Carlo Rovelli setzt der griechischen Antike ein Denkmal: als Geburtsstunde der modernen Wissenschaft. Was als sorgsame Biographie des Forschers Anaximander beginnt, entwickelt sich gleichsam zu einer Biographie der Wissenschaft selbst und den großen Fragen, mit der sie sich beschäftigt. Rovelli beschreibt Anaximander von Milet als Urvater der Wissenschaft und verfolgt seinen Einfluss auf die folgende Geschichte der Naturwissenschaft.
Anaximander lebte vor 2600 Jahren und war der Lehrer von Pythagoras. Er war der erste Astronom, der die Bewegung der Gestirne rational studiert und versuchte, sie in einem geometrischen Modell wiederzugeben. Auch war er der erste, von den man weiß, dass er die Erde in Bewegung durch den Raum begriff. Von ihm ging die Bezeichnung der Welt als Kosmos und ihre Erfassung als ein planvoll geordnetes Ganzes aus und damit die Idee, dass die Welt auch ohne Rückgriff auf Götter verständlich und erklärbar ist - eine Revolution des Denkens. Anaximander entwarf das Programm, aus dem sich bis heute der westliche Wissenschaftsansatz entwickelt.
Rovelli reflektiert in diesem Buch über das Verhältnis des Sichtbaren und Unsichtbaren, die Naturgesetze, Wahrheit und Wirklichkeit - und darüber, was überhaupt Wissenschaft ist, ihre Möglichkeiten und Grenzen und was sie für ihn selbst bedeutet. Um die Welt zu verstehen, schreibt er, ist es möglich und notwendig zu erkennen, dass unser Bild der Welt falsch sein kann und dass wir es korrigieren können.
Anaximander lebte vor 2600 Jahren und war der Lehrer von Pythagoras. Er war der erste Astronom, der die Bewegung der Gestirne rational studiert und versuchte, sie in einem geometrischen Modell wiederzugeben. Auch war er der erste, von den man weiß, dass er die Erde in Bewegung durch den Raum begriff. Von ihm ging die Bezeichnung der Welt als Kosmos und ihre Erfassung als ein planvoll geordnetes Ganzes aus und damit die Idee, dass die Welt auch ohne Rückgriff auf Götter verständlich und erklärbar ist - eine Revolution des Denkens. Anaximander entwarf das Programm, aus dem sich bis heute der westliche Wissenschaftsansatz entwickelt.
Rovelli reflektiert in diesem Buch über das Verhältnis des Sichtbaren und Unsichtbaren, die Naturgesetze, Wahrheit und Wirklichkeit - und darüber, was überhaupt Wissenschaft ist, ihre Möglichkeiten und Grenzen und was sie für ihn selbst bedeutet. Um die Welt zu verstehen, schreibt er, ist es möglich und notwendig zu erkennen, dass unser Bild der Welt falsch sein kann und dass wir es korrigieren können.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Der Stoff, aus dem die Welt ist
Nach der Ordnung der Zeit: Der Physiker Carlo Rovelli huldigt dem Vorsokratiker Anaximander als antikem Ahnherrn der Naturwissenschaft.
Von Ulf von Rauchhaupt
Seit wann gibt es Wissenschaft? Von allen Ursprungsfragen ist diese vielleicht die mit dem breitesten Spektrum begründbarer Antworten. Sie reichen von Newton über Galilei bis in die Altsteinzeit, wo etwa der Südafrikaner Louis Liebenberg die Anfänge methodischer Hypothesenbildung verortete, nachdem er in der Kalahari bei Jägern und Sammlern deren Spurenlesekunst studiert hatte.
