Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.12.2002Der Mythos ist Wirklichkeit
Andrea Carandini glaubt an die Wahrheit der antiken Geschichten
Am Anfang der modernen Altertumswissenschaft stand der Zweifel an der Zuverlässigkeit der Überlieferung zur römischen Frühzeit und der Gründung der Stadt durch den ersten König Romulus, die nach der kanonisch gewordenen Datierung durch den römischen Gelehrten Varro im Jahre 753 vor Christus erfolgt sein soll. Schon Gelehrte des 17. und 18. Jahrhunderts erkannten die vielen Unstimmigkeiten in den breit ausgemalten Schilderungen bei Livius, Dionysios von Halikarnass und Plutarch, die dafür auf Darstellungen seit dem 2. Jahrhundert vor Christus zurückgegriffen hatten, in denen die Sagen von den alten römischen Göttern als ältesten Königen von Latium, der Flucht des Aeneas aus dem brennenden Troja nach Latium und der Geschichte von Romulus und Remus miteinander verknüpft worden waren.
Barthold Georg Niebuhr hat mit seiner „Römischen Geschichte” (1811- 1812) versucht, nach Identifikation der „echten Kerne” der Überlieferung eine eigene Darstellung zu präsentieren. Auch wenn er sich dabei in zahllose Aporien verstrickte, so machte doch seine Unterscheidung zwischen mythischer und historischer Zeit Schule. Eine Generation später hat Theodor Mommsen in seiner „Römischen Geschichte” (1854-1856) die Frühzeit in Form systematischer Abrisse dargestellt, da es unmöglich sei, eine erzählende Geschichte zu schreiben. Er stützte sich dabei auf sprachgeschichtliche Indizien und die Rekonstruktion von Rechtsinstituten. Die römischen Könige – nach der traditionellen Chronologie nur 7 in 244 Jahren – kamen bei Mommsen namentlich nicht vor.
Wieweit sich die grundlegenden politischen und sozialen Strukturen der Königszeit und der frühen Republik rekonstruieren lassen, ist seitdem immer umstritten gewesen. Weitgehender Konsens bestand jedoch darüber, dass sich hinsichtlich der Entstehung der Stadt Rom und ihrer Konstituierung als politische Einheit aus den Legenden über die Gründung durch Romulus nichts gewinnen lasse. Neue Erkenntnisse versprach nur die Archäologie. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben die Ergebnisse verschiedener Grabungen darauf schließen lassen, dass die Besiedlung der Hügel Roms im 10. Jahrhundert vor Christus begonnen hat und dabei der Ansiedlung auf dem Palatin besondere Bedeutung zugekommen ist. Wann und wie sich die verschiedenen Dörfer vereinigt haben – durch Zusammenwachsen oder einen mit Gewalt herbeigeführten Zusammenschluss –, bleibt jedoch umstritten. Datierungen schwanken auch deshalb stark, weil die einen Forscher von einer Stadtwerdung im siedlungsgeographischen Sinne, die anderen von der Konstituierung des politisch verfassten Gemeinwesens sprechen. Zur Deutung der Befunde, die bekanntlich nicht für sich selbst sprechen, greift man in einem Teil der neueren Forschung wieder stärker auf die literarische Überlieferung zurück, geht aber nicht über die Königszeit zurück; andere beharren darauf, dass man nicht auf Traditionen vertrauen könne, die erst im Abstand von Jahrhunderten fixiert worden sind.
Romulus hat es getan
Für den italienischen Archäologen Andrea Carandini repräsentiert die eine Forschungsrichtung eine „gemäßigte”, die andere eine „Hyperkritik” an der antiken Überlieferung. In seinem erstmals 1997 publizierten Buch, das für die nun vorliegende deutsche Fassung erweitert worden ist, vertritt er einen vehementen Glauben an die Wahrheit der antiken Geschichten und kennt keine Gnade mit den Agnostikern jeden Grades. Sein Damaskuserlebnis hatte Carandini, als er 1988 bei Grabungen auf Überreste einer Mauer am Palatin stieß, deren älteste Teile er auf ca. 725 vor Christus datierte. Er stellte die Übereinstimmung mit der Überlieferung fest, nach der die Gründung der Stadt durch Romulus mit der Ziehung der sakralen Stadtgrenze, des Pomeriums, um den Palatin verbunden gewesen sei. Von Zweifeln an dieser Deutung, die einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Pomerium (eine mit dem Pflug gezogene Furche) und der Stadtummauerung unterstellt, hat sich Carandini nicht anfechten lassen.
