Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2002Gegen Schufte und Heuchler
Andrea Carandini leuchtet mit einer monomanen Studie Rom aus
Lange bevor Vergil in augusteischer Zeit das römische Selbstbild in die Figur des Troja-Flüchtlings Aeneas projizierte, war die Abstammung der Römer von den Trojanern ein etablierter Mythos. Es erscheint daher als eigenartige Fügung, wenn nach dem Abflauen des hitzigen Troja-Streites zwischen Altertumswissenschaftlern um Manfred Korfmann und Joachim Latacz einerseits und Frank Kolb andererseits nun ein umfangreiches Buch zur Vorgeschichte Roms und Latiums erscheint, dessen Autor sich mit Verve und kreativer Phantasie daranmacht, aus Mythen und Mauerresten Historie zu machen.
Der Archäologe Andrea Carandini führt in seiner 1997 publizierten, nun erweiterten und sehr originalgetreu übersetzten Studie einen Kampf gegen Minimalisten, Primitivisten, Spätdatierer und "Hyperkritiker" jeder Couleur, die er dann auch schon einmal als Masochisten, Schufte oder Heuchler bezeichnet. Ebenfalls aus der Troja-Debatte geläufig ist der Vorwurf an die Historiker, "in schattigen Bibliotheken weit von den Monumenten" fänden sie sich vorschnell und leicht mit einem Nicht-wissen-Können ab, während Archäologen, offenbar erleuchtet von der Sonne der Ausgrabungsplätze, mehr Möglichkeiten hätten und weniger rasch aufgäben.
Carandinis leidenschaftliches Bestreben, vom Leben und der Vorstellungswelt der Bewohner des späteren Rom in der ausgehenden Bronze- und frühen Eisenzeit eine konkrete Anschauung zu gewinnen, berührt zunächst sympathisch. Seine stupende Kenntnis der antiquarischen, historiographischen und poetischen Überlieferung sowie der in jüngster Zeit sehr vermehrten Reste früher Besiedlung zumal am Palatin hätte den Stoff für einen gewaltigen Roman über Romulus abgeben können, jenen Gründer Roms, der in Wahrheit der Erbe einer vielhundertjährigen Tradition gewesen sei und dem des Autors ganze Passion gilt. Romulus hätte von seinen Vorfahren berichten können, den göttlichen Königen Janus, Saturnus, Volcanus und Cacus, von den Aboriginern und der Auswanderung des Siculus nach Sizilien und davon, wie sie und alle übrigen Götter, Herrscher und Heroen in der sakralen Topographie der Berge und Hügel ihre Spuren hinterlassen haben, lange bevor seine Nachfolger, die Tarquinier, das authentische alte latinische Mythengefüge durch Figuren wie Herakles und Aeneas griechisch überformten.
Doch unglücklicherweise vertraut auch Carandini allein dem Sinnpotential der historischen Wissenschaft, die er freilich zunächst neu modeln muß, unter anderem auch, um seinen Romulus als unzweifelhaft reale Person vorstellen zu können. Mit kulturkritischem Furor wagt er den Salto mortale zurück zu Gerlach und Bachofen: "In der Vorgeschichte haben die Sagen eine vorantreibende Kraft, und unser Materialismus, Rationalismus und Laizismus machen uns blind dafür, daß gerade das, was uns als Magie erscheint, der eigentliche Mutterboden des menschlichen Handelns der damaligen Zeit war. Unter diesen Umständen ist der Mythos die Wirklichkeit, und die Geschichte ist nichts anderes als ihre Metapher."
Damit ist die Grundunterscheidung zwischen traditionaler Erzählung und kritischer Historie rückgängig gemacht, die seit Thukydides und dann wieder seit der Neuzeit Geschichte als Disziplin konstituiert hat. Heuristische Voraussetzung für Carandinis Verfahren ist die Annahme, daß sich Reste von mündlich weitergegebener lebendiger Erinnerung, mögen sie im Laufe der Zeit noch so sehr verändert worden sein, auch noch in spätesten Texten finden ließen. Sie könnten mit strenger stratigraphischer Methode aufeinanderfolgenden Schichten zugeordnet werden. Doch die Imago der Exaktheit, flankiert noch von anthropologisch-komparativen Vergleichen, verhüllt nur, daß der Autor den Weg zu einer Hebung des gereinigten römisch-latinischen Mythos und der ebenso komplexen Siedlungsgeschichte nur durch betäubende Assoziationskaskaden findet. Immunisierende Passepartout-Argumente finden sich häufig, geht es doch um eine durch das "Ineinander von Wirklichkeit und kollektiver Imagination" bestimmte Totalität.