Für den Italiener Carlo Rovelli, prominenter theoretischen Physiker an der Universität Aix-Marseille mit reger populärwissenschaftlicher Publikationstätigkeit, begann die Wissenschaft mit dem Griechen Anaximander, der etwa 610 bis 546 v. Chr. in Milet lebte. Nun fängt zwar auch manches Schulbuch seine historischen Vorbemerkungen mit jemandem aus Milet an, doch ist das der etwa fünfzehn Jahre ältere Thales, dem laut Herodot die erste Vorhersage einer Sonnenfinsternis gelang. Anaximander ist dann, wenn überhaupt, nur als Schüler des Thales und älterer Zeitgenosse des Anaximenes erwähnt. Dieses Trio bestreitet gewöhnlich das erste Kapitel vieler Einführungen in die Philosophiegeschichte. Klausurrelevant ist zumeist nur, dass alle drei Herren hinter jeglichen Naturdingen einen einzigen Urstoff vermutet hatten, allerdings jeweils einen anderen: Thales das Wasser, Anaximenes die Luft und Anaximander etwas, das er "to apeiron" nannte, das Unbegrenzte.
Es ist ein Verdienst Rovellis, Anaximander einmal für einen breiteren Leserkreis aus dieser propädeutischen Ecke herauszuholen. Zwar sind dessen Schriften bis auf einen einzigen Satz verloren, was sich aber aus Erwähnungen späterer Autoren rekonstruieren lässt, scheint durchaus zu rechtfertigen, ihn - und nicht Thales - an den Anfang einer Wissenschaftsgeschichte zu stellen. So war Anaximander der Erste, der sich die Erde als frei schwebenden Körper vorstellte, wenn auch noch nicht als Kugel. Weiter scheint er als Erster versucht zu haben, eine Weltkarte zu zeichnen, und er hatte bereits die Idee, dass Sterne, Mond und Sonne in verschiedenen Entfernungen kreisen. Aus heutiger Sicht besonders ingeniös erscheint Anaximanders Annahme nicht nur eines Beginns des Lebens im Meer, sondern auch eines Ursprungs der Menschen in fischartigen Meerestieren.
Natürlich weiß auch Rovelli um die Unzulässigkeit, dergleichen allein deswegen als "wissenschaftlich" zu bejubeln, weil es zufällig an heutiges Wissen erinnert. Eher schon verdient es diesen Titel, wenn es mit Argumenten dafür verknüpft ist, warum die Welt nicht so ist, wie die unreflektierte Alltagserfahrung es oft nahelegt. Und tatsächlich ist Rovellis Buch dort am stärksten, wo es derlei aufweist. Etwa die Idee der frei schwebenden Erde, die sich aus dem Gedanken ergibt, dass die Auszeichnung von "oben" und "unten" auf der Erdoberfläche ja nicht bedeutet, auch der Kosmos als Ganzer müsse eine ausgezeichnete Richtung haben. Die Parallelen zu späteren Überwindungen von Alltagserfahrungen, etwa bei Kopernikus oder Einstein, liegen nahe und werden ausführlich gezogen - denn natürlich ist die Wissenschaft, die Rovelli hier verhandelt, in erster Linie Naturwissenschaft, das heißt Physik, die er bei der Gelegenheit auch gleich vor seiner Meinung nach bedenklichen "positivistischen" Tendenzen zu bewahren sucht. Leser, welche die dahinter stehenden Debatten um das Verständnis der Quantenphysik nicht kennen, werden mit diesen Spitzen kaum viel anfangen können, während jene, die sich vielleicht einen neuen, vorsokratisch inspirierten Blick auf sie erhoffen, etwas enttäuscht sein werden.
Dafür huldigt der Marseiller Physikprofessor mit radikaler Studentenvergangenheit Anaximander ausführlich für die Bedeutung, die er ihm als Pionier der Einsicht in gesellschaftliche Voraussetzungen von Wissenschaft zumisst. Indem Anaximander nämlich seinem Lehrer Thales in der Urstoff-Frage widersprach, sei bei den alten Griechen etwas Bahnbrechendes passiert, was anderswo ausblieb, meint Rovelli: Der kritische Umgang mit dem Überlieferten trat in die Welt. Das erkläre dann etwa, warum die Erde für die Chinesen scheibenförmig blieb, bis Jesuiten ihnen im siebzehnten Jahrhundert die westliche Astronomie brachten. Hier aber begibt sich Rovelli auf ähnlich dünnes Eis wie zuvor bei seinem Versuch, den Beginn der Wissenschaft aus der politischen Situation im antiken Griechenland zu erklären, oder bei seinen Einlassungen zum angeblich strukturell wissensfeindlichen Charakter von Mythos und Religion. Dabei steht der anekdotische, zumindest unterkomplexe Umgang mit historischen Zusammenhängen in Kontrast zu den soliden physikphilosophischen Anmerkungen des Autors.