Für Carandini steht seitdem nicht nur fest, dass Romulus tatsächlich der Stadtgründer war, sondern auch, dass den römischen Überlieferungen grundsätzlich Glauben zu schenken ist. Er will sich nicht damit zufrieden geben, das „Tabu” bezüglich der Historizität der Stadtgründung durch Romulus zu brechen und eine Rekonstruktion der Königszeit vorzulegen, sondern gleich die gesamte Vorgeschichte der Stadt seit etwa 1600 v. Christus erhellen. Carandini glaubt, dass in der Vorgeschichte der „Mythos die Wirklichkeit ist”; seine Annahme, dass die Quellen eine viele Jahrhunderte alte mündliche Tradition wiedergeben, begründet er mit flüchtigen Verweisen auf angebliche Erkenntnisse der Ethnologie.
Lest lieber Livius
Ein solches Vertrauen in die Möglichkeit einer historischen Rekonstruktion auf der Basis von Mythen hat es in der Altertumswissenschaft seit den Tagen von Mommsens Antipoden Johann Jakob Bachofen nicht mehr gegeben. Bachofen hatte immerhin auf absolute Datierungen verzichtet. Carandini bietet dagegen eine Verknüpfung der archäologischen Befunde mit den mythographischen Angaben in der Form, dass die Sagen über die Vorgeschichte von Latium mit den archäologischen Periodisierungen synchronisiert werden. „Im Mythos folgen die Zeitalter aufeinander wie übereinander gelagerte Schichten, wobei jedes seine bestimmte Dauer und seine besonderen Merkmale hat.” Jetzt wissen wir endlich, dass Janus in die mittlere Bronzezeit (ca. 1600 -1300) und Mars in die Endbronzezeit, Stufe I (1150-1000 vor Christus), gehört.
Hier ist kein Autor am Werk, der sich einmal der Fesseln der Quellenkritik entledigen und fröhlich spekulieren will. Carandini meint dies alles ernst. Selbst wenn er den hypothetischen Charakter seiner Konstruktion betont, ist er sicher, eine bessere Lösung gefunden zu haben, als sie die Forschung jemals anzubieten hatte. Er bietet eine ungeheure Gelehrsamkeit auf, die sich auch äußerlich in überbordenden Fußnoten, Appendices und Literaturlisten ausweist, und gliedert sein Werk in alter Handbuchmanier nach Paragraphen. Fachleute werden sich – ungeachtet allen Kopfschüttelns über die „Methode” – das eine oder andere Detail heraussuchen und dabei auch auf interessante Beobachtungen stoßen. Unerfindlich ist jedoch, wer dieses Buch im Zusammenhang lesen, sich über hunderte von Seiten quälen soll, die voll von verwirrenden Details aus Mythologie und Archäologie sind und auf denen durchgehend gegen Positionen der modernen Forschung polemisiert wird. Wer dem Klappentext folgt, der Carandini „eine große Erzählung über die Vorgeschichte Roms” attestiert, kann sich nur getäuscht sehen. Livius und Plutarch bieten gefälligere Lektüre.
