Das lyrische Werk des Peter-Huchel-Preisträgers Ludwig Greve in einem Band.Ludwig Greve war 37 Jahre alt, als er 1961 mit einem schmalen Band »Gedichte« an die Öffentlichkeit trat. Einige davon hatte er zuvor bereits als »Gedichte aus dem Itinerar« in einem Privatdruck eher versteckt als veröffentlicht. Der Titel weist das Thema des Zyklus aus: Selbstvergewisserung anhand der Stationen der eigenen Biographie und die Arbeit an einer Sprache dafür. Die zwanzig dichtgefügten, meist gereimten Gedichte erregten die Aufmerksamkeit Werner Krafts, der erwartete, daß auf »schöne Gedichte« »schönere« folgen würden.Die von Greve in der Folgezeit verfaßten, nun ungereimten, oft energisch ausgreifenden Gedichte sind von beweglicher Syntax; ihr spannungsreicher Rhythmus erlaubt, sich angesichts naher und nächster Phänomene und Personen zu fassen, er läßt Dankbarkeit zu, manchmal »einen Unterton von Glück« (Greve).Der vorliegende Band enthält erstmals alle von Greve veröffentlichten Gedichte, nach »Sie lacht und andere Gedichte« (1991) auch die in frühere Sammlungen nicht aufgenommenen und die verstreut gedruckten Texte, außerdem Greves Rede vor Freiburger Studenten »Warum schreibe ich anders?« (1979). Der Anhang bietet neben den nötigen Nachweisen und dem editorischen Bericht Druckvarianten, Erläuterungen und bisher unveröffentlichte Selbstzeugnisse.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2006Das Leichte hält sich besser
Um das Schwerste zu sagen: Ludwig Greves gesammelte Gedichte
Trotz allem, "malgré tout", im Vollkommenen enden - keiner hat diese Bedingung der Kunst so rein erfüllt wie Ludwig Greve. Als der Zwanzigjährige 1944 in Lucca Gedichte zu schreiben begann, hatte er soeben seine Mutter auf abenteuerlicher Flucht gerettet, doch Vater und Schwester an die faschistischen Verfolger verloren. Er war keine zehn gewesen, als er und seine Familie in Berlin "zu Juden ernannt wurden", die nach vergeblicher Irrfahrt bis Havanna und dann, durch ganz Frankreich gehetzt, Italien erreichten, ehe eine Granate sie aus dem Versteck trieb und die Familie tödlich zerbrach. Nun saß Greve im Schutze der Franziskaner und des Bischofs von Lucca und versuchte Worte zu finden.
Greves erste Gedichte direkt "vom Stabreim zur Empörung" müssen ziemlich krude gewesen sein, doch als er sie unter den Augen des Bischofs aus Ritzen hervorholte, erhielt er von diesem so etwas wie den Dichtersegen: "Ecce poeta!" Eine gute Prophezeiung war es allemal. Greve ging 1945 nach Palästina, als Berufe verzeichnet die Vita "Hafenarbeiter, Bürohilfskraft, Autobusbillettverkäufer". Mit den Freunden Max und Margot Fürst kehrte er 1950 aus Israel nach Deutschland zurück. Es folgten einige Jahre im Künstlerkreis um den Graphiker Grieshaber, bis das "wilde, wüste Leben" eine feste Bahn bekam. Die Ehe mit der Musikerin Katharina Maillard schuf Greves Glück und familiäre Pflichten. Helmut Heißenbüttel traf Greve in einem Stuttgarter Reisebüro, und bald darauf begann er 1957 als freier Mitarbeiter am Literaturarchiv Marbach, wo er mehr als dreißig Jahre, ab 1968 als Leiter der Bibliothek und Kurator großer Ausstellungen, blieb.
Der Alltag beim - wie er 1988 zum Abschied in der ihm eigenen Tonlage formulierte - "Küchenpersonal" der deutschen Literatur schärfte Greves Blick zu mikroskopischer Feinheit und historischer Tiefe, reduzierte aber die freien Stunden auf ein Minimum. 1961 erschienen zwanzig "Gedichte", 1974 gab es vierundzwanzig "Neue Gedichte" mit dem Titel "Bei Tag". Greve fand unvergleichliche Leser in Friedhelm Kemp, Werner Kraft, Wilhelm Lehmann, den Marbacher Freunden und namhaften Germanisten, und trotzdem erschien noch im Frühjahr 1991 einer der wichtigsten Gedichtbände der deutschen Nachkriegszeit fast unvermerkt: vierzig Gedichte, alte, neue "und andere", versteckt hinter dem Titel "Sie lacht". Auch der Rezensent erfuhr erst durch Harald Hartungs ergreifenden Nachruf in dieser Zeitung von diesem Buch und daß es zu spät war, die Stimme des Dichters zu hören. Ludwig Greve ist am 12. Juli 1991 beim Bad in der Nordsee ertrunken.