Mag die Rekonstruktion der einzelnen Entwicklungsstufen von Mythologie und Theogonie für sich genommen noch diskutabel erscheinen, so wird sie durch die Zuordnung zu den verschiedenen bronzezeitlichen Horizonten zwischen 1600 und 900 vor Christus absurd: Die Herrschaft des Cacus auf dem Cermalus etwa scheine von den Mythographen der ausgehenden Republik durchaus richtig um 1230 vor Christus angesetzt worden zu sein, weil die frühesten archäologischen Zeugnisse auf diesem Hügel "wahrscheinlich in die Spätbronzezeit zu datieren sind".
Generell folgt Carandini der etablierten methodischen Regel, literarische Tradition und archäologische Daten nicht kurzschlüssig zu kombinieren, nur so lange, wie "sie nicht zu extrem und hinderlich wird" - obwohl man angesichts der Traditionsgenese und der unsicheren Datierungen der Funde gar nicht von Daten sprechen darf. An anderer Stelle heißt es dann wieder, der mythische Diskurs müsse sich "frei entfalten können, ohne sich a priori und in einer mechanischen Weise mit einer völlig unabhängigen Dokumentation messen zu müssen, die oft unzureichend ist und sich in ständiger Entwicklung befindet wie die, die von der Archäologie versorgt wird". Im Labyrinth der Äquivalenzen und Doppelbedeutungen, wo alle Gründer und göttlichen Könige zugleich identisch und untereinander verschieden sind, ist jeder Weg gangbar und keiner zwingend.
Im zweiten Teil des Buches entwickelt Carandini - wiederum mit der Rhetorik der kumulativen Hypothesen - sein komplexes und detailreiches Bild der Entwicklungsstufen von Siedlung und Bewohnerschaft des künftigen Rom vom neunten Jahrhundert an. Bei aller Skepsis bedeutet das Konzept einer protourbanen Siedlung auf römischem Boden als "politische" Voraussetzung der Stadt- und Staatwerdung in der Königszeit einen Gewinn, zumal sich der Autor mit den einschlägigen Debatten etwa um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie oder um die Gliederung der Bewohner in Personenverbände vertraut zeigt. Allerdings reichen die unzusammenhängenden Reste von Mauern am Palatin in keiner Weise aus, um einen "Staatsstreich" des Romulus und die Errichtung einer staatlichen Zentralgewalt anzunehmen.
Spezialisten für latinische Mythologie und Religion und für frührömische Topographie werden sich mit Carandinis Thesen auseinandersetzen müssen und von vielen klugen Beobachtungen profitieren. Aber als "große Erzählung" über die Vorgeschichte Roms ist das monomane Buch ein völliger Fehlschlag, unter anderem deshalb, weil es nichts erzählt und weil es grundverschiedene Diskurse ineinandermengt. Als Produkt aus intellektueller Abenteuer- und Schaulust und dem unbedingten Glauben an die Überlegenheit der eigenen Methodologeme stellt es zugleich ein seltsames, aber nicht singuläres Dokument zeitgenössischer Wissenschaftskultur dar.
UWE WALTER
Andrea Carandini: "Die Geburt Roms". Aus dem Italienischen von Karl Pichler. Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf, Zürich 2002. 894 S., geb., 52,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrea Carandini leuchtet mit einer monomanen Studie Rom aus
Lange bevor Vergil in augusteischer Zeit das römische Selbstbild in die Figur des Troja-Flüchtlings Aeneas projizierte, war die Abstammung der Römer von den Trojanern ein etablierter Mythos. Es erscheint daher als eigenartige Fügung, wenn nach dem Abflauen des hitzigen Troja-Streites zwischen Altertumswissenschaftlern um Manfred Korfmann und Joachim Latacz einerseits und Frank Kolb andererseits nun ein umfangreiches Buch zur Vorgeschichte Roms und Latiums erscheint, dessen Autor sich mit Verve und kreativer Phantasie daranmacht, aus Mythen und Mauerresten Historie zu machen.