Anaximander Etikette wie "naturalistisch" und erst recht das Kampf-Adjektiv "rational" anzukleben ist auf jeden Fall problematisch. So ist es unter Philosophiehistorikern durchaus nicht ausgemacht, dass Anaximander sein "apeiron" nicht ebenso als etwas Göttliches begriffen hat wie später Aristoteles, der ihn in diesem Zusammenhang erwähnt. Heikel wird es auch, wo Rovelli jenen einzigen erhaltenen Originalsatz des Anaximander interpretiert. Der spätantike Philosoph Simplikios überliefert ihn, als er seinerseits Theophrast, den Schüler des Aristoteles, zitiert: "Und aus welchen Dingen die seienden Dinge entstehen, dort hinein vergehen sie auch, wie es sein muss. Denn sie zahlen einander gerechte Strafe für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit."
"Etwas poetisch" nannte schon Theophrast diese Worte, wovon sich Rovelli aber nicht abschrecken lässt und darin die erste Feststellung der Existenz von Naturgesetzen erkennt, denen die zeitlichen Abläufe der Dinge unterworfen sind. Das mag man so lesen, begibt sich dann aber in genau die Gefahr, vor der schon der große Altphilologe Werner Jaeger die Kommentatoren der Naturlehre des Milesiers warnte: eine Ähnlichkeit zwischen Anaximander und dem zu sehen, was man selbst an der modernen Wissenschaft für wichtig hält.
Carlo Rovelli: "Die Geburt der Wissenschaft". Anaximander und sein Erbe.
Aus dem Französischen von Monika Niehaus. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 232 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach der Ordnung der Zeit: Der Physiker Carlo Rovelli huldigt dem Vorsokratiker Anaximander als antikem Ahnherrn der Naturwissenschaft.
Von Ulf von Rauchhaupt
Seit wann gibt es Wissenschaft? Von allen Ursprungsfragen ist diese vielleicht die mit dem breitesten Spektrum begründbarer Antworten. Sie reichen von Newton über Galilei bis in die Altsteinzeit, wo etwa der Südafrikaner Louis Liebenberg die Anfänge methodischer Hypothesenbildung verortete, nachdem er in der Kalahari bei Jägern und Sammlern deren Spurenlesekunst studiert hatte.
Für den Italiener Carlo Rovelli, prominenter theoretischen Physiker an der Universität Aix-Marseille mit reger populärwissenschaftlicher Publikationstätigkeit, begann die Wissenschaft mit dem Griechen Anaximander, der etwa 610 bis 546 v. Chr. in Milet lebte. Nun fängt zwar auch manches Schulbuch seine historischen Vorbemerkungen mit jemandem aus Milet an, doch ist das der etwa fünfzehn Jahre ältere Thales, dem laut Herodot die erste Vorhersage einer Sonnenfinsternis gelang. Anaximander ist dann, wenn überhaupt, nur als Schüler des Thales und älterer Zeitgenosse des Anaximenes erwähnt. Dieses Trio bestreitet gewöhnlich das erste Kapitel vieler Einführungen in die Philosophiegeschichte. Klausurrelevant ist zumeist nur, dass alle drei Herren hinter jeglichen Naturdingen einen einzigen Urstoff vermutet hatten, allerdings jeweils einen anderen: Thales das Wasser, Anaximenes die Luft und Anaximander etwas, das er "to apeiron" nannte, das Unbegrenzte.