Nun endlich liegen Greves lange vergriffenen Gedichte gesammelt vor, von den Freunden Reinhard Tgahrt und Waltraud Pfäfflin nach Marbacher Maßstäben ediert und erläutert; der Wallstein Verlag hat sie gediegen ausgestattet. Das kundige Nachwort und reiche Briefzitate machen den umfangreichen Anhang zu einem Lesevergnügen und im Verbund mit Greves gleichfalls abgedruckter Freiburger Rede zu einer individuellen Schule des Dichtens nach 1945: Wie es Greve gelang, im Dichten den "Panzer" abzulegen und ganz leicht zu werden, obwohl und gerade weil er, wie die Freiburger Rede belegt, Adornos Verdikt über die Barbarei eines Gedichtes nach Auschwitz persönlich nahm. Allerdings ging Greve, wie Uwe Pörksen, der Initiator der Freiburger Rede, soeben in einem Vergleich mit Celans Büchnerpreis-Rede zeigte, einen diametral anderen Weg als Paul Celan. Greve hatte keine Tradition, nicht Rilke-Klang noch Surrealismus, sondern "wie ein Flüchtling nach und nach seine Habe wegwirft, suchte ich das Verworfene Stück für Stück zusammen". Dieser Vergleich wendet die Erfahrung der Flucht in Sammlung und kehrt dabei den Sinn der Worte um: Aus der Habe wird das Verworfene, und das Verworfene wird Material der Rekonstruktion. Die Rückführung der Sprache in ihre Wörtlichkeit, die Konzentration auf Syntax und Rhythmus, der Verzicht auf Reim, Rhetorik und Bildlichkeit, diese Poetik ist es, die Greve sich anerzog. "Ich mußte doppelt und dreifach Lehrgeld zahlen, ehe mir aufging, daß das Leichte sich besser hält."
Dabei hat ihm Karl Kraus, den er noch in Israel gelesen hatte, "als guter Lehrer das Schreiben schwergemacht", aber auch gezeigt, "wie Kraus seiner Sprache inne wurde". Innewerden benennt treffend das poetologische Prinzip Greves: Seine Sprache war schon da, so wie er sie sprach. Er mußte nur, was "bedeutungsschwer, steil und vertrackt" war, das Dunkle und die "Inbrunst" weglassen, um das Schwerste sagen zu können. Ein glücklicher Fund ließ ihn bei Rudolf Borchardt die Form der Ode entdecken. Nicht die Larve hohen Tons, als die sie gilt, sondern die silbengenaue Spanne gesprochener Zeit, als Regel, "qui corrige l'émotion" (Braque). Diese Klärung ermöglichte 1965/66 das Gedicht "Mein Vater". Der 1944 versäumte Ruf, um den Vater und die Schwester von jenem Gang zurückzuhalten, der in den Tod führte, jenes von Greve selbst als tiefste Schuld empfundene Movens seines Dichtens, wird jetzt zögernd nachgeholt in der Gewißheit, allein, ohne Gegenüber zu sprechen. Die Unvorstellbarkeit des Geschehens führt zu einem tastenden Hantieren mit den Worten, und erst die äußerste Ungewißheit - "Genügt die Trauer?" - schlägt um in den Dank für das durch den Vater ermöglichte eigene Glück: Im Kinderlachen, im Hören auf die nächste Generation, findet die Nachfolge in den Tod ihren "unerschöpflichen" Grund. Die 28 alkäischen Verse schließen, im Zögern sich festigend, die Generationenfolge über den mörderischen Bruch hinweg. Das klingt hoffnungslos simpel, aber auch wer nach fünfzehn Jahren Vertrautheit mit dem Gedicht es Wort für Wort hersagt, dem verschlägt es den Atem, ehe sich Glück ausbreitet: nicht im geringsten, weil man als Deutscher entlastet würde, sondern aus Freude für den, dem das Gedicht gelang.
