April 1938: Der Student Karl Bleimfeldner kehrt in seinen Heimatort zurück, um gegen den "Anschluss" an Hitlerdeutschland zu stimmen - als einziger im Dorf. Die riskante Tat bleibt nicht ohne Folgen im politisch aufgehetzten Landstrich. Gerüchte werden laut. Die Familie verstummt. Und eine Handvoll Übermütiger bricht auf, um den Verräter im Wald zu stellen. Wie durch ein Brennglas nimmt Thomas Arzt in "Die Gegenstimme" die 24 Stunden des 10. April in den Blick, an dem sich die nationalsozialistische Machtübernahme in Österreich vollzog, und schildert vielstimmig und eindringlich die Geschichte seines eigenen Großonkels - als fieberhaft rastlose Erzählung über Mitläufertum, Feigheit, Ausweglosigkeit, Fanatismus und Widerstand.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Joseph Hanimann lauscht noch lange dem "grausigen" Nachhhall des Debütromans des Bühnenautors Thomas Arzt. In 29 Kapiteln begegnet er hier einer oberösterreichischen Dorfgemeinschaft im Jahr 1938, in deren Mittelpunkt der studierte Schustersohn Karl steht. Der hat am Wahlsonntag nämlich nicht Hitler gewählt und wurde in Folge, nachdem er beim Wählen vor Angst in die Hose gepinkelt hat, von den Dorfnazis mit Pistolen verfolgt und als "Gesinnungssau" beschimpft, resümiert der Kritiker, der hier eine Menge skurrile Situationen und differenzierte Figuren entdeckt. Gebannt, mitunter beklommen liest Hanimann die in "verkünstelt lokalem Sprachklang" erzählten Anekdoten. Auch dass Arzt genug Spielraum für Fantasie lässt, verbucht er als Gewinn. Den Gegenwartsbezug vernimmt der Kritiker zwar deutlich, aber für einen "epochenergreifenden Problemroman" ist die Geschichte einfach zu genau datiert, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.08.2021Ereignisse eines
schönen Tages
Thomas Arzts Romandebüt „Die Gegenstimme“
Am Abend des 10. April 1938 wird viel passiert sein im oberösterreichischen Dorf unter dem Hochkogel. Es ist Wahlsonntag. Großbeflaggung überall, Messe vormittags in der Kirche, dann Festessen, Blasmusik und Männerchor, Bier abends beim Platzer in der Gaststube. Einstimmig werden die Dorfbürger dem Anschluss ihres Landes an Hitlers Deutschland zugestimmt haben. Abgesehen von einer Gegenstimme.
Mit der klassischen Regel der Einheit von Ort, Zeit und Handlung treibt der bisher als Bühnenautor bekannte Thomas Arzt in seinem Erstlingsroman das Geschehen durchs Gestrüpp aus saftiger Situationsschilderung, direkter Rede im Dialektklang, inneren Monologen und entrücktem Erzählergemurmel. Ein Heimatroman? Wenn, dann einer, der nicht wohlige Vertrautheit verbreitet, sondern das historisch Bekannte und Vertraute grausig nachhallen lässt.
„Geht der Bleimfeldner Karl, geht er die Ortsstraße hinan“. Wie Ahnenbilder am Nagel auf der Stubenwand hängen die Anfangssätze der 29 jeweils an einer Romanfigur festgemachten Kapitel am Verb, das in den Folgesätzen dann oft fehlt, weil man unter den Dorfbewohnern sich eh versteht und also die Sätze nicht fertig zu machen braucht. Karl ist die Hauptfigur, ein Studierter, Sohn des Ortsschusters, der für diesen Sonntag aus Innsbruck nach Hause zurückgekehrt ist. Doch „ganz bist ja nie weg, auch wennst nimmer da“, denkt er sich beim Hinangehen durchs Dorf. Am Nachmittag wird er dann weniger besinnlich oben auf dem Berg herumlaufen und verstört einen Unterschlupf suchen vor einer ihm auf der Spur folgenden Meute aus Deppen und Jungnazis. Zuvor hat er im Wahllokal, wo die anderen ihr „Ja“ stolz in aller Öffentlichkeit ankreuzten, beim Ankreuzen des „Nein“ hinter dem Vorhang aus Panik vor den Folgen seines Muts sich nicht verhalten können, so dass es über den Gemeindehausboden rann. „Der Trottl hat auf Hitler gebrunzt“, hat einer gerufen. So ist das junge Volk nun mit Stöcken und Pistolen hinter der „Gesinnungssau“ her.