Es ist ein Verdienst Rovellis, Anaximander einmal für einen breiteren Leserkreis aus dieser propädeutischen Ecke herauszuholen. Zwar sind dessen Schriften bis auf einen einzigen Satz verloren, was sich aber aus Erwähnungen späterer Autoren rekonstruieren lässt, scheint durchaus zu rechtfertigen, ihn - und nicht Thales - an den Anfang einer Wissenschaftsgeschichte zu stellen. So war Anaximander der Erste, der sich die Erde als frei schwebenden Körper vorstellte, wenn auch noch nicht als Kugel. Weiter scheint er als Erster versucht zu haben, eine Weltkarte zu zeichnen, und er hatte bereits die Idee, dass Sterne, Mond und Sonne in verschiedenen Entfernungen kreisen. Aus heutiger Sicht besonders ingeniös erscheint Anaximanders Annahme nicht nur eines Beginns des Lebens im Meer, sondern auch eines Ursprungs der Menschen in fischartigen Meerestieren.
Natürlich weiß auch Rovelli um die Unzulässigkeit, dergleichen allein deswegen als "wissenschaftlich" zu bejubeln, weil es zufällig an heutiges Wissen erinnert. Eher schon verdient es diesen Titel, wenn es mit Argumenten dafür verknüpft ist, warum die Welt nicht so ist, wie die unreflektierte Alltagserfahrung es oft nahelegt. Und tatsächlich ist Rovellis Buch dort am stärksten, wo es derlei aufweist. Etwa die Idee der frei schwebenden Erde, die sich aus dem Gedanken ergibt, dass die Auszeichnung von "oben" und "unten" auf der Erdoberfläche ja nicht bedeutet, auch der Kosmos als Ganzer müsse eine ausgezeichnete Richtung haben. Die Parallelen zu späteren Überwindungen von Alltagserfahrungen, etwa bei Kopernikus oder Einstein, liegen nahe und werden ausführlich gezogen - denn natürlich ist die Wissenschaft, die Rovelli hier verhandelt, in erster Linie Naturwissenschaft, das heißt Physik, die er bei der Gelegenheit auch gleich vor seiner Meinung nach bedenklichen "positivistischen" Tendenzen zu bewahren sucht. Leser, welche die dahinter stehenden Debatten um das Verständnis der Quantenphysik nicht kennen, werden mit diesen Spitzen kaum viel anfangen können, während jene, die sich vielleicht einen neuen, vorsokratisch inspirierten Blick auf sie erhoffen, etwas enttäuscht sein werden.
Dafür huldigt der Marseiller Physikprofessor mit radikaler Studentenvergangenheit Anaximander ausführlich für die Bedeutung, die er ihm als Pionier der Einsicht in gesellschaftliche Voraussetzungen von Wissenschaft zumisst. Indem Anaximander nämlich seinem Lehrer Thales in der Urstoff-Frage widersprach, sei bei den alten Griechen etwas Bahnbrechendes passiert, was anderswo ausblieb, meint Rovelli: Der kritische Umgang mit dem Überlieferten trat in die Welt. Das erkläre dann etwa, warum die Erde für die Chinesen scheibenförmig blieb, bis Jesuiten ihnen im siebzehnten Jahrhundert die westliche Astronomie brachten. Hier aber begibt sich Rovelli auf ähnlich dünnes Eis wie zuvor bei seinem Versuch, den Beginn der Wissenschaft aus der politischen Situation im antiken Griechenland zu erklären, oder bei seinen Einlassungen zum angeblich strukturell wissensfeindlichen Charakter von Mythos und Religion. Dabei steht der anekdotische, zumindest unterkomplexe Umgang mit historischen Zusammenhängen in Kontrast zu den soliden physikphilosophischen Anmerkungen des Autors.