Der Archäologe Andrea Carandini führt in seiner 1997 publizierten, nun erweiterten und sehr originalgetreu übersetzten Studie einen Kampf gegen Minimalisten, Primitivisten, Spätdatierer und "Hyperkritiker" jeder Couleur, die er dann auch schon einmal als Masochisten, Schufte oder Heuchler bezeichnet. Ebenfalls aus der Troja-Debatte geläufig ist der Vorwurf an die Historiker, "in schattigen Bibliotheken weit von den Monumenten" fänden sie sich vorschnell und leicht mit einem Nicht-wissen-Können ab, während Archäologen, offenbar erleuchtet von der Sonne der Ausgrabungsplätze, mehr Möglichkeiten hätten und weniger rasch aufgäben.
Carandinis leidenschaftliches Bestreben, vom Leben und der Vorstellungswelt der Bewohner des späteren Rom in der ausgehenden Bronze- und frühen Eisenzeit eine konkrete Anschauung zu gewinnen, berührt zunächst sympathisch. Seine stupende Kenntnis der antiquarischen, historiographischen und poetischen Überlieferung sowie der in jüngster Zeit sehr vermehrten Reste früher Besiedlung zumal am Palatin hätte den Stoff für einen gewaltigen Roman über Romulus abgeben können, jenen Gründer Roms, der in Wahrheit der Erbe einer vielhundertjährigen Tradition gewesen sei und dem des Autors ganze Passion gilt. Romulus hätte von seinen Vorfahren berichten können, den göttlichen Königen Janus, Saturnus, Volcanus und Cacus, von den Aboriginern und der Auswanderung des Siculus nach Sizilien und davon, wie sie und alle übrigen Götter, Herrscher und Heroen in der sakralen Topographie der Berge und Hügel ihre Spuren hinterlassen haben, lange bevor seine Nachfolger, die Tarquinier, das authentische alte latinische Mythengefüge durch Figuren wie Herakles und Aeneas griechisch überformten.
Doch unglücklicherweise vertraut auch Carandini allein dem Sinnpotential der historischen Wissenschaft, die er freilich zunächst neu modeln muß, unter anderem auch, um seinen Romulus als unzweifelhaft reale Person vorstellen zu können. Mit kulturkritischem Furor wagt er den Salto mortale zurück zu Gerlach und Bachofen: "In der Vorgeschichte haben die Sagen eine vorantreibende Kraft, und unser Materialismus, Rationalismus und Laizismus machen uns blind dafür, daß gerade das, was uns als Magie erscheint, der eigentliche Mutterboden des menschlichen Handelns der damaligen Zeit war. Unter diesen Umständen ist der Mythos die Wirklichkeit, und die Geschichte ist nichts anderes als ihre Metapher."
Damit ist die Grundunterscheidung zwischen traditionaler Erzählung und kritischer Historie rückgängig gemacht, die seit Thukydides und dann wieder seit der Neuzeit Geschichte als Disziplin konstituiert hat. Heuristische Voraussetzung für Carandinis Verfahren ist die Annahme, daß sich Reste von mündlich weitergegebener lebendiger Erinnerung, mögen sie im Laufe der Zeit noch so sehr verändert worden sein, auch noch in spätesten Texten finden ließen. Sie könnten mit strenger stratigraphischer Methode aufeinanderfolgenden Schichten zugeordnet werden. Doch die Imago der Exaktheit, flankiert noch von anthropologisch-komparativen Vergleichen, verhüllt nur, daß der Autor den Weg zu einer Hebung des gereinigten römisch-latinischen Mythos und der ebenso komplexen Siedlungsgeschichte nur durch betäubende Assoziationskaskaden findet. Immunisierende Passepartout-Argumente finden sich häufig, geht es doch um eine durch das "Ineinander von Wirklichkeit und kollektiver Imagination" bestimmte Totalität.