Es hatte auf Greve eine spürbar befreiende Wirkung, änderte es doch das Vorzeichen vor allem: Sein Glück der verbleibenden Jahre gehörte nicht mehr ihm selbst, sondern den Menschen um ihn. Greve, der sein Werk schonungslos kritisierte, hat von den nach 1966 verfaßten Gedichten nur eines als "zu angestrengt" ausgesondert. Den Rest ließ er gelten. Zu Recht, denn diese Gedichte bewahrheiten einen Satz Klopstocks, den Greve einmal brieflich zitierte: "Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehenen Götter." Ein Junitag in der Stadt, Freunde, Hannah Arendt, die schwäbische Landschaft, die Nordsee, der Krankenhaustod der Mutter, Greves Töchter und vor allem Greves Frau sind jene Wirklichkeiten, die zwischen den Worten erscheinen. Als Beispiel dafür mögen Verse aus einem Liebesgedicht von 1964 dienen: "Du gehst in Gedanken, meinen ... So biete / den schönsten mir, deiner Augen / Tiefe und grünen Spott zur Erfüllung".
Mit jedem Komma, jeder Pause schwingt die Perspektive zwischen Sprecher und Bewunderter hin und her, doch der erotische Blickwechsel geschieht allein durch die Fügung der Worte. Daß diese Kunst des Tonwechsels und der gleichzeitigen Fokalisierung mitten im Satz letztlich aus der Prosa kommt, kann man der unvollendet gebliebenen Autobiographie ("Wo gehörte ich hin?", 1994) und den kleinen Schriften Greves ("Besuch in der Villa Sardi", 2001) entnehmen. Wie in den Briefen finden sich dort die Ansätze des Hörens der eigenen Stimme so explizit, wie es in der Lyrik nur selten geschieht: "Ich höre mein eigenes Wort / leichthin gesprochen - wars ein Nachbar / oder die Brise? es klang wie Jubel, ...". Staunend hört da ein Überlebender, während die Juninacht ihn nicht schlafen läßt, seine Stimme im träumerischen Reflex.
Darf man ein so leises, intimes Werk wie dasjenige Greves neben jenes Celans stellen, dessen Editionen, Übersetzungen und Sekundärliteratur Bibliotheken füllen? Man muß es tun, doch Greves Spott ist dem Frager sicher: "Ja, es ist schon so, daß wir selbst die Scheibe beschlagen, durch die wir sehen wollen." Mit dem Wunder seiner letzten, vollkommenen Klarheit ließ er uns allein.
THOMAS POISS
Ludwig Greve: "Die Gedichte". Herausgegeben von Reinhard Tgahrt in Zusammenarbeit mit Waltraud Pfäfflin. Mit einem Nachwort von Harald Hartung. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 268 S., geb., 24,- [Euro].
Uwe Pörksen: "Ein Januartag im Gebirge". Ludwig Greve antwortet Paul Celan. Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 2006. 32 S., br., 7,- [Euro].
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Um das Schwerste zu sagen: Ludwig Greves gesammelte Gedichte
Trotz allem, "malgré tout", im Vollkommenen enden - keiner hat diese Bedingung der Kunst so rein erfüllt wie Ludwig Greve. Als der Zwanzigjährige 1944 in Lucca Gedichte zu schreiben begann, hatte er soeben seine Mutter auf abenteuerlicher Flucht gerettet, doch Vater und Schwester an die faschistischen Verfolger verloren. Er war keine zehn gewesen, als er und seine Familie in Berlin "zu Juden ernannt wurden", die nach vergeblicher Irrfahrt bis Havanna und dann, durch ganz Frankreich gehetzt, Italien erreichten, ehe eine Granate sie aus dem Versteck trieb und die Familie tödlich zerbrach. Nun saß Greve im Schutze der Franziskaner und des Bischofs von Lucca und versuchte Worte zu finden.
Greves erste Gedichte direkt "vom Stabreim zur Empörung" müssen ziemlich krude gewesen sein, doch als er sie unter den Augen des Bischofs aus Ritzen hervorholte, erhielt er von diesem so etwas wie den Dichtersegen: "Ecce poeta!" Eine gute Prophezeiung war es allemal. Greve ging 1945 nach Palästina, als Berufe verzeichnet die Vita "Hafenarbeiter, Bürohilfskraft, Autobusbillettverkäufer". Mit den Freunden Max und Margot Fürst kehrte er 1950 aus Israel nach Deutschland zurück. Es folgten einige Jahre im Künstlerkreis um den Graphiker Grieshaber, bis das "wilde, wüste Leben" eine feste Bahn bekam. Die Ehe mit der Musikerin Katharina Maillard schuf Greves Glück und familiäre Pflichten. Helmut Heißenbüttel traf Greve in einem Stuttgarter Reisebüro, und bald darauf begann er 1957 als freier Mitarbeiter am Literaturarchiv Marbach, wo er mehr als dreißig Jahre, ab 1968 als Leiter der Bibliothek und Kurator großer Ausstellungen, blieb.