WILFRIED NIPPEL
ANDREA CARANDINI: Die Geburt Roms. Aus dem Italienischen von Karl Pichler. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2002. 894 Seiten, 52 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Andrea Carandini glaubt an die Wahrheit der antiken Geschichten
Am Anfang der modernen Altertumswissenschaft stand der Zweifel an der Zuverlässigkeit der Überlieferung zur römischen Frühzeit und der Gründung der Stadt durch den ersten König Romulus, die nach der kanonisch gewordenen Datierung durch den römischen Gelehrten Varro im Jahre 753 vor Christus erfolgt sein soll. Schon Gelehrte des 17. und 18. Jahrhunderts erkannten die vielen Unstimmigkeiten in den breit ausgemalten Schilderungen bei Livius, Dionysios von Halikarnass und Plutarch, die dafür auf Darstellungen seit dem 2. Jahrhundert vor Christus zurückgegriffen hatten, in denen die Sagen von den alten römischen Göttern als ältesten Königen von Latium, der Flucht des Aeneas aus dem brennenden Troja nach Latium und der Geschichte von Romulus und Remus miteinander verknüpft worden waren.
Barthold Georg Niebuhr hat mit seiner „Römischen Geschichte” (1811- 1812) versucht, nach Identifikation der „echten Kerne” der Überlieferung eine eigene Darstellung zu präsentieren. Auch wenn er sich dabei in zahllose Aporien verstrickte, so machte doch seine Unterscheidung zwischen mythischer und historischer Zeit Schule. Eine Generation später hat Theodor Mommsen in seiner „Römischen Geschichte” (1854-1856) die Frühzeit in Form systematischer Abrisse dargestellt, da es unmöglich sei, eine erzählende Geschichte zu schreiben. Er stützte sich dabei auf sprachgeschichtliche Indizien und die Rekonstruktion von Rechtsinstituten. Die römischen Könige – nach der traditionellen Chronologie nur 7 in 244 Jahren – kamen bei Mommsen namentlich nicht vor.
Wieweit sich die grundlegenden politischen und sozialen Strukturen der Königszeit und der frühen Republik rekonstruieren lassen, ist seitdem immer umstritten gewesen. Weitgehender Konsens bestand jedoch darüber, dass sich hinsichtlich der Entstehung der Stadt Rom und ihrer Konstituierung als politische Einheit aus den Legenden über die Gründung durch Romulus nichts gewinnen lasse. Neue Erkenntnisse versprach nur die Archäologie. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben die Ergebnisse verschiedener Grabungen darauf schließen lassen, dass die Besiedlung der Hügel Roms im 10. Jahrhundert vor Christus begonnen hat und dabei der Ansiedlung auf dem Palatin besondere Bedeutung zugekommen ist. Wann und wie sich die verschiedenen Dörfer vereinigt haben – durch Zusammenwachsen oder einen mit Gewalt herbeigeführten Zusammenschluss –, bleibt jedoch umstritten. Datierungen schwanken auch deshalb stark, weil die einen Forscher von einer Stadtwerdung im siedlungsgeographischen Sinne, die anderen von der Konstituierung des politisch verfassten Gemeinwesens sprechen. Zur Deutung der Befunde, die bekanntlich nicht für sich selbst sprechen, greift man in einem Teil der neueren Forschung wieder stärker auf die literarische Überlieferung zurück, geht aber nicht über die Königszeit zurück; andere beharren darauf, dass man nicht auf Traditionen vertrauen könne, die erst im Abstand von Jahrhunderten fixiert worden sind.
Romulus hat es getan
Für den italienischen Archäologen Andrea Carandini repräsentiert die eine Forschungsrichtung eine „gemäßigte”, die andere eine „Hyperkritik” an der antiken Überlieferung. In seinem erstmals 1997 publizierten Buch, das für die nun vorliegende deutsche Fassung erweitert worden ist, vertritt er einen vehementen Glauben an die Wahrheit der antiken Geschichten und kennt keine Gnade mit den Agnostikern jeden Grades. Sein Damaskuserlebnis hatte Carandini, als er 1988 bei Grabungen auf Überreste einer Mauer am Palatin stieß, deren älteste Teile er auf ca. 725 vor Christus datierte. Er stellte die Übereinstimmung mit der Überlieferung fest, nach der die Gründung der Stadt durch Romulus mit der Ziehung der sakralen Stadtgrenze, des Pomeriums, um den Palatin verbunden gewesen sei. Von Zweifeln an dieser Deutung, die einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Pomerium (eine mit dem Pflug gezogene Furche) und der Stadtummauerung unterstellt, hat sich Carandini nicht anfechten lassen.