Mag die Rekonstruktion der einzelnen Entwicklungsstufen von Mythologie und Theogonie für sich genommen noch diskutabel erscheinen, so wird sie durch die Zuordnung zu den verschiedenen bronzezeitlichen Horizonten zwischen 1600 und 900 vor Christus absurd: Die Herrschaft des Cacus auf dem Cermalus etwa scheine von den Mythographen der ausgehenden Republik durchaus richtig um 1230 vor Christus angesetzt worden zu sein, weil die frühesten archäologischen Zeugnisse auf diesem Hügel "wahrscheinlich in die Spätbronzezeit zu datieren sind".
Generell folgt Carandini der etablierten methodischen Regel, literarische Tradition und archäologische Daten nicht kurzschlüssig zu kombinieren, nur so lange, wie "sie nicht zu extrem und hinderlich wird" - obwohl man angesichts der Traditionsgenese und der unsicheren Datierungen der Funde gar nicht von Daten sprechen darf. An anderer Stelle heißt es dann wieder, der mythische Diskurs müsse sich "frei entfalten können, ohne sich a priori und in einer mechanischen Weise mit einer völlig unabhängigen Dokumentation messen zu müssen, die oft unzureichend ist und sich in ständiger Entwicklung befindet wie die, die von der Archäologie versorgt wird". Im Labyrinth der Äquivalenzen und Doppelbedeutungen, wo alle Gründer und göttlichen Könige zugleich identisch und untereinander verschieden sind, ist jeder Weg gangbar und keiner zwingend.
Im zweiten Teil des Buches entwickelt Carandini - wiederum mit der Rhetorik der kumulativen Hypothesen - sein komplexes und detailreiches Bild der Entwicklungsstufen von Siedlung und Bewohnerschaft des künftigen Rom vom neunten Jahrhundert an. Bei aller Skepsis bedeutet das Konzept einer protourbanen Siedlung auf römischem Boden als "politische" Voraussetzung der Stadt- und Staatwerdung in der Königszeit einen Gewinn, zumal sich der Autor mit den einschlägigen Debatten etwa um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie oder um die Gliederung der Bewohner in Personenverbände vertraut zeigt. Allerdings reichen die unzusammenhängenden Reste von Mauern am Palatin in keiner Weise aus, um einen "Staatsstreich" des Romulus und die Errichtung einer staatlichen Zentralgewalt anzunehmen.
Spezialisten für latinische Mythologie und Religion und für frührömische Topographie werden sich mit Carandinis Thesen auseinandersetzen müssen und von vielen klugen Beobachtungen profitieren. Aber als "große Erzählung" über die Vorgeschichte Roms ist das monomane Buch ein völliger Fehlschlag, unter anderem deshalb, weil es nichts erzählt und weil es grundverschiedene Diskurse ineinandermengt. Als Produkt aus intellektueller Abenteuer- und Schaulust und dem unbedingten Glauben an die Überlegenheit der eigenen Methodologeme stellt es zugleich ein seltsames, aber nicht singuläres Dokument zeitgenössischer Wissenschaftskultur dar.
UWE WALTER
Andrea Carandini: "Die Geburt Roms". Aus dem Italienischen von Karl Pichler. Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf, Zürich 2002. 894 S., geb., 52,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Auf die Frage, wie Rom entstanden sei, weiß Rezensent Wilfried Nippel, rivalisieren unter den Historikern zwei Antworten: durch Zusammenwachsen oder einen gewalttätig herbeigeführten Zusammenschluss. Andrea Carandini vertrete dagegen in seinem 1997 veröffentlichtem und jetzt übersetztem Buch den Glauben an die Wahrheit der antiken Geschichte: Carandini halte nicht nur Romulus für den tatsächlichen Stadtgründer, sondern schenke den römischen Überlieferungen grundsätzlich Glauben. Der Rezensent hält das nicht für glaubwürdig und die Methode des Autors entlockt ihm nur ein Kopfschütteln. Denn er entledige sich aller "Fesseln der Quellenkritik" und fülle die fast 900 Seiten vor allem mit Spekulationen. Fachleute finden hier vielleicht noch das ein oder andere Detail. "Unerfindlich" findet es der Rezensent, "wer sich über Hunderte von Seiten quälen soll", die voll von verwirrenden Details aus Mythologie und Archäologie seien und auf denen durchgehend gegen die Positionen der modernen Forschung polemisiert werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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