Wie tief drangen die Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts ins Private ein? Wie stark versuchten neue Ideologien die Familie zu verändern und zu formen? In der groß angelegten Studie der totalitären Systeme Europas zwischen 1900 und 1950 des britischen Historikers Paul Ginsborg steht erstmals die Familie im Mittelpunkt.
Paul Ginsborg zeigt an namhaften historischen Beispielen, aber auch am Alltag einfacher Leute, wie politische Theorien und Ideologien versuchten, auch die kleinste Einheit der Gesellschaft zu formen - und teils scheiterten, teils Spuren hinterließen. Dabei spannt er den Bogen von Russland während Revolution und Stalinismus, der Türkei auf dem Weg zur Republik über Italien während des Faschismus und Spanien im Bürgerkrieg hin zu Deutschland im Nationalsozialismus. Mit großer Erzählkraft macht der Autor den Gegensatz sichtbar zwischen neuen Normen und Kodizes einerseits und realem Familienleben andererseits.
Ein Standardwerk, das in Italien Sachbuch des Jahres wurde.
Paul Ginsborg zeigt an namhaften historischen Beispielen, aber auch am Alltag einfacher Leute, wie politische Theorien und Ideologien versuchten, auch die kleinste Einheit der Gesellschaft zu formen - und teils scheiterten, teils Spuren hinterließen. Dabei spannt er den Bogen von Russland während Revolution und Stalinismus, der Türkei auf dem Weg zur Republik über Italien während des Faschismus und Spanien im Bürgerkrieg hin zu Deutschland im Nationalsozialismus. Mit großer Erzählkraft macht der Autor den Gegensatz sichtbar zwischen neuen Normen und Kodizes einerseits und realem Familienleben andererseits.
Ein Standardwerk, das in Italien Sachbuch des Jahres wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014Neue Frauen und ihre Vorzeigekinder
Revolutionäre und Diktatoren haben stets versucht, Zugriff auf die Familie zu bekommen. Mit welchen perfiden Mitteln dies geschah, zeigt Paul Ginsborg in seiner großen Studie.
Von Nina Verheyen
Die Politikgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts macht um die Familie oft einen Bogen. Den Diktatoren, die in diesem Zeitraum herrschten, war die Bedeutung des Privaten dagegen vollkommen klar. Einerseits fürchteten sie den Widerstand familiärer Binde- und Beharrungskräfte. Denn stets gab es Menschen, die ihre Kinder und Eltern, Ehepartner und Geschwister dem Zugriff autoritärer oder totalitärer Machtapparate entziehen und sie vor der bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber den selbsterklärten Führern des Volkes schützen wollten.
Andererseits glaubten Hitler und Stalin, Mussolini und Franco an die Möglichkeit, Familienstrukturen zu ihren Gunsten formen zu können. Sie lockten und stärkten bestimmte Familien mit pronatalistischen Anreizen, andere brachten sie um. In der auf diese Weise brutal dezimierten Sowjetunion blieb "eine Gesellschaft zurück, die aus Fragmenten von Familien bestand: verlassene Kinder; Ehemänner und Ehefrauen, die auseinander gerissen wurden; Jugendliche, denen man beibrachte, ihre Väter (in manchen Fällen auch ihre Mütter) als Verräter zu verachten. Das NS-Regime hingegen ging gleichsam wissenschaftlich vor; es ging ihm um einen "sauberen" und tiefen "Schnitt", um ein "Krebsgeschwür", wie es hieß, zu entfernen.
Diese Vergleiche zieht Paul Ginsborg, Professor für moderne europäische Geschichte in Florenz und Kenner der Geschichte Italiens in der Neuzeit, nun in seiner monumentalen komparatistischen Studie über "Die geführte Familie". Im Zentrum stehen das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien, Russland zwischen Revolution und Stalinismus, Spanien im Bürgerkrieg und schließlich die kemalistische Türkei.
Auf der Grundlage von Forschungsliteratur und gedruckten Quellen bietet Ginsborg ausführliche Einblicke in den Familienalltag, in demographische Strukturen und eben die Familienpolitik. Zugleich liefert er biographische Darstellungen von prominenten Einzelschicksalen - die Phalanx reicht von Joseph und Magda Goebbels mit ihren Vorzeigekindern des Nationalsozialismus über die spanische Feministin Margarita Nelken bis hin zu Antonio Gramsci, der sich in Differenz zu anderen Sozialisten für den Schutz der Familie einsetzte, die ihm als Instrument einer Erziehung zur Tugend galt.