Für Carandini steht seitdem nicht nur fest, dass Romulus tatsächlich der Stadtgründer war, sondern auch, dass den römischen Überlieferungen grundsätzlich Glauben zu schenken ist. Er will sich nicht damit zufrieden geben, das „Tabu” bezüglich der Historizität der Stadtgründung durch Romulus zu brechen und eine Rekonstruktion der Königszeit vorzulegen, sondern gleich die gesamte Vorgeschichte der Stadt seit etwa 1600 v. Christus erhellen. Carandini glaubt, dass in der Vorgeschichte der „Mythos die Wirklichkeit ist”; seine Annahme, dass die Quellen eine viele Jahrhunderte alte mündliche Tradition wiedergeben, begründet er mit flüchtigen Verweisen auf angebliche Erkenntnisse der Ethnologie.
Lest lieber Livius
Ein solches Vertrauen in die Möglichkeit einer historischen Rekonstruktion auf der Basis von Mythen hat es in der Altertumswissenschaft seit den Tagen von Mommsens Antipoden Johann Jakob Bachofen nicht mehr gegeben. Bachofen hatte immerhin auf absolute Datierungen verzichtet. Carandini bietet dagegen eine Verknüpfung der archäologischen Befunde mit den mythographischen Angaben in der Form, dass die Sagen über die Vorgeschichte von Latium mit den archäologischen Periodisierungen synchronisiert werden. „Im Mythos folgen die Zeitalter aufeinander wie übereinander gelagerte Schichten, wobei jedes seine bestimmte Dauer und seine besonderen Merkmale hat.” Jetzt wissen wir endlich, dass Janus in die mittlere Bronzezeit (ca. 1600 -1300) und Mars in die Endbronzezeit, Stufe I (1150-1000 vor Christus), gehört.
Hier ist kein Autor am Werk, der sich einmal der Fesseln der Quellenkritik entledigen und fröhlich spekulieren will. Carandini meint dies alles ernst. Selbst wenn er den hypothetischen Charakter seiner Konstruktion betont, ist er sicher, eine bessere Lösung gefunden zu haben, als sie die Forschung jemals anzubieten hatte. Er bietet eine ungeheure Gelehrsamkeit auf, die sich auch äußerlich in überbordenden Fußnoten, Appendices und Literaturlisten ausweist, und gliedert sein Werk in alter Handbuchmanier nach Paragraphen. Fachleute werden sich – ungeachtet allen Kopfschüttelns über die „Methode” – das eine oder andere Detail heraussuchen und dabei auch auf interessante Beobachtungen stoßen. Unerfindlich ist jedoch, wer dieses Buch im Zusammenhang lesen, sich über hunderte von Seiten quälen soll, die voll von verwirrenden Details aus Mythologie und Archäologie sind und auf denen durchgehend gegen Positionen der modernen Forschung polemisiert wird. Wer dem Klappentext folgt, der Carandini „eine große Erzählung über die Vorgeschichte Roms” attestiert, kann sich nur getäuscht sehen. Livius und Plutarch bieten gefälligere Lektüre.
WILFRIED NIPPEL
ANDREA CARANDINI: Die Geburt Roms. Aus dem Italienischen von Karl Pichler. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2002. 894 Seiten, 52 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2002Gegen Schufte und Heuchler
Andrea Carandini leuchtet mit einer monomanen Studie Rom aus
Lange bevor Vergil in augusteischer Zeit das römische Selbstbild in die Figur des Troja-Flüchtlings Aeneas projizierte, war die Abstammung der Römer von den Trojanern ein etablierter Mythos. Es erscheint daher als eigenartige Fügung, wenn nach dem Abflauen des hitzigen Troja-Streites zwischen Altertumswissenschaftlern um Manfred Korfmann und Joachim Latacz einerseits und Frank Kolb andererseits nun ein umfangreiches Buch zur Vorgeschichte Roms und Latiums erscheint, dessen Autor sich mit Verve und kreativer Phantasie daranmacht, aus Mythen und Mauerresten Historie zu machen.