Der Alltag beim - wie er 1988 zum Abschied in der ihm eigenen Tonlage formulierte - "Küchenpersonal" der deutschen Literatur schärfte Greves Blick zu mikroskopischer Feinheit und historischer Tiefe, reduzierte aber die freien Stunden auf ein Minimum. 1961 erschienen zwanzig "Gedichte", 1974 gab es vierundzwanzig "Neue Gedichte" mit dem Titel "Bei Tag". Greve fand unvergleichliche Leser in Friedhelm Kemp, Werner Kraft, Wilhelm Lehmann, den Marbacher Freunden und namhaften Germanisten, und trotzdem erschien noch im Frühjahr 1991 einer der wichtigsten Gedichtbände der deutschen Nachkriegszeit fast unvermerkt: vierzig Gedichte, alte, neue "und andere", versteckt hinter dem Titel "Sie lacht". Auch der Rezensent erfuhr erst durch Harald Hartungs ergreifenden Nachruf in dieser Zeitung von diesem Buch und daß es zu spät war, die Stimme des Dichters zu hören. Ludwig Greve ist am 12. Juli 1991 beim Bad in der Nordsee ertrunken.
Nun endlich liegen Greves lange vergriffenen Gedichte gesammelt vor, von den Freunden Reinhard Tgahrt und Waltraud Pfäfflin nach Marbacher Maßstäben ediert und erläutert; der Wallstein Verlag hat sie gediegen ausgestattet. Das kundige Nachwort und reiche Briefzitate machen den umfangreichen Anhang zu einem Lesevergnügen und im Verbund mit Greves gleichfalls abgedruckter Freiburger Rede zu einer individuellen Schule des Dichtens nach 1945: Wie es Greve gelang, im Dichten den "Panzer" abzulegen und ganz leicht zu werden, obwohl und gerade weil er, wie die Freiburger Rede belegt, Adornos Verdikt über die Barbarei eines Gedichtes nach Auschwitz persönlich nahm. Allerdings ging Greve, wie Uwe Pörksen, der Initiator der Freiburger Rede, soeben in einem Vergleich mit Celans Büchnerpreis-Rede zeigte, einen diametral anderen Weg als Paul Celan. Greve hatte keine Tradition, nicht Rilke-Klang noch Surrealismus, sondern "wie ein Flüchtling nach und nach seine Habe wegwirft, suchte ich das Verworfene Stück für Stück zusammen". Dieser Vergleich wendet die Erfahrung der Flucht in Sammlung und kehrt dabei den Sinn der Worte um: Aus der Habe wird das Verworfene, und das Verworfene wird Material der Rekonstruktion. Die Rückführung der Sprache in ihre Wörtlichkeit, die Konzentration auf Syntax und Rhythmus, der Verzicht auf Reim, Rhetorik und Bildlichkeit, diese Poetik ist es, die Greve sich anerzog. "Ich mußte doppelt und dreifach Lehrgeld zahlen, ehe mir aufging, daß das Leichte sich besser hält."
Dabei hat ihm Karl Kraus, den er noch in Israel gelesen hatte, "als guter Lehrer das Schreiben schwergemacht", aber auch gezeigt, "wie Kraus seiner Sprache inne wurde". Innewerden benennt treffend das poetologische Prinzip Greves: Seine Sprache war schon da, so wie er sie sprach. Er mußte nur, was "bedeutungsschwer, steil und vertrackt" war, das Dunkle und die "Inbrunst" weglassen, um das Schwerste sagen zu können. Ein glücklicher Fund ließ ihn bei Rudolf Borchardt die Form der Ode entdecken. Nicht die Larve hohen Tons, als die sie gilt, sondern die silbengenaue Spanne gesprochener Zeit, als Regel, "qui corrige l'émotion" (Braque). Diese Klärung ermöglichte 1965/66 das Gedicht "Mein Vater". Der 1944 versäumte Ruf, um den Vater und die Schwester von jenem Gang zurückzuhalten, der in den Tod führte, jenes von Greve selbst als tiefste Schuld empfundene Movens seines Dichtens, wird jetzt zögernd nachgeholt in der Gewißheit, allein, ohne Gegenüber zu sprechen. Die Unvorstellbarkeit des Geschehens führt zu einem tastenden Hantieren mit den Worten, und erst die äußerste Ungewißheit - "Genügt die Trauer?" - schlägt um in den Dank für das durch den Vater ermöglichte eigene Glück: Im Kinderlachen, im Hören auf die nächste Generation, findet die Nachfolge in den Tod ihren "unerschöpflichen" Grund. Die 28 alkäischen Verse schließen, im Zögern sich festigend, die Generationenfolge über den mörderischen Bruch hinweg. Das klingt hoffnungslos simpel, aber auch wer nach fünfzehn Jahren Vertrautheit mit dem Gedicht es Wort für Wort hersagt, dem verschlägt es den Atem, ehe sich Glück ausbreitet: nicht im geringsten, weil man als Deutscher entlastet würde, sondern aus Freude für den, dem das Gedicht gelang.
