Obwohl ihm bei seiner Heimkehr nach England der Galgen droht, kehrt Jack Maggs dorthin zurück. Er sucht seinen Ziehsohn. Da trifft er auf einen Schriftsteller, der ihm durch Mesmerismus seine Seelengeheimnisse entlocken will. Peter Carey entwirft eine wundersame Geschichte von Obsessionen, obskuren Machenschaften und unerfüllbaren Träumen, die in der nebelverhangenen Welt des viktorianischen London spielt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.1999Engelmacherin im Nebel
Peter Careys Roman über die Machenschaften des Jack Maggs
London im Jahre 1837. In den von Gaslaternen erleuchteten Straßen hängt der Nebel, über das Pflaster rumpeln Kutschen, es riecht nach Ruß und Pferdeäpfeln. Ein ehemaliger Sträfling, auf Lebenszeit nach Australien verbannt, dem in England der Galgen droht, kehrt heimlich zurück. Der in der Fremde zu Reichtum gekommene Jack Maggs sucht einen jungen Mann, dem er als unbekannter Wohltäter ein süßes Leben ermöglicht hat.
Der mit allen Wassern gewaschene australische Schriftsteller Peter Carey spielt lustvoll mit den Sentimentalitäten und Versatzstücken des viktorianischen Romans. Der deutsche Titel setzt auf das Abenteuerliche der Geschichte - im Original heißt das Buch nur "Jack Maggs" -, auf das Degen-und-Mantel-Stück, auf die Weise von verbotener Liebe und traurigem Tod. Wie anders sollte man die Geschichte hierzulande lesen? Doch Carey ist zu raffiniert, um einen naiven Historienschinken zu verfassen. Sein Buch ist eine Auseinandersetzung mit dem größten viktorianischen Romancier, Charles Dickens. Carey umspielt Dickens' "Große Erwartungen", einen Roman, in dem es um Snobismus und ein falsches Gentleman-Ideal geht, um Erwartungen auf Geld und eine vorteilhafte Heirat. Dickens' Held heißt Magwitch; die Fesseln dieses Kriminellen feilt ein kleiner Junge auf, dem der entflohene Verbrecher eine sentimentale Anhänglichkeit bewahrt.
Doch nicht allein Anspielungen, Zitate, Handlungsmotive entnimmt Carey dem Roman des großen Vorgängers. Dickens' Leben wird zum Gegenstand seiner Geschichte. Maggs' Gegenspieler ist der Schriftsteller Thomas Oates, ein Mann, der wie Dickens von seinen Gläubigern verfolgt, von einer heimlichen Liebe zur Schwägerin gequält wird. Bei Carey ist Oates ein armer Teufel, der, wo er geht und steht, Notizbücher vollkritzelt, Reportagen verfaßt, Romanpartien entwirft. Stoffgierig stürzt er sich auf Jack Maggs, dem er mit Hilfe des "Tierischen Magnetismus", einer von Scharlatanen jeglicher Art in jener Epoche favorisierten Methode der Hypnose, das Geheimnis seines Lebens zu entlocken versucht. Oates will mit seinem Experiment den Mechanismen des "verbrecherischen Verstandes" auf die Spur kommen.
Doch Maggs schlägt ihm ein Schnippchen. Während Oates allerlei Vermutungen verfolgt, erzählt der Ex-Sträfling in einem mit unsichtbarer Tinte geschriebenen, für seinen Ziehsohn verfaßten Bericht die wahre Geschichte seines Lebens. Die verschiedenen Schreibversionen machen nicht den geringsten Reiz des Buches aus. Um die beiden Hauptfiguren dreht sich ein Reigen skurriler, komischer, tragischer Charaktere. Die meisten schleppen das Geheimnis einer schrecklichen Kindheit mit sich herum. Carey kann sich stärkeren Tobak erlauben als der Autor im Zeitalter der Queen Victoria, ungeniert von Homosexualität, Prostitution, Abtreibung erzählen. Er liebt das farbige Detail, die rote Weste von Maggs, das "süße weiße Hinterteil" einer vom Hausherrn auch anderweitig beschäftigten Dienerin, die blutigen Bettlaken einer in den Tod getriebenen Liebhaberin.