Der Archäologe Andrea Carandini führt in seiner 1997 publizierten, nun erweiterten und sehr originalgetreu übersetzten Studie einen Kampf gegen Minimalisten, Primitivisten, Spätdatierer und "Hyperkritiker" jeder Couleur, die er dann auch schon einmal als Masochisten, Schufte oder Heuchler bezeichnet. Ebenfalls aus der Troja-Debatte geläufig ist der Vorwurf an die Historiker, "in schattigen Bibliotheken weit von den Monumenten" fänden sie sich vorschnell und leicht mit einem Nicht-wissen-Können ab, während Archäologen, offenbar erleuchtet von der Sonne der Ausgrabungsplätze, mehr Möglichkeiten hätten und weniger rasch aufgäben.
Carandinis leidenschaftliches Bestreben, vom Leben und der Vorstellungswelt der Bewohner des späteren Rom in der ausgehenden Bronze- und frühen Eisenzeit eine konkrete Anschauung zu gewinnen, berührt zunächst sympathisch. Seine stupende Kenntnis der antiquarischen, historiographischen und poetischen Überlieferung sowie der in jüngster Zeit sehr vermehrten Reste früher Besiedlung zumal am Palatin hätte den Stoff für einen gewaltigen Roman über Romulus abgeben können, jenen Gründer Roms, der in Wahrheit der Erbe einer vielhundertjährigen Tradition gewesen sei und dem des Autors ganze Passion gilt. Romulus hätte von seinen Vorfahren berichten können, den göttlichen Königen Janus, Saturnus, Volcanus und Cacus, von den Aboriginern und der Auswanderung des Siculus nach Sizilien und davon, wie sie und alle übrigen Götter, Herrscher und Heroen in der sakralen Topographie der Berge und Hügel ihre Spuren hinterlassen haben, lange bevor seine Nachfolger, die Tarquinier, das authentische alte latinische Mythengefüge durch Figuren wie Herakles und Aeneas griechisch überformten.
Doch unglücklicherweise vertraut auch Carandini allein dem Sinnpotential der historischen Wissenschaft, die er freilich zunächst neu modeln muß, unter anderem auch, um seinen Romulus als unzweifelhaft reale Person vorstellen zu können. Mit kulturkritischem Furor wagt er den Salto mortale zurück zu Gerlach und Bachofen: "In der Vorgeschichte haben die Sagen eine vorantreibende Kraft, und unser Materialismus, Rationalismus und Laizismus machen uns blind dafür, daß gerade das, was uns als Magie erscheint, der eigentliche Mutterboden des menschlichen Handelns der damaligen Zeit war. Unter diesen Umständen ist der Mythos die Wirklichkeit, und die Geschichte ist nichts anderes als ihre Metapher."
Damit ist die Grundunterscheidung zwischen traditionaler Erzählung und kritischer Historie rückgängig gemacht, die seit Thukydides und dann wieder seit der Neuzeit Geschichte als Disziplin konstituiert hat. Heuristische Voraussetzung für Carandinis Verfahren ist die Annahme, daß sich Reste von mündlich weitergegebener lebendiger Erinnerung, mögen sie im Laufe der Zeit noch so sehr verändert worden sein, auch noch in spätesten Texten finden ließen. Sie könnten mit strenger stratigraphischer Methode aufeinanderfolgenden Schichten zugeordnet werden. Doch die Imago der Exaktheit, flankiert noch von anthropologisch-komparativen Vergleichen, verhüllt nur, daß der Autor den Weg zu einer Hebung des gereinigten römisch-latinischen Mythos und der ebenso komplexen Siedlungsgeschichte nur durch betäubende Assoziationskaskaden findet. Immunisierende Passepartout-Argumente finden sich häufig, geht es doch um eine durch das "Ineinander von Wirklichkeit und kollektiver Imagination" bestimmte Totalität.