Dabei ist jedem Land ein eigenes Kapitel gewidmet, inklusiver vergleichender Seitenblicke. So lernt man etwa über die Türkei: Während die Revolutionäre in Russland die bürgerliche Familie für ein Auslaufmodell hielten, machte Mustafa Kemal Atatürk sie zum Ziel seiner Reformen. Er sprach sich gegen die Vielehe aus, propagierte das Modell einer "neuen Frau" und importierte 1926 das Schweizer Ehe- und Familienrecht.
Das zentrale Problem des Buches ist nicht einmal in erster Linie, dass solche erhellenden transfergeschichtlichen Hinweise selten sind, sondern dass die Vergleiche oft oberflächlich bleiben. Außerdem verpufft ihr heuristischer Wert, denn Erklärungen werden vor allem im Vergleich des ganz konkreten Familienlebens der Akteure gesucht.
Hitler, Stalin, Franco und auch Kemal, der hier etwas vorschnell mit den anderen in eine Reihe gestellt wird, hätten "lieblose Väter" und "überfürsorgliche, kontrollwütige Mütter" gehabt. Diese Kombination scheine folglich "den Nährboden zu bilden für künftige Diktatoren", die dann das Familienleben der anderen mit Füßen traten. Dass die russischen Revolutionäre keine positive Vision von Ehe und Kindererziehung entwickelten und ihre Anhänger damit vor den Kopf stießen, wird zwar zuerst noch durch die Einflüsse von Karl Marx erhellt, der in Differenz zu Hegel die Familie nicht mehr für theoriewürdig hielt.
Aber ins Zentrum rückt Ginsborg dann schließlich eine küchenpsychologische Beobachtung: "An lange Jahre in der Verbannung, an Gefangenschaft und Sibirien gewöhnt, erwarben sie als Gruppe keine besonders starke Sensibilität für zwischenmenschliche Beziehungen und noch weniger für das Ehe- und Familienleben." Und warum avancierte Gramsci zum linken Verteidiger familiärer Werte? Als Kind habe er sich aufgrund einer körperlichen Missbildung in der eigenen Familie "wie ein Fremder" gefühlt. Seither sehnte er mehr Familienleben herbei.
Die umfangreiche Monographie, die in Italien zum Sachbuch des Jahres gekürt wurde, ist letztlich eine Ode an die Familie, und zwar an jene, die in Liebe verbunden ist. Ginsborg betont, selbst in totalitären Systemen sei das Familienleben nie bloß ein Objekt der Regime gewesen, denn neben die Macht der Führenden trat stets die Macht der Familien. Das leuchtet ein, und die Forschung sollte diesen Umstand tatsächlich stärker beachten. Allerdings tendiert Ginsborg dazu, die Familie zu einem einheitlich handelnden kollektiven Akteur zu stilisieren. Er verweist zum Beispiel auf das Schicksal von Victor Klemperer. Dieser aber wurde im Krieg nicht von seiner Familie gerettet, sondern von seiner Frau.
Zwar handelten viele nichtjüdische Ehefrauen jüdischer Männer im nationalsozialistischen Deutschland ähnlich. Nichtjüdische Ehemänner von jüdischen Frauen ließen sich dagegen auffällig oft scheiden. Familienmitglieder agierten also keineswegs einheitlich. Zu untersuchen wäre daher, wie sich familiäre Loyalitäten abhängig von geschlechtlichen, religiösen, generationalen Identitäten im zwanzigsten Jahrhundert aus- und rückbildeten, dabei stets natürlich wirkten und gerade deshalb eine politische Kraft darstellten, die oft übersehen wird. Trotz dieser Defizite entfaltet die Darstellung einen eigenen Reiz.
Ginsborg bietet ein vielschichtiges Panorama des Privaten in der - mitunter nur vermeintlichen - Hand der Politik, das sich in jedem Kapitel kaleidoskopartig verschiebt und so immer neue Facetten des Themas enthüllt. Informativ ist das allemal, eine wichtige konzeptionelle Anregung für die Forschung ist es auch, und so freut man sich bei der Lektüre schon auf das noch zu schreibende Buch, das die Politik der Familie in Revolution und Diktatur tatsächlich vergleichen wird.