Anaximander Etikette wie "naturalistisch" und erst recht das Kampf-Adjektiv "rational" anzukleben ist auf jeden Fall problematisch. So ist es unter Philosophiehistorikern durchaus nicht ausgemacht, dass Anaximander sein "apeiron" nicht ebenso als etwas Göttliches begriffen hat wie später Aristoteles, der ihn in diesem Zusammenhang erwähnt. Heikel wird es auch, wo Rovelli jenen einzigen erhaltenen Originalsatz des Anaximander interpretiert. Der spätantike Philosoph Simplikios überliefert ihn, als er seinerseits Theophrast, den Schüler des Aristoteles, zitiert: "Und aus welchen Dingen die seienden Dinge entstehen, dort hinein vergehen sie auch, wie es sein muss. Denn sie zahlen einander gerechte Strafe für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit."
"Etwas poetisch" nannte schon Theophrast diese Worte, wovon sich Rovelli aber nicht abschrecken lässt und darin die erste Feststellung der Existenz von Naturgesetzen erkennt, denen die zeitlichen Abläufe der Dinge unterworfen sind. Das mag man so lesen, begibt sich dann aber in genau die Gefahr, vor der schon der große Altphilologe Werner Jaeger die Kommentatoren der Naturlehre des Milesiers warnte: eine Ähnlichkeit zwischen Anaximander und dem zu sehen, was man selbst an der modernen Wissenschaft für wichtig hält.
Carlo Rovelli: "Die Geburt der Wissenschaft". Anaximander und sein Erbe.
Aus dem Französischen von Monika Niehaus. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 232 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Stoff, aus dem die Welt ist
Nach der Ordnung der Zeit: Der Physiker Carlo Rovelli huldigt dem Vorsokratiker Anaximander als antikem Ahnherrn der Naturwissenschaft.
Von Ulf von Rauchhaupt
Seit wann gibt es Wissenschaft? Von allen Ursprungsfragen ist diese vielleicht die mit dem breitesten Spektrum begründbarer Antworten. Sie reichen von Newton über Galilei bis in die Altsteinzeit, wo etwa der Südafrikaner Louis Liebenberg die Anfänge methodischer Hypothesenbildung verortete, nachdem er in der Kalahari bei Jägern und Sammlern deren Spurenlesekunst studiert hatte.
Für den Italiener Carlo Rovelli, prominenter theoretischen Physiker an der Universität Aix-Marseille mit reger populärwissenschaftlicher Publikationstätigkeit, begann die Wissenschaft mit dem Griechen Anaximander, der etwa 610 bis 546 v. Chr. in Milet lebte. Nun fängt zwar auch manches Schulbuch seine historischen Vorbemerkungen mit jemandem aus Milet an, doch ist das der etwa fünfzehn Jahre ältere Thales, dem laut Herodot die erste Vorhersage einer Sonnenfinsternis gelang. Anaximander ist dann, wenn überhaupt, nur als Schüler des Thales und älterer Zeitgenosse des Anaximenes erwähnt. Dieses Trio bestreitet gewöhnlich das erste Kapitel vieler Einführungen in die Philosophiegeschichte. Klausurrelevant ist zumeist nur, dass alle drei Herren hinter jeglichen Naturdingen einen einzigen Urstoff vermutet hatten, allerdings jeweils einen anderen: Thales das Wasser, Anaximenes die Luft und Anaximander etwas, das er "to apeiron" nannte, das Unbegrenzte.
Es ist ein Verdienst Rovellis, Anaximander einmal für einen breiteren Leserkreis aus dieser propädeutischen Ecke herauszuholen. Zwar sind dessen Schriften bis auf einen einzigen Satz verloren, was sich aber aus Erwähnungen späterer Autoren rekonstruieren lässt, scheint durchaus zu rechtfertigen, ihn - und nicht Thales - an den Anfang einer Wissenschaftsgeschichte zu stellen. So war Anaximander der Erste, der sich die Erde als frei schwebenden Körper vorstellte, wenn auch noch nicht als Kugel. Weiter scheint er als Erster versucht zu haben, eine Weltkarte zu zeichnen, und er hatte bereits die Idee, dass Sterne, Mond und Sonne in verschiedenen Entfernungen kreisen. Aus heutiger Sicht besonders ingeniös erscheint Anaximanders Annahme nicht nur eines Beginns des Lebens im Meer, sondern auch eines Ursprungs der Menschen in fischartigen Meerestieren.