Thomas Arzt zeigt in diesem Buch, wie geschickt er auch im Roman Situationen, Szenen, Stimmungen aus Personen entwickeln kann. Wirken die meisten Dörfler eher als laue Mitläufer, die sich vom Wohl des Großdeutschen für ihr persönliches Leben mühselig selbst zu überzeugen suchen, ragen einige Profile scharf und kantig heraus. Die Kern Cilli zum Beispiel, Tochter des Neubürgermeisters, der die Zeichen der Zeit schnell erkannt und den Altbürgermeister – „Tu ned lang um und setz deinen Haxn drunter“ – abserviert hat. Auch ihr eigener Vater kommt dieser Cilli, die vom politischen Scharfmacher Oskar aus dem Priesterseminar schwärmt und unter der Bluse ein Hitlerfoto trägt, mit seiner Schweinebratengemütlichkeit der neuen Zeit unwürdig vor. Denn sie selber träumt vom unbedingten Willen auf den künftigen Schlachtfeldern.
Oder da ist auch noch der Klosterförster Lang. Ihm ist zwar peinlich, im Dienst bloß der Katholischen zu stehen, doch will er umso stolzer die prächtigste Eiche seines Walds zur Feier des Tages als „Führerstamm“ für besonders starke Balken fällen, bevor der Seminarlehrer Gotthard ihm in den Arm fällt. Diese Eiche müsse stehen bleiben, mahnt er, der mit seinen Schülern gern zum Goethe-Lesen unter dem deutschen Baum heraufkommt. Der Förster solle lieber die anderen Bäume drum rum weghauen.
Mit Sinn für effektvolle Szenensprünge spannt der Autor im beschleunigten Kapitelrhythmus die Ereignisse des schauerlich heiteren Tages auf. Man ist gefesselt von der in den verkünstelt lokalen Sprachklang gepackten Anekdotenvielfalt und zusehends beklemmt vom ganzen Drum und Dran. Ein seltsames Déjà-vu schwebt über dem Text. Es ist, als flimmerte die Atmosphäre von Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ mit, statt als eindeutige Rückspiegelung der Gegenwart in die braune Vergangenheit wie bei Sperr nun allerdings als latente Vorwegnahme unseres heutigen Heute. Mit Halbsätzen wie „…wird Karls Friedlschwester später sagen“ rutscht die Erzählung aus der Gegenwart manchmal kurz in die Zukunft ab, ohne zu präzisieren, wann, wo und bei welcher Gelegenheit die Schwester das sagen wird. Als kreiste die Zeit seit jenem besonderen Tag um sich selbst.
Ist das also Regionalliteratur? Ein historischer Roman? Ein Wink für unsere Gegenwart mit dem Zaunpfahl der Geschichte? Eine Parabel über Mitläufertum, Resignation, Verweigerung, Widerstand? Der Autor, hört man, erzähle hier die Geschichte seines Großonkels. Als Huldigung an den Mut der Verweigerung ist der Roman überzeugend, denn die Vielfalt der Profile lässt keine vereinfachende Stereotypen aufkommen. Jeder hat seine Gründe fürs Mitmachen und der einzige Querläufer ist auch kein Held, sondern wartet am anderen Morgen am Bahnhof auf den Zug zurück nach Innsbruck. Das entstandene Panorama lässt aber an ein Ausmalblatt mit kunstvoll gezeichneten Schablonen denken, die man beim Lesen in der Phantasie prächtig einfärben kann. Statt eines Abgrunds tut sich dahinter nur ein etwas unheimlicher Hintergrund auf, der ebenfalls zum Kolorieren einlädt. Für einen Geschichtsroman wäre dieses Buch zu pittoresk, für einen epochenübergreifenden Problemroman zu eindeutig datiert. Bleibt das spannende Porträt eines Unbeugsamen, der nach diesem einen Tag wieder in die Anonymität seiner Existenz verschwindet.