Mag die Rekonstruktion der einzelnen Entwicklungsstufen von Mythologie und Theogonie für sich genommen noch diskutabel erscheinen, so wird sie durch die Zuordnung zu den verschiedenen bronzezeitlichen Horizonten zwischen 1600 und 900 vor Christus absurd: Die Herrschaft des Cacus auf dem Cermalus etwa scheine von den Mythographen der ausgehenden Republik durchaus richtig um 1230 vor Christus angesetzt worden zu sein, weil die frühesten archäologischen Zeugnisse auf diesem Hügel "wahrscheinlich in die Spätbronzezeit zu datieren sind".
Generell folgt Carandini der etablierten methodischen Regel, literarische Tradition und archäologische Daten nicht kurzschlüssig zu kombinieren, nur so lange, wie "sie nicht zu extrem und hinderlich wird" - obwohl man angesichts der Traditionsgenese und der unsicheren Datierungen der Funde gar nicht von Daten sprechen darf. An anderer Stelle heißt es dann wieder, der mythische Diskurs müsse sich "frei entfalten können, ohne sich a priori und in einer mechanischen Weise mit einer völlig unabhängigen Dokumentation messen zu müssen, die oft unzureichend ist und sich in ständiger Entwicklung befindet wie die, die von der Archäologie versorgt wird". Im Labyrinth der Äquivalenzen und Doppelbedeutungen, wo alle Gründer und göttlichen Könige zugleich identisch und untereinander verschieden sind, ist jeder Weg gangbar und keiner zwingend.
Im zweiten Teil des Buches entwickelt Carandini - wiederum mit der Rhetorik der kumulativen Hypothesen - sein komplexes und detailreiches Bild der Entwicklungsstufen von Siedlung und Bewohnerschaft des künftigen Rom vom neunten Jahrhundert an. Bei aller Skepsis bedeutet das Konzept einer protourbanen Siedlung auf römischem Boden als "politische" Voraussetzung der Stadt- und Staatwerdung in der Königszeit einen Gewinn, zumal sich der Autor mit den einschlägigen Debatten etwa um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie oder um die Gliederung der Bewohner in Personenverbände vertraut zeigt. Allerdings reichen die unzusammenhängenden Reste von Mauern am Palatin in keiner Weise aus, um einen "Staatsstreich" des Romulus und die Errichtung einer staatlichen Zentralgewalt anzunehmen.
Spezialisten für latinische Mythologie und Religion und für frührömische Topographie werden sich mit Carandinis Thesen auseinandersetzen müssen und von vielen klugen Beobachtungen profitieren. Aber als "große Erzählung" über die Vorgeschichte Roms ist das monomane Buch ein völliger Fehlschlag, unter anderem deshalb, weil es nichts erzählt und weil es grundverschiedene Diskurse ineinandermengt. Als Produkt aus intellektueller Abenteuer- und Schaulust und dem unbedingten Glauben an die Überlegenheit der eigenen Methodologeme stellt es zugleich ein seltsames, aber nicht singuläres Dokument zeitgenössischer Wissenschaftskultur dar.
UWE WALTER
Andrea Carandini: "Die Geburt Roms". Aus dem Italienischen von Karl Pichler. Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf, Zürich 2002. 894 S., geb., 52,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrea Carandini leuchtet mit einer monomanen Studie Rom aus
Lange bevor Vergil in augusteischer Zeit das römische Selbstbild in die Figur des Troja-Flüchtlings Aeneas projizierte, war die Abstammung der Römer von den Trojanern ein etablierter Mythos. Es erscheint daher als eigenartige Fügung, wenn nach dem Abflauen des hitzigen Troja-Streites zwischen Altertumswissenschaftlern um Manfred Korfmann und Joachim Latacz einerseits und Frank Kolb andererseits nun ein umfangreiches Buch zur Vorgeschichte Roms und Latiums erscheint, dessen Autor sich mit Verve und kreativer Phantasie daranmacht, aus Mythen und Mauerresten Historie zu machen.
