Christopher Baylys weltumspannender Blick auf das Agieren der Staaten, die vielfältigen Ausprägungen von Gesellschaftsordnungen, Religionen und Lebensweisen zeigt auf verblüffende Weise, wie eng schon im 19. Jahrhundert die Entwicklung Europas mit dem Geschehen in den anderen Erdteilen verknüpft war.
Christopher Baylys Gang durch die Universalgeschichte
Heute, sagt Christopher Bayly in seiner gewaltigen Studie über die Geburt der modernen Welt, seien alle Historiker Universalhistoriker. Er selbst hat sich eine herkulische Aufgabe vorgenommen und meistert sie mit Bravour.
Die Universalgeschichte hielt man bis vor kurzer Zeit für eine ausgestorbene Gattung. Sie galt als Inbegriff der vormodernen Historiographie, mit Wurzeln, die man bis zu Adam und Eva zurückverfolgen konnte: Am Anfang war der Pentateuch, die biblische Menschheitsgeschichte von der Schöpfung bis zu Moses Tod. Die Weltchroniken des Mittelalters haben diese Erzählung in einen Heilsplan eingebaut, dessen Dramaturgie ein endzeitliches Reich der Geretteten vorsah. Innerweltlich gewendet, hatte es noch ein spätes Fortleben in den aufklärerischen Träumen vom universalen Vernunftreich und in der marxistischen Phantasie der klassenlosen Gesellschaft. Sobald die Geschichte aber als kritische Wissenschaft auftrat, verweigerte sie sich der Prophetie und gehorchte einer prononcierten Gegendramaturgie. "Universalgeschichte" stand nun für das, was die historische Erkenntnis behinderte: für Deduktion und Spekulation, für Anachronismus und Idealismus. Je weiter die wissenschaftliche Spezialisierung voranschritt, desto mehr wurden alle Formen weltumspannender Darstellungen diesem Urteil unterworfen.
Damit ist es vorbei, seit die Globalisierung zum Wegweiser einer neuen finalen Universalordnung geworden ist. In den Vereinigten Staaten haben Gelehrte rasch reagiert und in den achtziger Jahren ein akademisches Fach mit dem Titel "world history" etabliert. Sie plädieren für eine weiträumige und langzeitliche Betrachtung historischer Prozesse und argumentieren, daß die Geschichte viel länger von Kausalitäten globalen Ausmaßes bestimmt werde, als es die Globalisierungsdebatte suggeriere.
Damit sehen sich spezialisierte Historiker in ihrem Selbstverständnis als Speerspitze der Forschung einem neuen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Ihn zu erhöhen ist das Ziel der gewaltigen Studie von Christopher Bayly über das "lange neunzehnte Jahrhundert" von der Vorgeschichte der amerikanischen Revolution bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges. Bayly, Professor für "British Imperial History" an der Universität Cambridge, hält lakonisch fest: "Heute sind alle Historiker Universalhistoriker, auch wenn viele sich dessen noch nicht bewußt geworden sind." Wie man diese Aussage zu lesen hat, wird nicht ganz klar.
In der gleichen Passage stellt Bayly sein Buch als Experiment darüber vor, "was passiert, wenn wir die Schranken niederreißen, die Historiker zwischen dieser und jener Region oder zwischen dieser und jener Unterdisziplin der Geschichte errichtet haben". Universalgeschichte als Akt der "Dekonstruktion"? Auf den ersten Blick ja. Was spezialisierten Historikern als Grundvoraussetzung seriöser Wissenschaft gilt, die Beschränkung auf einen Ausschnitt der Geschichte, denunziert Bayly als Beschränktheit. Bei genauerem Hinsehen kontrastiert seine Abbruchmetaphorik jedoch mit einem methodischen Vorgehen, das auf Spezialstudien aufbaut und über diesen eine Dachkonstruktion erstellt. Der Autor beißt die Hand, die ihn füttert; insofern könnte man sagen: Heute sind alle Universalhistoriker Regionalhistoriker, auch wenn viele sich dessen nicht bewußt sind. Wirklich zu überzeugen vermag Baylys Kritik da, wo er sie auf jene Mikrohistoriker münzt, die alle großen Erzählungen der Komplizenschaft mit den "Siegern der Geschichte" anklagen und sich der Betrachtung des Belanglosen hingeben, ohne für vergleichende Perspektiven eine Hilfestellung zu geben.
Das Versprechen einer Universalgeschichte jedoch wird von Bayly mehr als eingelöst. Was er bietet, ist eine Leistung der eher unheimlichen Art. Eine hundertvierzigjährige Periode unerhörten Wandels im globalen Zusammenhang darzustellen, war ihm nicht Herausforderung genug, er wählte den totalen wissenschaftlichen Zugriff - sozial-, kultur-, wirtschafts-, verfassungs-, wissenschafts-, religions-, literatur- und kunstgeschichtlich. Mit dieser herkulischen Aufgabe scheint der Autor sich nicht überfordert zu haben; daß man dasselbe von den Lesern sagen kann, ist zu bezweifeln.