JOSEPH HANIMANN
Das ganze Dorf stimmt
für den Anschluss an Deutschland,
nur einer stimmt dagegen
Jeder hatte seine Gründe fürs
Mitmachen und der Querläufer
ist auch kein Held
Thomas Arzt: Die Gegenstimme. Roman. Residenz Verlag, Salzburg, 2021.
192 Seiten. 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
schönen Tages
Thomas Arzts Romandebüt „Die Gegenstimme“
Am Abend des 10. April 1938 wird viel passiert sein im oberösterreichischen Dorf unter dem Hochkogel. Es ist Wahlsonntag. Großbeflaggung überall, Messe vormittags in der Kirche, dann Festessen, Blasmusik und Männerchor, Bier abends beim Platzer in der Gaststube. Einstimmig werden die Dorfbürger dem Anschluss ihres Landes an Hitlers Deutschland zugestimmt haben. Abgesehen von einer Gegenstimme.
Mit der klassischen Regel der Einheit von Ort, Zeit und Handlung treibt der bisher als Bühnenautor bekannte Thomas Arzt in seinem Erstlingsroman das Geschehen durchs Gestrüpp aus saftiger Situationsschilderung, direkter Rede im Dialektklang, inneren Monologen und entrücktem Erzählergemurmel. Ein Heimatroman? Wenn, dann einer, der nicht wohlige Vertrautheit verbreitet, sondern das historisch Bekannte und Vertraute grausig nachhallen lässt.
„Geht der Bleimfeldner Karl, geht er die Ortsstraße hinan“. Wie Ahnenbilder am Nagel auf der Stubenwand hängen die Anfangssätze der 29 jeweils an einer Romanfigur festgemachten Kapitel am Verb, das in den Folgesätzen dann oft fehlt, weil man unter den Dorfbewohnern sich eh versteht und also die Sätze nicht fertig zu machen braucht. Karl ist die Hauptfigur, ein Studierter, Sohn des Ortsschusters, der für diesen Sonntag aus Innsbruck nach Hause zurückgekehrt ist. Doch „ganz bist ja nie weg, auch wennst nimmer da“, denkt er sich beim Hinangehen durchs Dorf. Am Nachmittag wird er dann weniger besinnlich oben auf dem Berg herumlaufen und verstört einen Unterschlupf suchen vor einer ihm auf der Spur folgenden Meute aus Deppen und Jungnazis. Zuvor hat er im Wahllokal, wo die anderen ihr „Ja“ stolz in aller Öffentlichkeit ankreuzten, beim Ankreuzen des „Nein“ hinter dem Vorhang aus Panik vor den Folgen seines Muts sich nicht verhalten können, so dass es über den Gemeindehausboden rann. „Der Trottl hat auf Hitler gebrunzt“, hat einer gerufen. So ist das junge Volk nun mit Stöcken und Pistolen hinter der „Gesinnungssau“ her.
