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Der Autor begibt sich in diesem Buch auf die Suche nach dem Ursprung der Wissenschaft, und er lokalisiert ihre Geburtsstätte in den antiken Reichen des Vorderen Orients - in Mesopotamien und Ägypten - ebenso wie im vorsokratischen Griechenland.

Produktbeschreibung
Der Autor begibt sich in diesem Buch auf die Suche nach dem Ursprung der Wissenschaft, und er lokalisiert ihre Geburtsstätte in den antiken Reichen des Vorderen Orients - in Mesopotamien und Ägypten - ebenso wie im vorsokratischen Griechenland.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.1995

Hellas, Hellas über alles
In André Pichots Frühgeschichte der Wissenschaft wird die Leistung des Orients unterschätzt

Es gibt grundsätzlich zwei Arten, eine Geschichte des Wissens vor dem Zeitalter der Wissenschaft zu schreiben. Die eine beschreibt, was die Gesellschaften dieser Phase als "Wissen" verstanden und überlieferten; die andere schreibt eine Vorgeschichte dessen, was dann später im Zeitalter der Wissenschaft unter Wissen verstanden wird. André Pichot hat (ohne dies allerdings zu begründen) den zweiten Weg beschritten. Was in diesem stark eingeschränkten Blickwinkel als Vorgeschichte der Wissenschaft sichtbar wird, sind Mathematik, Astronomie und Medizin. Der Leser erfährt, was die Babylonier und die Ägypter "auch schon" bzw. "noch nicht" wußten. Die Geschichte des Wissens erscheint dabei in einer evolutionistischen Perspektive, die alles auf den entscheidenden Strukturwandel des Wissens im Griechenland des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts bezieht. Dieser Strukturwandel vom "Weg der Gegenstände" zum "Weg des wissenschaftlichen Denkens" oder, mit Blumenberg zu reden, von der "praktischen" zur "theoretischen Neugierde" und die Frage nach den kulturellen Bedingungen seiner Möglichkeit bilden das Thema dieses Buchs.

Weite Gebiete dessen, was etwa im alten Ägypten als Wissen galt, bleiben in dieser Darstellung unberücksichtigt. Dazu gehören Onomastik (die Ordnung der Begriffe und ihre hieroglyphische Repräsentation), Kosmologie, insbesondere das Wissen über die Unterwelt, Theologie, Ethik (das Wissen über die Normen des Zusammenlebens), Mantik (Wahrsagekunst, die in Ägypten im Vergleich zu Babylonien eine vergleichsweise geringe Rolle spielte), Rechtswissenschaft (auch dies in Babylonien weiter entwickelt als in Ägypten), Geographie, Tempeldekoration und vieles andere mehr, was in Traktaten und Handbüchern als wichtiges Wissen behandelt wird.

Sieht man einmal von dem Reduktionismus eines Zugangs ab, der nur das als "Wissen" gelten läßt, was als Gegenstandsbereich abendländischer Wissenschaft weiterlebt, und all das ausblendet, was im Abendland keine Fortsetzung findet, dann muß man feststellen, daß der Leser innerhalb der so gezogenen Grenzen außerordentlich zuverlässig und anschaulich informiert wird. Hier bemüht sich Pichot, der Eigenart vorwissenschaftlicher Wissensformen gerecht zu werden: Kasuistik statt Systematik, konkrete Fälle anstatt abstrakter Prinzipien, praxisbezogene Fragestellungen anstatt theoretischer Probleme. Die evolutionistische Perspektive wirkt sich allerdings in der Konstruktion einer Tendenz vom Mythos zum Logos oder vom magischen zum vernunftgeleiteten Handeln aus, die der Chronologie der Texte nicht gerecht wird. Weder läßt sich in der babylonischen Mathematik ein Abnehmen von "Zahlenmystik" zugunsten rationaler Rechenoperationen noch eine Entwicklung von Astrologie zu Astronomie, noch in der ägyptischen Medizin eine Tendenz zur Eliminierung der magischen Elemente feststellen. Das genaue Gegenteil ist vielmehr der Fall. Die magischen, mythischen und mystischen Aspekte des Wissens erleben sogar im Synkretismus des Hellenismus und der Spätantike eine besondere Blüte und kommen deshalb in der Renaissance zu neuer Geltung. Für Pichot handelt es sich hier freilich nicht um Aspekte des Wissens, sondern um dessen Gegenteil.

Das Hauptinteresse des Buches gilt freilich nicht der Evolution, sondern der Revolution. Wie kam es zu dieser Weltrevolution des Geistes, die den "Weg des wissenschaftlichen Denkens" eröffnete und damit (angeblich) Mythos, Magie und Mystik ein Ende bereitete? Pichots Antwort besteht in der Rekonstruktion eines historischen Kontexts, in dem sich eine vergleichbare Wende auf drei anderen kulturellen Feldern ereignete: Wirtschaft, Kommunikation und Politik. In der Wirtschaft kommt es zum Wechsel von Tauschwirtschaft zu Geldwirtschaft, in der Kommunikation zum Wechsel von ideographischen Schriftsystemen zur Alphabetschrift und in der Politik zur Wende von der Monarchie zur Demokratie. Überall wird etwas Konkretes durch etwas Abstraktes ersetzt: der Tauschwert durch den Geldwert, der Bildwert durch den Lautwert und die im Monarchen verkörperte Macht durch die Macht der Gesetze. Das wissenschaftliche Denken verdankt sich derselben Abstraktionsleistung.

Bei aller Bewunderung für die Großartigkeit solcher Zusammenhänge und für Pichots Leistung, einen trockenen Stoff in so eminent lesbarer Form darzustellen, ist der naive Eurozentrismus dieser Perspektive einem Orientalisten schwer erträglich. Die Demokratie ist zwar nicht in Israel erfunden worden; aber die Auslagerung der im Monarchen verkörperten Macht in ein Korpus von Gesetzen ist der Sinn der Thora. Zwar haben weder Babylonien noch Ägypten das Geld erfunden. Aber die Vorstellung, hier habe die Wirtschaft auf Tauschhandel basiert, ist ganz abwegig. Die entscheidende Alternative im Bereich der Wirtschaft ist nicht Tauschhandel/Geldwirtschaft, sondern Marktwirtschaft/Versorgungswirtschaft. Babylonien und Ägypten beruhten auf Versorgungswirtschaft. Hier kommt es auf stabile Wertmesser für die Berechnung von Steuern und Versorgungsleistungen an. Beide Kulturen haben früh prämonetäre Wertmesser entwickelt, die den Bedürfnissen einer Versorgungswirtschaft vollauf genügten. Was die Schrift angeht, genügt der Hinweis auf die schlichte Tatsache, daß die phönizische Schrift eine Alphabetschrift ist. An der Frage der Vokale, die erst von der griechischen, nicht von der phönizischen Schrift notiert werden, läßt sich keine intellektuelle Revolution festmachen. Die Juden und Araber haben den Griechen auf dem Weg des wissenschaftlichen Denkens bis heute auch ohne Vokalschreibung erfolgreich folgen können.

Man wird sich daher mit Pichots Antwort auf die Frage nach den kulturellen Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlichen Denkens nicht zufriedengeben. Das ändert aber nichts an der großen Leistung, diese Frage dem heutigen Leser so kenntnisreich und anschaulich vor Augen gestellt zu haben. JAN ASSMANN

André Pichot: "Die Geburt der Wissenschaft". Von den Babyloniern zu den frühen Griechen. Aus dem Französischen von Siglinde Summerer und Gerda Kurz. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 1995. 576 S., graph. Darstellungen, geb., 98,- DM.

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