Paul Ginsborg: "Die geführte Familie". Das Private in Revolution und Diktatur 1900-1950. Aus dem Englischen von Ursula Held, Norbert Juraschitz und Heike Schlatterer. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2014. 752 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Revolutionäre und Diktatoren haben stets versucht, Zugriff auf die Familie zu bekommen. Mit welchen perfiden Mitteln dies geschah, zeigt Paul Ginsborg in seiner großen Studie.
Von Nina Verheyen
Die Politikgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts macht um die Familie oft einen Bogen. Den Diktatoren, die in diesem Zeitraum herrschten, war die Bedeutung des Privaten dagegen vollkommen klar. Einerseits fürchteten sie den Widerstand familiärer Binde- und Beharrungskräfte. Denn stets gab es Menschen, die ihre Kinder und Eltern, Ehepartner und Geschwister dem Zugriff autoritärer oder totalitärer Machtapparate entziehen und sie vor der bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber den selbsterklärten Führern des Volkes schützen wollten.
Andererseits glaubten Hitler und Stalin, Mussolini und Franco an die Möglichkeit, Familienstrukturen zu ihren Gunsten formen zu können. Sie lockten und stärkten bestimmte Familien mit pronatalistischen Anreizen, andere brachten sie um. In der auf diese Weise brutal dezimierten Sowjetunion blieb "eine Gesellschaft zurück, die aus Fragmenten von Familien bestand: verlassene Kinder; Ehemänner und Ehefrauen, die auseinander gerissen wurden; Jugendliche, denen man beibrachte, ihre Väter (in manchen Fällen auch ihre Mütter) als Verräter zu verachten. Das NS-Regime hingegen ging gleichsam wissenschaftlich vor; es ging ihm um einen "sauberen" und tiefen "Schnitt", um ein "Krebsgeschwür", wie es hieß, zu entfernen.
Diese Vergleiche zieht Paul Ginsborg, Professor für moderne europäische Geschichte in Florenz und Kenner der Geschichte Italiens in der Neuzeit, nun in seiner monumentalen komparatistischen Studie über "Die geführte Familie". Im Zentrum stehen das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien, Russland zwischen Revolution und Stalinismus, Spanien im Bürgerkrieg und schließlich die kemalistische Türkei.
Auf der Grundlage von Forschungsliteratur und gedruckten Quellen bietet Ginsborg ausführliche Einblicke in den Familienalltag, in demographische Strukturen und eben die Familienpolitik. Zugleich liefert er biographische Darstellungen von prominenten Einzelschicksalen - die Phalanx reicht von Joseph und Magda Goebbels mit ihren Vorzeigekindern des Nationalsozialismus über die spanische Feministin Margarita Nelken bis hin zu Antonio Gramsci, der sich in Differenz zu anderen Sozialisten für den Schutz der Familie einsetzte, die ihm als Instrument einer Erziehung zur Tugend galt.
Dabei ist jedem Land ein eigenes Kapitel gewidmet, inklusiver vergleichender Seitenblicke. So lernt man etwa über die Türkei: Während die Revolutionäre in Russland die bürgerliche Familie für ein Auslaufmodell hielten, machte Mustafa Kemal Atatürk sie zum Ziel seiner Reformen. Er sprach sich gegen die Vielehe aus, propagierte das Modell einer "neuen Frau" und importierte 1926 das Schweizer Ehe- und Familienrecht.
Das zentrale Problem des Buches ist nicht einmal in erster Linie, dass solche erhellenden transfergeschichtlichen Hinweise selten sind, sondern dass die Vergleiche oft oberflächlich bleiben. Außerdem verpufft ihr heuristischer Wert, denn Erklärungen werden vor allem im Vergleich des ganz konkreten Familienlebens der Akteure gesucht.
Hitler, Stalin, Franco und auch Kemal, der hier etwas vorschnell mit den anderen in eine Reihe gestellt wird, hätten "lieblose Väter" und "überfürsorgliche, kontrollwütige Mütter" gehabt. Diese Kombination scheine folglich "den Nährboden zu bilden für künftige Diktatoren", die dann das Familienleben der anderen mit Füßen traten. Dass die russischen Revolutionäre keine positive Vision von Ehe und Kindererziehung entwickelten und ihre Anhänger damit vor den Kopf stießen, wird zwar zuerst noch durch die Einflüsse von Karl Marx erhellt, der in Differenz zu Hegel die Familie nicht mehr für theoriewürdig hielt.