Thomas Arzt zeigt in diesem Buch, wie geschickt er auch im Roman Situationen, Szenen, Stimmungen aus Personen entwickeln kann. Wirken die meisten Dörfler eher als laue Mitläufer, die sich vom Wohl des Großdeutschen für ihr persönliches Leben mühselig selbst zu überzeugen suchen, ragen einige Profile scharf und kantig heraus. Die Kern Cilli zum Beispiel, Tochter des Neubürgermeisters, der die Zeichen der Zeit schnell erkannt und den Altbürgermeister – „Tu ned lang um und setz deinen Haxn drunter“ – abserviert hat. Auch ihr eigener Vater kommt dieser Cilli, die vom politischen Scharfmacher Oskar aus dem Priesterseminar schwärmt und unter der Bluse ein Hitlerfoto trägt, mit seiner Schweinebratengemütlichkeit der neuen Zeit unwürdig vor. Denn sie selber träumt vom unbedingten Willen auf den künftigen Schlachtfeldern.
Oder da ist auch noch der Klosterförster Lang. Ihm ist zwar peinlich, im Dienst bloß der Katholischen zu stehen, doch will er umso stolzer die prächtigste Eiche seines Walds zur Feier des Tages als „Führerstamm“ für besonders starke Balken fällen, bevor der Seminarlehrer Gotthard ihm in den Arm fällt. Diese Eiche müsse stehen bleiben, mahnt er, der mit seinen Schülern gern zum Goethe-Lesen unter dem deutschen Baum heraufkommt. Der Förster solle lieber die anderen Bäume drum rum weghauen.
Mit Sinn für effektvolle Szenensprünge spannt der Autor im beschleunigten Kapitelrhythmus die Ereignisse des schauerlich heiteren Tages auf. Man ist gefesselt von der in den verkünstelt lokalen Sprachklang gepackten Anekdotenvielfalt und zusehends beklemmt vom ganzen Drum und Dran. Ein seltsames Déjà-vu schwebt über dem Text. Es ist, als flimmerte die Atmosphäre von Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ mit, statt als eindeutige Rückspiegelung der Gegenwart in die braune Vergangenheit wie bei Sperr nun allerdings als latente Vorwegnahme unseres heutigen Heute. Mit Halbsätzen wie „…wird Karls Friedlschwester später sagen“ rutscht die Erzählung aus der Gegenwart manchmal kurz in die Zukunft ab, ohne zu präzisieren, wann, wo und bei welcher Gelegenheit die Schwester das sagen wird. Als kreiste die Zeit seit jenem besonderen Tag um sich selbst.
Ist das also Regionalliteratur? Ein historischer Roman? Ein Wink für unsere Gegenwart mit dem Zaunpfahl der Geschichte? Eine Parabel über Mitläufertum, Resignation, Verweigerung, Widerstand? Der Autor, hört man, erzähle hier die Geschichte seines Großonkels. Als Huldigung an den Mut der Verweigerung ist der Roman überzeugend, denn die Vielfalt der Profile lässt keine vereinfachende Stereotypen aufkommen. Jeder hat seine Gründe fürs Mitmachen und der einzige Querläufer ist auch kein Held, sondern wartet am anderen Morgen am Bahnhof auf den Zug zurück nach Innsbruck. Das entstandene Panorama lässt aber an ein Ausmalblatt mit kunstvoll gezeichneten Schablonen denken, die man beim Lesen in der Phantasie prächtig einfärben kann. Statt eines Abgrunds tut sich dahinter nur ein etwas unheimlicher Hintergrund auf, der ebenfalls zum Kolorieren einlädt. Für einen Geschichtsroman wäre dieses Buch zu pittoresk, für einen epochenübergreifenden Problemroman zu eindeutig datiert. Bleibt das spannende Porträt eines Unbeugsamen, der nach diesem einen Tag wieder in die Anonymität seiner Existenz verschwindet.
JOSEPH HANIMANN
Das ganze Dorf stimmt
für den Anschluss an Deutschland,
nur einer stimmt dagegen
Jeder hatte seine Gründe fürs
Mitmachen und der Querläufer
ist auch kein Held
Thomas Arzt: Die Gegenstimme. Roman. Residenz Verlag, Salzburg, 2021.
192 Seiten. 20 Euro.
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