Baylys Bemühen, die Moderne als Produkt globaler Abhängigkeitsgeflechte und die Geschichte der Modernisierungstheorie als eurozentrischen Irrweg auszuweisen, zwingt zu einer Argumentation an der Grenze der Darstellbarkeit. Die Kausalitäten erreichen eine Komplexität, die kaum noch zu vermitteln ist und daher nur selten über den Status von Behauptungen hinausgelangt. Auch Baylys klare Sprache und sein Reflexionsniveau verhindern nicht, daß er den Bogen von einer gewissen Stufe an überspannt. Bei der Herleitung der modernen wirtschaftlichen Dynamik etwa kann er überzeugend darlegen, daß die Industrialisierung erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu einem entscheidenden Faktor wurde.
Zentrale Bedeutung kommt deshalb seinem Argument einer der industriellen Revolution vorgelagerten "industrious revolution", einer Revolution des Fleißes, zu. Diese von Jan de Vries für den nordwesteuropäischen Wirtschaftsraum von 1650 bis 1850 eingeführte Kategorie will Bayly als globales Phänomen verstanden wissen. Von Japan über China und Indien bis nach Afrika versucht er Formen höherer Produktivität und intensiverer Arbeitstätigkeit nachzuweisen und die Einzigartigkeit der europäischen Entwicklung auf ein Minimum zu reduzieren.
Im Gegensatz zu de Vries, dem er ein "zahmes und hausbackenes" Verständnis der Revolution des Fleißes unterstellt, vermag Bayly aber nicht zu erklären, warum und wie dieser Prozeß in getrennten Kulturräumen zeitgleich in Gang gekommen sein soll und letztlich auf eine Überlegenheit des Westens hinauslief. Dasselbe Problem stellt sich bei seinen Versuchen, einen kausalen Zusammenhang zwischen den 1848-Revolutionen in Europa und einer Aufstandskaskade in Süd- und Ostasien herzustellen sowie die Nationalisierung der Weltkarte als einen nur partiell von Europa initiierten Vorgang auszuweisen.
Die Stärken des Buches liegen dort, wo Bayly kausale Erklärungen zurückstellt und allgemeine Entwicklungen weniger ambitiös anhand von generalisierenden Vergleichen beschreibt. Seine Ausführungen über die Modernisierung der "Weltreligionen" bilden eine gelungene Gegengeschichte zur "Entzauberung der Welt" im neunzehnten Jahrhundert, und der weltweite Vergleich der Kriegskulturen fördert eine europäische "Errungenschaft" zutage: die Effizienz des Tötens.
Dank solcher Passagen tritt die Globalisierung in Baylys Werk plastisch als doppelgesichtige Erscheinung hervor. Horizontal gesehen, stellt sie eine Geschichte der kulturellen Verarmung dar, indem sie alle Weltregionen einander angleicht. Am auffälligsten dürfte die Uniformisierung der Kleider gewesen sein, wobei Bayly darauf hinweist, daß sie bei Männern viel schneller voranschritt als bei Frauen. War moderne Kleidung an Männern ein Statussymbol, so an Frauen ein Ausdruck der Gefährdung: "Modernität, zugleich ein gefährlicher Prozeß und ein gefährliches Bestreben, schien für Männer geeigneter zu sein als für Frauen."
Vertikal gesehen, steht die Globalisierung dagegen für höhere Differenzierung und Komplexität; sie vergrößert die Unterschiede in einer Gesellschaft, vervielfacht die Auswahl an Lebensentwürfen und potenziert die Mobilität. Besonders beachtenswert ist Baylys Beobachtung, daß die kurz- und langfristigen Profiteure dieser Umwälzungen in der Regel die alten Eliten gewesen seien, in Europa Könige, Adlige und Priester. Wegen Baylys Mut zu solch pointierten Globalannahmen möchte man seine Universalgeschichte nicht missen.
CASPAR HIRSCHI
Christopher A. Bayly: "Die Geburt der modernen Welt". Eine Globalgeschichte 1780-1914. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006. 700 S., geb., 59,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Großen Eindruck hat Christopher Baylys Globalgeschichte bei Balthasar Haussmann hinterlassen. Dem Historiker gelinge eine überzeugende Schilderung der "Geburt der modernen Welt" als globalgeschichtlicher Vorgang und damit die Verabschiedung des traditionellen Bilds, nach dem die Geschichte ihren Ausgang in Europa nahm und sich von dort aus über die restliche Welt verbreitete. Bayly weise nach, dass die Moderne der Welt nicht von Europa aufgezwungen wurde, sondern sich in vielen Ländern mit indigenen Entwicklungen herausbildete. Balthasar bescheinigt dem Werk, ein neues Geschichtsbild geschaffen zu haben. Man werde nach der Lektüre "nie mehr anders als weltgeschichtlich über Europa nachdenken können". Demgegenüber fallen die Schwächen des Buchs - sein bisweilen mühsamer Stil, die "lieblose Übersetzung", die voraussetzungsreiche Darstellung - seines Erachtens kaum ins Gewicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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