Es hatte auf Greve eine spürbar befreiende Wirkung, änderte es doch das Vorzeichen vor allem: Sein Glück der verbleibenden Jahre gehörte nicht mehr ihm selbst, sondern den Menschen um ihn. Greve, der sein Werk schonungslos kritisierte, hat von den nach 1966 verfaßten Gedichten nur eines als "zu angestrengt" ausgesondert. Den Rest ließ er gelten. Zu Recht, denn diese Gedichte bewahrheiten einen Satz Klopstocks, den Greve einmal brieflich zitierte: "Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehenen Götter." Ein Junitag in der Stadt, Freunde, Hannah Arendt, die schwäbische Landschaft, die Nordsee, der Krankenhaustod der Mutter, Greves Töchter und vor allem Greves Frau sind jene Wirklichkeiten, die zwischen den Worten erscheinen. Als Beispiel dafür mögen Verse aus einem Liebesgedicht von 1964 dienen: "Du gehst in Gedanken, meinen ... So biete / den schönsten mir, deiner Augen / Tiefe und grünen Spott zur Erfüllung".
Mit jedem Komma, jeder Pause schwingt die Perspektive zwischen Sprecher und Bewunderter hin und her, doch der erotische Blickwechsel geschieht allein durch die Fügung der Worte. Daß diese Kunst des Tonwechsels und der gleichzeitigen Fokalisierung mitten im Satz letztlich aus der Prosa kommt, kann man der unvollendet gebliebenen Autobiographie ("Wo gehörte ich hin?", 1994) und den kleinen Schriften Greves ("Besuch in der Villa Sardi", 2001) entnehmen. Wie in den Briefen finden sich dort die Ansätze des Hörens der eigenen Stimme so explizit, wie es in der Lyrik nur selten geschieht: "Ich höre mein eigenes Wort / leichthin gesprochen - wars ein Nachbar / oder die Brise? es klang wie Jubel, ...". Staunend hört da ein Überlebender, während die Juninacht ihn nicht schlafen läßt, seine Stimme im träumerischen Reflex.
Darf man ein so leises, intimes Werk wie dasjenige Greves neben jenes Celans stellen, dessen Editionen, Übersetzungen und Sekundärliteratur Bibliotheken füllen? Man muß es tun, doch Greves Spott ist dem Frager sicher: "Ja, es ist schon so, daß wir selbst die Scheibe beschlagen, durch die wir sehen wollen." Mit dem Wunder seiner letzten, vollkommenen Klarheit ließ er uns allein.
THOMAS POISS
Ludwig Greve: "Die Gedichte". Herausgegeben von Reinhard Tgahrt in Zusammenarbeit mit Waltraud Pfäfflin. Mit einem Nachwort von Harald Hartung. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 268 S., geb., 24,- [Euro].
Uwe Pörksen: "Ein Januartag im Gebirge". Ludwig Greve antwortet Paul Celan. Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 2006. 32 S., br., 7,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit an Ergriffenheit grenzender Begeisterung begrüßt es Rezensent Thomas Poiss, dass die lange vergriffenen Gedichte Ludwig Greves nun in einem Sammelband wieder vorliegen. Das ebenso leise wie intime Werk dieses Dichters sieht der Rezensent nämlich neben dem Werk Paul Celans stehen, Grebes Auseinandersetzung mit der Frage des Dichtens nach Auschwitz hat für Poiss tiefe Gültigkeit. Im Verbund mit der im Band gleichfalls abgedruckten "Freiburger Rede" wird die Edition aus seiner Sicht zu einer "individuellen Schule des Dichtens nach 1945". Auch die Ausstattung des Bandes und die Arbeit der Herausgeber werden gelobt. Das informative Nachwort und die ausführlichen Briefzitate machen den Anhang für Poiss zum zusätzlichen "Lesevergnügen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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