Einen "dunkleren Dickens", wie ein amerikanischer Kritiker schrieb, hat er nicht verfaßt. Sein Buch ist ein absichtlich gefälschter Dickens, ein Pasticcio, ein postmodernes viktorianisches Melodrama, in dem es nicht um Authentizität geht. "Great Expectations" ist grundiert von der geheimnisvollen, grauen Marschlandschaft der Themse-Mündung; Elend, Verkommenheit und Gier überziehen den Roman wie mit einem schwarzen Firnis. Bei Carey ist alles nur ein geistvolles Spiel der Phantasie.
Indessen, die Geschichte hat noch eine dritte Schicht. In vielen seiner Romane, dem großartigen "Illywhacker", der hinreißenden Geschichte von "Oscar und Lucinda", umkreist Carey die Frage nach der australischen Identität. Hier geht es ihm offensichtlich darum, die Legende, Australien sei als ehemalige Strafkolonie ein Land der Verbrecher, zu entmystifizieren und Britannien, das Geschichte und Selbstverständnis des fünften Kontinents entscheidend bestimmte, einen Spiegel vorzuhalten.
Jack Maggs, der einen Peiniger ermordet und dafür bitter gebüßt hat, ist der edle, der reingewaschene Verbrecher, der in Australien zu Wohlstand und Ansehen kam. Er kehrt nach London zurück, um seiner Vergangenheit ins Gesicht zu blicken. Die erste bekannte Person, auf die er stößt, ist seine einstige Pflegemutter, ihres Zeichens Hebamme und Engelmacherin, die sich inzwischen eine Fassade der Wohlanständigkeit zugelegt hat. In dieser Frau, die nicht von ungefähr "Ma Britten" heißt, wird man unschwer die brutale Mutter England erkennen, die ihre Kinder verstößt. Dem Heimkehrer weist sie wiederum die Tür. Und Henry Phipps, der falsche Sohn, der dank der finanziellen Zuwendungen von Maggs wie ein Gentleman lebt, ist ein verkommener Tunichtgut, der auf seinen Wohltäter, als er ihm endlich gegenübersteht, die Pistole richtet. Mit einer Frau, die nach den Moralregeln Englands eine "angeschlagene Tasse" ist, die jedoch Herz und Verstand auf dem rechten Fleck hat, kehrt Maggs nach Australien zurück, um mit ihr eine ehrbare Familie zu gründen.
In einem Interview sagte Carey, er sehe in Maggs seinen "imaginären Vorfahren". Das Buch ist blendend geschrieben. Wer allerdings nichts von Dickens weiß, mit Australien nichts am Hut hat und auch nicht, wie die Werbung empfiehlt, den Roman "mit einer Tasse heißer Schokoklade im Schlafrock am Kamin" zu lesen wünscht - was zweifellos auf britische Gepflogenheiten verweist -, wird sich damit nicht ganz leichttun.
RENATE SCHOSTACK
Peter Carey: "Die geheimen Machenschaften des Jack Maggs". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Regina Rawlinson. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt 1999. 415 S., geb., 44.- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Careys Roman über die Machenschaften des Jack Maggs
London im Jahre 1837. In den von Gaslaternen erleuchteten Straßen hängt der Nebel, über das Pflaster rumpeln Kutschen, es riecht nach Ruß und Pferdeäpfeln. Ein ehemaliger Sträfling, auf Lebenszeit nach Australien verbannt, dem in England der Galgen droht, kehrt heimlich zurück. Der in der Fremde zu Reichtum gekommene Jack Maggs sucht einen jungen Mann, dem er als unbekannter Wohltäter ein süßes Leben ermöglicht hat.
Der mit allen Wassern gewaschene australische Schriftsteller Peter Carey spielt lustvoll mit den Sentimentalitäten und Versatzstücken des viktorianischen Romans. Der deutsche Titel setzt auf das Abenteuerliche der Geschichte - im Original heißt das Buch nur "Jack Maggs" -, auf das Degen-und-Mantel-Stück, auf die Weise von verbotener Liebe und traurigem Tod. Wie anders sollte man die Geschichte hierzulande lesen? Doch Carey ist zu raffiniert, um einen naiven Historienschinken zu verfassen. Sein Buch ist eine Auseinandersetzung mit dem größten viktorianischen Romancier, Charles Dickens. Carey umspielt Dickens' "Große Erwartungen", einen Roman, in dem es um Snobismus und ein falsches Gentleman-Ideal geht, um Erwartungen auf Geld und eine vorteilhafte Heirat. Dickens' Held heißt Magwitch; die Fesseln dieses Kriminellen feilt ein kleiner Junge auf, dem der entflohene Verbrecher eine sentimentale Anhänglichkeit bewahrt.
