Lauf". In dem Manuskript (heute in Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum) lässt Schwarz sich bis zu seinem Tod mit seinen zu wichtigen Anlässen erworbenen Kleidern abbilden, teils im Abstand von nur einem Monat. Die genau datierten 137 Momentaufnahmen dieses vestimentären Lebenslaufs erinnern unweigerlich an heutige selfies auf einer time-line. Allerdings verlangten die von professionellen Malern gefertigten ganzfigurigen Porträts einen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand. Außerdem ließ Schwartz seine Kindheit und Jugend rückblickend darstellen. Und im Unterschied zu heutigen Sozialen Medien ist darüber nur zu spekulieren, für welches Publikum das "klaydungsbuechlin" eigentlich gedacht war. Dass sein Sohn Veit das Mode-Projekt dann mit einer eigenen illustrierten Autobiographie fortführte, belegt jedenfalls die Bedeutung innerhalb der Familie.
Die Serie von Bildnissen in aufwendiger Kleidung wird im Sommer 1526 von zwei Akt-Darstellungen unterbrochen. Dargestellt ist Matthäus von hinten und von vorne, sein Kommentar dazu vermerkt: "dan ich wart faist und dick worden". Rublack deutet die Bilder als besonders unmittelbare Zeugnisse eines neuzeitlichen Interesses am Ich. Dagegen hat etwa Valentin Groebner zur Vorsicht gemahnt und zu bedenken gegeben, dass der zu diesem Zeitpunkt fast dreißigjährige Matthäus Schwarz auf seinen (idealen) Auferstehungskörper vorausgewiesen haben könnte. Zu überlegen wäre vielleicht eher, ob dieser explizit als zu dick wahrgenommene Körper durch seinen demonstrativen Mangel an Perfektion an die prinzipielle Fehlbarkeit des Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies erinnern sollte. Jedenfalls wurde mit dem menschlichen Abweichen von der göttlichen Schöpfung im Mittelalter die Verschiedenheit und Veränderlichkeit der menschlichen Kulturen insgesamt - voran der Sprachen, Waffen und Kleidung - überhaupt begründet.
Eine solche Spannung zwischen moralischer und sozialer Wertung und interessiertem, dokumentierendem oder schlicht erfreut-beeindrucktem Blick auf Kleidung und Erscheinungsbild scheint für das gesamte sechzehnte Jahrhundert konstitutiv. Das zeigt Rublack in weiteren Kapiteln zu Einsatz, Symbolik und Kritik von Kleidung in den Religionsstreitigkeiten der Zeit, zur Frage nach der Konstruktion und Wahrnehmung nationaler Identität oder zum "bürgerlichen Geschmack". Vor allem aber entstanden im deutschsprachigen Raum auch die ersten Trachtenbücher: Schon um 1530 hatte Hans Weiditz nicht weniger als 154 aquarellierte Federzeichnungen gefertigt, die verschiedene Bekleidungsformen von den heimischen Prälaten bis zu den "Indianern" der Neuen Welt versammelten. Auch wenn sich in anderen solcher Zusammenstellungen abwertende Darstellungsweisen finden, so betont Rublack zurecht, dass insbesondere Weiditz' Tafeln zeigten, "wie ein respektvoller Blick auf den Anderen vor 500 Jahren aussehen konnte".
Rublack liefert eine Fülle von Quellen, Beobachtungen und Ideen, die ihr Buch unbedingt lesenswert machen. Im Unterschied dazu bediente sich Simmel für seine so knappe wie allumfassende Argumentation nur einer Hand voll historischer Verweise. Zwei davon sollten ausgerechnet belegen, dass es in der Renaissance Kleidung jenseits von Mode gegeben habe: nämlich die allesamt in Schwarz gehüllten Patrizier in Venedig und die angeblich hyper-individuell gekleideten Florentiner Männer um 1390, bei denen kein gemeinsamer Geschmack erkennbar sei. So unzureichend diese historischen Detail-Argumente Simmels sind, so sehr hätte man sich von Rublack etwas systematischere Analysen gewünscht, um die Spezifik der Situation im deutschsprachigen Raum und die historischen Veränderungen zwischen 1300 und 1600 für die Geburt der Modeillustration besser einschätzen zu können. ULRICH PFISTERER
Ulinka Rublack: "Die Geburt der Mode". Eine Kulturgeschichte der Renaissance.
Aus dem Englischen von Karin Schuler. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022. 536 S., Abb., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ulinka Rublack [gelingt es] stets konkret und anhand von beeindruckendem Bildmaterial zu zeigen, wie der Mensch im Zeitalter der Renaissance immer mehr ins Zentrum rückt. Eine Fülle von Details und das hartnäckige Hinterfragen des allzu Offensichtlichen garantieren eine fundierte Analyse und erhellende Einblicke.« Ralph Gerstenberg, Deutschlandfunk, 18. Juli 2022 Ralph Gerstenberg Deutschlandfunk 20220718