Der Archäologe Andrea Carandini führt in seiner 1997 publizierten, nun erweiterten und sehr originalgetreu übersetzten Studie einen Kampf gegen Minimalisten, Primitivisten, Spätdatierer und "Hyperkritiker" jeder Couleur, die er dann auch schon einmal als Masochisten, Schufte oder Heuchler bezeichnet. Ebenfalls aus der Troja-Debatte geläufig ist der Vorwurf an die Historiker, "in schattigen Bibliotheken weit von den Monumenten" fänden sie sich vorschnell und leicht mit einem Nicht-wissen-Können ab, während Archäologen, offenbar erleuchtet von der Sonne der Ausgrabungsplätze, mehr Möglichkeiten hätten und weniger rasch aufgäben.
Carandinis leidenschaftliches Bestreben, vom Leben und der Vorstellungswelt der Bewohner des späteren Rom in der ausgehenden Bronze- und frühen Eisenzeit eine konkrete Anschauung zu gewinnen, berührt zunächst sympathisch. Seine stupende Kenntnis der antiquarischen, historiographischen und poetischen Überlieferung sowie der in jüngster Zeit sehr vermehrten Reste früher Besiedlung zumal am Palatin hätte den Stoff für einen gewaltigen Roman über Romulus abgeben können, jenen Gründer Roms, der in Wahrheit der Erbe einer vielhundertjährigen Tradition gewesen sei und dem des Autors ganze Passion gilt. Romulus hätte von seinen Vorfahren berichten können, den göttlichen Königen Janus, Saturnus, Volcanus und Cacus, von den Aboriginern und der Auswanderung des Siculus nach Sizilien und davon, wie sie und alle übrigen Götter, Herrscher und Heroen in der sakralen Topographie der Berge und Hügel ihre Spuren hinterlassen haben, lange bevor seine Nachfolger, die Tarquinier, das authentische alte latinische Mythengefüge durch Figuren wie Herakles und Aeneas griechisch überformten.
Doch unglücklicherweise vertraut auch Carandini allein dem Sinnpotential der historischen Wissenschaft, die er freilich zunächst neu modeln muß, unter anderem auch, um seinen Romulus als unzweifelhaft reale Person vorstellen zu können. Mit kulturkritischem Furor wagt er den Salto mortale zurück zu Gerlach und Bachofen: "In der Vorgeschichte haben die Sagen eine vorantreibende Kraft, und unser Materialismus, Rationalismus und Laizismus machen uns blind dafür, daß gerade das, was uns als Magie erscheint, der eigentliche Mutterboden des menschlichen Handelns der damaligen Zeit war. Unter diesen Umständen ist der Mythos die Wirklichkeit, und die Geschichte ist nichts anderes als ihre Metapher."
Damit ist die Grundunterscheidung zwischen traditionaler Erzählung und kritischer Historie rückgängig gemacht, die seit Thukydides und dann wieder seit der Neuzeit Geschichte als Disziplin konstituiert hat. Heuristische Voraussetzung für Carandinis Verfahren ist die Annahme, daß sich Reste von mündlich weitergegebener lebendiger Erinnerung, mögen sie im Laufe der Zeit noch so sehr verändert worden sein, auch noch in spätesten Texten finden ließen. Sie könnten mit strenger stratigraphischer Methode aufeinanderfolgenden Schichten zugeordnet werden. Doch die Imago der Exaktheit, flankiert noch von anthropologisch-komparativen Vergleichen, verhüllt nur, daß der Autor den Weg zu einer Hebung des gereinigten römisch-latinischen Mythos und der ebenso komplexen Siedlungsgeschichte nur durch betäubende Assoziationskaskaden findet. Immunisierende Passepartout-Argumente finden sich häufig, geht es doch um eine durch das "Ineinander von Wirklichkeit und kollektiver Imagination" bestimmte Totalität.
Mag die Rekonstruktion der einzelnen Entwicklungsstufen von Mythologie und Theogonie für sich genommen noch diskutabel erscheinen, so wird sie durch die Zuordnung zu den verschiedenen bronzezeitlichen Horizonten zwischen 1600 und 900 vor Christus absurd: Die Herrschaft des Cacus auf dem Cermalus etwa scheine von den Mythographen der ausgehenden Republik durchaus richtig um 1230 vor Christus angesetzt worden zu sein, weil die frühesten archäologischen Zeugnisse auf diesem Hügel "wahrscheinlich in die Spätbronzezeit zu datieren sind".