Natürlich weiß auch Rovelli um die Unzulässigkeit, dergleichen allein deswegen als "wissenschaftlich" zu bejubeln, weil es zufällig an heutiges Wissen erinnert. Eher schon verdient es diesen Titel, wenn es mit Argumenten dafür verknüpft ist, warum die Welt nicht so ist, wie die unreflektierte Alltagserfahrung es oft nahelegt. Und tatsächlich ist Rovellis Buch dort am stärksten, wo es derlei aufweist. Etwa die Idee der frei schwebenden Erde, die sich aus dem Gedanken ergibt, dass die Auszeichnung von "oben" und "unten" auf der Erdoberfläche ja nicht bedeutet, auch der Kosmos als Ganzer müsse eine ausgezeichnete Richtung haben. Die Parallelen zu späteren Überwindungen von Alltagserfahrungen, etwa bei Kopernikus oder Einstein, liegen nahe und werden ausführlich gezogen - denn natürlich ist die Wissenschaft, die Rovelli hier verhandelt, in erster Linie Naturwissenschaft, das heißt Physik, die er bei der Gelegenheit auch gleich vor seiner Meinung nach bedenklichen "positivistischen" Tendenzen zu bewahren sucht. Leser, welche die dahinter stehenden Debatten um das Verständnis der Quantenphysik nicht kennen, werden mit diesen Spitzen kaum viel anfangen können, während jene, die sich vielleicht einen neuen, vorsokratisch inspirierten Blick auf sie erhoffen, etwas enttäuscht sein werden.
Dafür huldigt der Marseiller Physikprofessor mit radikaler Studentenvergangenheit Anaximander ausführlich für die Bedeutung, die er ihm als Pionier der Einsicht in gesellschaftliche Voraussetzungen von Wissenschaft zumisst. Indem Anaximander nämlich seinem Lehrer Thales in der Urstoff-Frage widersprach, sei bei den alten Griechen etwas Bahnbrechendes passiert, was anderswo ausblieb, meint Rovelli: Der kritische Umgang mit dem Überlieferten trat in die Welt. Das erkläre dann etwa, warum die Erde für die Chinesen scheibenförmig blieb, bis Jesuiten ihnen im siebzehnten Jahrhundert die westliche Astronomie brachten. Hier aber begibt sich Rovelli auf ähnlich dünnes Eis wie zuvor bei seinem Versuch, den Beginn der Wissenschaft aus der politischen Situation im antiken Griechenland zu erklären, oder bei seinen Einlassungen zum angeblich strukturell wissensfeindlichen Charakter von Mythos und Religion. Dabei steht der anekdotische, zumindest unterkomplexe Umgang mit historischen Zusammenhängen in Kontrast zu den soliden physikphilosophischen Anmerkungen des Autors.
Anaximander Etikette wie "naturalistisch" und erst recht das Kampf-Adjektiv "rational" anzukleben ist auf jeden Fall problematisch. So ist es unter Philosophiehistorikern durchaus nicht ausgemacht, dass Anaximander sein "apeiron" nicht ebenso als etwas Göttliches begriffen hat wie später Aristoteles, der ihn in diesem Zusammenhang erwähnt. Heikel wird es auch, wo Rovelli jenen einzigen erhaltenen Originalsatz des Anaximander interpretiert. Der spätantike Philosoph Simplikios überliefert ihn, als er seinerseits Theophrast, den Schüler des Aristoteles, zitiert: "Und aus welchen Dingen die seienden Dinge entstehen, dort hinein vergehen sie auch, wie es sein muss. Denn sie zahlen einander gerechte Strafe für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit."