Aber ins Zentrum rückt Ginsborg dann schließlich eine küchenpsychologische Beobachtung: "An lange Jahre in der Verbannung, an Gefangenschaft und Sibirien gewöhnt, erwarben sie als Gruppe keine besonders starke Sensibilität für zwischenmenschliche Beziehungen und noch weniger für das Ehe- und Familienleben." Und warum avancierte Gramsci zum linken Verteidiger familiärer Werte? Als Kind habe er sich aufgrund einer körperlichen Missbildung in der eigenen Familie "wie ein Fremder" gefühlt. Seither sehnte er mehr Familienleben herbei.
Die umfangreiche Monographie, die in Italien zum Sachbuch des Jahres gekürt wurde, ist letztlich eine Ode an die Familie, und zwar an jene, die in Liebe verbunden ist. Ginsborg betont, selbst in totalitären Systemen sei das Familienleben nie bloß ein Objekt der Regime gewesen, denn neben die Macht der Führenden trat stets die Macht der Familien. Das leuchtet ein, und die Forschung sollte diesen Umstand tatsächlich stärker beachten. Allerdings tendiert Ginsborg dazu, die Familie zu einem einheitlich handelnden kollektiven Akteur zu stilisieren. Er verweist zum Beispiel auf das Schicksal von Victor Klemperer. Dieser aber wurde im Krieg nicht von seiner Familie gerettet, sondern von seiner Frau.
Zwar handelten viele nichtjüdische Ehefrauen jüdischer Männer im nationalsozialistischen Deutschland ähnlich. Nichtjüdische Ehemänner von jüdischen Frauen ließen sich dagegen auffällig oft scheiden. Familienmitglieder agierten also keineswegs einheitlich. Zu untersuchen wäre daher, wie sich familiäre Loyalitäten abhängig von geschlechtlichen, religiösen, generationalen Identitäten im zwanzigsten Jahrhundert aus- und rückbildeten, dabei stets natürlich wirkten und gerade deshalb eine politische Kraft darstellten, die oft übersehen wird. Trotz dieser Defizite entfaltet die Darstellung einen eigenen Reiz.
Ginsborg bietet ein vielschichtiges Panorama des Privaten in der - mitunter nur vermeintlichen - Hand der Politik, das sich in jedem Kapitel kaleidoskopartig verschiebt und so immer neue Facetten des Themas enthüllt. Informativ ist das allemal, eine wichtige konzeptionelle Anregung für die Forschung ist es auch, und so freut man sich bei der Lektüre schon auf das noch zu schreibende Buch, das die Politik der Familie in Revolution und Diktatur tatsächlich vergleichen wird.
Paul Ginsborg: "Die geführte Familie". Das Private in Revolution und Diktatur 1900-1950. Aus dem Englischen von Ursula Held, Norbert Juraschitz und Heike Schlatterer. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2014. 752 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Immerhin: Das Buch des Historikers Paul Ginsborg über die Rolle der Familie in Revolution und Diktatur macht Rezensentin Nina Verheyen Lust auf noch zu schreibende Studien. Diese sollten dann unbedingt die Politik der Familie in Revolution und Diktatur tatsächlich vergleichen, meint sie. Was der Autor hier anhand des nationalsozialistischen Deutschland, des faschistischen Italien, Russland, Spanien und der Türkei und unter Einbezug von Forschung und Quellen leistet, erschöpft sich für die Rezensentin hingegen in einem Einblick in Familienalltag und -politik, Demografie und Einzelschicksale (Goebbels und Gramsci etwa). Vergleiche jedoch sind selten oder bleiben oberflächlich, kritisiert Verheyen. Außerdem fallen ihr küchenpsychologische Beobachtungen des Autors auf. Als informatives, vielschichtiges Panorama des Privaten in der Politik geht der Band für sie aber dennoch durch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Eine längst überfällige,
bahnbrechende Untersuchung." La Repubblica, Rom
bahnbrechende Untersuchung." La Repubblica, Rom