Generell folgt Carandini der etablierten methodischen Regel, literarische Tradition und archäologische Daten nicht kurzschlüssig zu kombinieren, nur so lange, wie "sie nicht zu extrem und hinderlich wird" - obwohl man angesichts der Traditionsgenese und der unsicheren Datierungen der Funde gar nicht von Daten sprechen darf. An anderer Stelle heißt es dann wieder, der mythische Diskurs müsse sich "frei entfalten können, ohne sich a priori und in einer mechanischen Weise mit einer völlig unabhängigen Dokumentation messen zu müssen, die oft unzureichend ist und sich in ständiger Entwicklung befindet wie die, die von der Archäologie versorgt wird". Im Labyrinth der Äquivalenzen und Doppelbedeutungen, wo alle Gründer und göttlichen Könige zugleich identisch und untereinander verschieden sind, ist jeder Weg gangbar und keiner zwingend.
Im zweiten Teil des Buches entwickelt Carandini - wiederum mit der Rhetorik der kumulativen Hypothesen - sein komplexes und detailreiches Bild der Entwicklungsstufen von Siedlung und Bewohnerschaft des künftigen Rom vom neunten Jahrhundert an. Bei aller Skepsis bedeutet das Konzept einer protourbanen Siedlung auf römischem Boden als "politische" Voraussetzung der Stadt- und Staatwerdung in der Königszeit einen Gewinn, zumal sich der Autor mit den einschlägigen Debatten etwa um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie oder um die Gliederung der Bewohner in Personenverbände vertraut zeigt. Allerdings reichen die unzusammenhängenden Reste von Mauern am Palatin in keiner Weise aus, um einen "Staatsstreich" des Romulus und die Errichtung einer staatlichen Zentralgewalt anzunehmen.
Spezialisten für latinische Mythologie und Religion und für frührömische Topographie werden sich mit Carandinis Thesen auseinandersetzen müssen und von vielen klugen Beobachtungen profitieren. Aber als "große Erzählung" über die Vorgeschichte Roms ist das monomane Buch ein völliger Fehlschlag, unter anderem deshalb, weil es nichts erzählt und weil es grundverschiedene Diskurse ineinandermengt. Als Produkt aus intellektueller Abenteuer- und Schaulust und dem unbedingten Glauben an die Überlegenheit der eigenen Methodologeme stellt es zugleich ein seltsames, aber nicht singuläres Dokument zeitgenössischer Wissenschaftskultur dar.
UWE WALTER
Andrea Carandini: "Die Geburt Roms". Aus dem Italienischen von Karl Pichler. Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf, Zürich 2002. 894 S., geb., 52,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Auf die Frage, wie Rom entstanden sei, weiß Rezensent Wilfried Nippel, rivalisieren unter den Historikern zwei Antworten: durch Zusammenwachsen oder einen gewalttätig herbeigeführten Zusammenschluss. Andrea Carandini vertrete dagegen in seinem 1997 veröffentlichtem und jetzt übersetztem Buch den Glauben an die Wahrheit der antiken Geschichte: Carandini halte nicht nur Romulus für den tatsächlichen Stadtgründer, sondern schenke den römischen Überlieferungen grundsätzlich Glauben. Der Rezensent hält das nicht für glaubwürdig und die Methode des Autors entlockt ihm nur ein Kopfschütteln. Denn er entledige sich aller "Fesseln der Quellenkritik" und fülle die fast 900 Seiten vor allem mit Spekulationen. Fachleute finden hier vielleicht noch das ein oder andere Detail. "Unerfindlich" findet es der Rezensent, "wer sich über Hunderte von Seiten quälen soll", die voll von verwirrenden Details aus Mythologie und Archäologie seien und auf denen durchgehend gegen die Positionen der modernen Forschung polemisiert werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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