Günter Kunert ist ein Chronist der besonderen Art. Er übermittelt uns erstaunliche Nachrichten aus Osmosistan und Dahlak; so heißen zwei obskure Länder, zwischen denen seltsame Schiffsladungen mit (zumeist wenig brauchbaren) Bügelmaschinen unterwegs sind, und die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie sind ebenso Erfindungen des Autors wie zahllose Sprichwörter und Lebensweisheiten, die gleichwohl immer wieder bekannten Persönlichkeiten oder Schriftstellern untergeschoben werden. Man erkennt noch die Herkunft, aber sie sind nicht selten ins Überraschende und Gegenläufige, Surreale gewendet, denn 'nach Adam Ries gibt es auch für Mathematiker eine Verführung, zu beweisen, dass zweimal zwei fünf ist'. Meldungen aus der Ferne und Beobachtungen in der Nähe werden in Kunerts Fantasie verwandelt und ironisch, satirisch, grotesk verzerrt und voller Spaß und Unernst dargeboten. 1964 hat der Autor diese Aufzeichnungen begonnen, nicht zuletzt, um sich auf diese Weise einen 'Emergency Exit' aus beengten Verhältnissen zu schaffen und ihnen eine komische und irreale Seite abzugewinnen. Entstanden ist eine Sammlung von Einfällen, kurzen Betrachtungen, Späßen, verzerrten Perspektiven, mikroskopischen Durchblicken, Momentaufnahmen, Spott und Hohn.Man liest und staunt. Tatsächlich: Günter Kunert ist der bedeutendste literarische Essayist unter den deutschen Literaten der Gegenwart. Sensibel, aber nie sentimental. Lakonisch aus Genauigkeit. Und was selten ist: Tapfer vor dem Freund.Christian Eger, Mitteldeutsche Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2011Kunerts Sudelbücher
Günter Kunerts Domänen sind neben der Lyrik kleine literarische Formen wie Essays, Feuilletons, Porträts, Aphorismen. Von den rund 10 000 vorhandenen Notaten und Tagesskizzen erscheinen jetzt nach und nach Auswahlausgaben, etwa als "Nachrichten aus Ambivalencia" (2001) - sehr passend in der Reihe "Göttinger Sudelblätter". Nicht weniger lichtenbergisch geht es nun im gleichen Verlag um "Die Geburt der Sprichwörter": Zu beobachten ist ein geistreicher Schalk und Wortakrobat, der gegen den Strich denkt und schreibt. Neben Reflexionen und Traumerzählungen - von mehr als sprichwörtlicher Länge - finden sich überall funkelnde Pointen und Aperçus, glückliche Wortschöpfungen ("Negationsrat") und zurechtgebogene Zitate ("Geballte Fäuste arbeiten nicht, Karl Marx"), Nachdenkliches und Keckes ("Wo geglaubt wird, fallen Späne! Pius X."), Schräges ("Skrupelose ist eine eingebildete Krankheit") und Kalauerndes ("Sich der Gewohnheit entwöhnen"). Kunert will sich dem alten Magister Tinius anverwandeln, der zwar nicht mehr für Bücher mordet, aber Gedanken vollstreckt. Aus dem alten Bibliomanen ist ein neuer Logomane und Kognitomane geworden. (Günter Kunert: "Die Geburt der Sprichwörter". Wallstein Verlag, Göttingen, 142 S., geb., 17,90 [Euro].) kos
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Günter Kunerts Domänen sind neben der Lyrik kleine literarische Formen wie Essays, Feuilletons, Porträts, Aphorismen. Von den rund 10 000 vorhandenen Notaten und Tagesskizzen erscheinen jetzt nach und nach Auswahlausgaben, etwa als "Nachrichten aus Ambivalencia" (2001) - sehr passend in der Reihe "Göttinger Sudelblätter". Nicht weniger lichtenbergisch geht es nun im gleichen Verlag um "Die Geburt der Sprichwörter": Zu beobachten ist ein geistreicher Schalk und Wortakrobat, der gegen den Strich denkt und schreibt. Neben Reflexionen und Traumerzählungen - von mehr als sprichwörtlicher Länge - finden sich überall funkelnde Pointen und Aperçus, glückliche Wortschöpfungen ("Negationsrat") und zurechtgebogene Zitate ("Geballte Fäuste arbeiten nicht, Karl Marx"), Nachdenkliches und Keckes ("Wo geglaubt wird, fallen Späne! Pius X."), Schräges ("Skrupelose ist eine eingebildete Krankheit") und Kalauerndes ("Sich der Gewohnheit entwöhnen"). Kunert will sich dem alten Magister Tinius anverwandeln, der zwar nicht mehr für Bücher mordet, aber Gedanken vollstreckt. Aus dem alten Bibliomanen ist ein neuer Logomane und Kognitomane geworden. (Günter Kunert: "Die Geburt der Sprichwörter". Wallstein Verlag, Göttingen, 142 S., geb., 17,90 [Euro].) kos
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'Gerade ihr fragmentarischer Charakter macht diese 'zersplitterten Gesten' zu Indizien für die inneren Abläufe jenes fortwährenden Schöpfungsprozesses, aus dem Günter Kunerts gesamtes Werk hervorgegangen ist.'(Ulrich Baron, Süddeutsche Zeitung,