"Etwas poetisch" nannte schon Theophrast diese Worte, wovon sich Rovelli aber nicht abschrecken lässt und darin die erste Feststellung der Existenz von Naturgesetzen erkennt, denen die zeitlichen Abläufe der Dinge unterworfen sind. Das mag man so lesen, begibt sich dann aber in genau die Gefahr, vor der schon der große Altphilologe Werner Jaeger die Kommentatoren der Naturlehre des Milesiers warnte: eine Ähnlichkeit zwischen Anaximander und dem zu sehen, was man selbst an der modernen Wissenschaft für wichtig hält.
Carlo Rovelli: "Die Geburt der Wissenschaft". Anaximander und sein Erbe.
Aus dem Französischen von Monika Niehaus. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 232 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach der Ordnung der Zeit: Der Physiker Carlo Rovelli huldigt dem Vorsokratiker Anaximander als antikem Ahnherrn der Naturwissenschaft.
Von Ulf von Rauchhaupt
Seit wann gibt es Wissenschaft? Von allen Ursprungsfragen ist diese vielleicht die mit dem breitesten Spektrum begründbarer Antworten. Sie reichen von Newton über Galilei bis in die Altsteinzeit, wo etwa der Südafrikaner Louis Liebenberg die Anfänge methodischer Hypothesenbildung verortete, nachdem er in der Kalahari bei Jägern und Sammlern deren Spurenlesekunst studiert hatte.
Für den Italiener Carlo Rovelli, prominenter theoretischen Physiker an der Universität Aix-Marseille mit reger populärwissenschaftlicher Publikationstätigkeit, begann die Wissenschaft mit dem Griechen Anaximander, der etwa 610 bis 546 v. Chr. in Milet lebte. Nun fängt zwar auch manches Schulbuch seine historischen Vorbemerkungen mit jemandem aus Milet an, doch ist das der etwa fünfzehn Jahre ältere Thales, dem laut Herodot die erste Vorhersage einer Sonnenfinsternis gelang. Anaximander ist dann, wenn überhaupt, nur als Schüler des Thales und älterer Zeitgenosse des Anaximenes erwähnt. Dieses Trio bestreitet gewöhnlich das erste Kapitel vieler Einführungen in die Philosophiegeschichte. Klausurrelevant ist zumeist nur, dass alle drei Herren hinter jeglichen Naturdingen einen einzigen Urstoff vermutet hatten, allerdings jeweils einen anderen: Thales das Wasser, Anaximenes die Luft und Anaximander etwas, das er "to apeiron" nannte, das Unbegrenzte.
Es ist ein Verdienst Rovellis, Anaximander einmal für einen breiteren Leserkreis aus dieser propädeutischen Ecke herauszuholen. Zwar sind dessen Schriften bis auf einen einzigen Satz verloren, was sich aber aus Erwähnungen späterer Autoren rekonstruieren lässt, scheint durchaus zu rechtfertigen, ihn - und nicht Thales - an den Anfang einer Wissenschaftsgeschichte zu stellen. So war Anaximander der Erste, der sich die Erde als frei schwebenden Körper vorstellte, wenn auch noch nicht als Kugel. Weiter scheint er als Erster versucht zu haben, eine Weltkarte zu zeichnen, und er hatte bereits die Idee, dass Sterne, Mond und Sonne in verschiedenen Entfernungen kreisen. Aus heutiger Sicht besonders ingeniös erscheint Anaximanders Annahme nicht nur eines Beginns des Lebens im Meer, sondern auch eines Ursprungs der Menschen in fischartigen Meerestieren.
Natürlich weiß auch Rovelli um die Unzulässigkeit, dergleichen allein deswegen als "wissenschaftlich" zu bejubeln, weil es zufällig an heutiges Wissen erinnert. Eher schon verdient es diesen Titel, wenn es mit Argumenten dafür verknüpft ist, warum die Welt nicht so ist, wie die unreflektierte Alltagserfahrung es oft nahelegt. Und tatsächlich ist Rovellis Buch dort am stärksten, wo es derlei aufweist. Etwa die Idee der frei schwebenden Erde, die sich aus dem Gedanken ergibt, dass die Auszeichnung von "oben" und "unten" auf der Erdoberfläche ja nicht bedeutet, auch der Kosmos als Ganzer müsse eine ausgezeichnete Richtung haben. Die Parallelen zu späteren Überwindungen von Alltagserfahrungen, etwa bei Kopernikus oder Einstein, liegen nahe und werden ausführlich gezogen - denn natürlich ist die Wissenschaft, die Rovelli hier verhandelt, in erster Linie Naturwissenschaft, das heißt Physik, die er bei der Gelegenheit auch gleich vor seiner Meinung nach bedenklichen "positivistischen" Tendenzen zu bewahren sucht. Leser, welche die dahinter stehenden Debatten um das Verständnis der Quantenphysik nicht kennen, werden mit diesen Spitzen kaum viel anfangen können, während jene, die sich vielleicht einen neuen, vorsokratisch inspirierten Blick auf sie erhoffen, etwas enttäuscht sein werden.
Dafür huldigt der Marseiller Physikprofessor mit radikaler Studentenvergangenheit Anaximander ausführlich für die Bedeutung, die er ihm als Pionier der Einsicht in gesellschaftliche Voraussetzungen von Wissenschaft zumisst. Indem Anaximander nämlich seinem Lehrer Thales in der Urstoff-Frage widersprach, sei bei den alten Griechen etwas Bahnbrechendes passiert, was anderswo ausblieb, meint Rovelli: Der kritische Umgang mit dem Überlieferten trat in die Welt. Das erkläre dann etwa, warum die Erde für die Chinesen scheibenförmig blieb, bis Jesuiten ihnen im siebzehnten Jahrhundert die westliche Astronomie brachten. Hier aber begibt sich Rovelli auf ähnlich dünnes Eis wie zuvor bei seinem Versuch, den Beginn der Wissenschaft aus der politischen Situation im antiken Griechenland zu erklären, oder bei seinen Einlassungen zum angeblich strukturell wissensfeindlichen Charakter von Mythos und Religion. Dabei steht der anekdotische, zumindest unterkomplexe Umgang mit historischen Zusammenhängen in Kontrast zu den soliden physikphilosophischen Anmerkungen des Autors.
Anaximander Etikette wie "naturalistisch" und erst recht das Kampf-Adjektiv "rational" anzukleben ist auf jeden Fall problematisch. So ist es unter Philosophiehistorikern durchaus nicht ausgemacht, dass Anaximander sein "apeiron" nicht ebenso als etwas Göttliches begriffen hat wie später Aristoteles, der ihn in diesem Zusammenhang erwähnt. Heikel wird es auch, wo Rovelli jenen einzigen erhaltenen Originalsatz des Anaximander interpretiert. Der spätantike Philosoph Simplikios überliefert ihn, als er seinerseits Theophrast, den Schüler des Aristoteles, zitiert: "Und aus welchen Dingen die seienden Dinge entstehen, dort hinein vergehen sie auch, wie es sein muss. Denn sie zahlen einander gerechte Strafe für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit."
"Etwas poetisch" nannte schon Theophrast diese Worte, wovon sich Rovelli aber nicht abschrecken lässt und darin die erste Feststellung der Existenz von Naturgesetzen erkennt, denen die zeitlichen Abläufe der Dinge unterworfen sind. Das mag man so lesen, begibt sich dann aber in genau die Gefahr, vor der schon der große Altphilologe Werner Jaeger die Kommentatoren der Naturlehre des Milesiers warnte: eine Ähnlichkeit zwischen Anaximander und dem zu sehen, was man selbst an der modernen Wissenschaft für wichtig hält.
Carlo Rovelli: "Die Geburt der Wissenschaft". Anaximander und sein Erbe.
Aus dem Französischen von Monika Niehaus. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 232 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main