Doch nicht allein Anspielungen, Zitate, Handlungsmotive entnimmt Carey dem Roman des großen Vorgängers. Dickens' Leben wird zum Gegenstand seiner Geschichte. Maggs' Gegenspieler ist der Schriftsteller Thomas Oates, ein Mann, der wie Dickens von seinen Gläubigern verfolgt, von einer heimlichen Liebe zur Schwägerin gequält wird. Bei Carey ist Oates ein armer Teufel, der, wo er geht und steht, Notizbücher vollkritzelt, Reportagen verfaßt, Romanpartien entwirft. Stoffgierig stürzt er sich auf Jack Maggs, dem er mit Hilfe des "Tierischen Magnetismus", einer von Scharlatanen jeglicher Art in jener Epoche favorisierten Methode der Hypnose, das Geheimnis seines Lebens zu entlocken versucht. Oates will mit seinem Experiment den Mechanismen des "verbrecherischen Verstandes" auf die Spur kommen.
Doch Maggs schlägt ihm ein Schnippchen. Während Oates allerlei Vermutungen verfolgt, erzählt der Ex-Sträfling in einem mit unsichtbarer Tinte geschriebenen, für seinen Ziehsohn verfaßten Bericht die wahre Geschichte seines Lebens. Die verschiedenen Schreibversionen machen nicht den geringsten Reiz des Buches aus. Um die beiden Hauptfiguren dreht sich ein Reigen skurriler, komischer, tragischer Charaktere. Die meisten schleppen das Geheimnis einer schrecklichen Kindheit mit sich herum. Carey kann sich stärkeren Tobak erlauben als der Autor im Zeitalter der Queen Victoria, ungeniert von Homosexualität, Prostitution, Abtreibung erzählen. Er liebt das farbige Detail, die rote Weste von Maggs, das "süße weiße Hinterteil" einer vom Hausherrn auch anderweitig beschäftigten Dienerin, die blutigen Bettlaken einer in den Tod getriebenen Liebhaberin.
Einen "dunkleren Dickens", wie ein amerikanischer Kritiker schrieb, hat er nicht verfaßt. Sein Buch ist ein absichtlich gefälschter Dickens, ein Pasticcio, ein postmodernes viktorianisches Melodrama, in dem es nicht um Authentizität geht. "Great Expectations" ist grundiert von der geheimnisvollen, grauen Marschlandschaft der Themse-Mündung; Elend, Verkommenheit und Gier überziehen den Roman wie mit einem schwarzen Firnis. Bei Carey ist alles nur ein geistvolles Spiel der Phantasie.
Indessen, die Geschichte hat noch eine dritte Schicht. In vielen seiner Romane, dem großartigen "Illywhacker", der hinreißenden Geschichte von "Oscar und Lucinda", umkreist Carey die Frage nach der australischen Identität. Hier geht es ihm offensichtlich darum, die Legende, Australien sei als ehemalige Strafkolonie ein Land der Verbrecher, zu entmystifizieren und Britannien, das Geschichte und Selbstverständnis des fünften Kontinents entscheidend bestimmte, einen Spiegel vorzuhalten.
Jack Maggs, der einen Peiniger ermordet und dafür bitter gebüßt hat, ist der edle, der reingewaschene Verbrecher, der in Australien zu Wohlstand und Ansehen kam. Er kehrt nach London zurück, um seiner Vergangenheit ins Gesicht zu blicken. Die erste bekannte Person, auf die er stößt, ist seine einstige Pflegemutter, ihres Zeichens Hebamme und Engelmacherin, die sich inzwischen eine Fassade der Wohlanständigkeit zugelegt hat. In dieser Frau, die nicht von ungefähr "Ma Britten" heißt, wird man unschwer die brutale Mutter England erkennen, die ihre Kinder verstößt. Dem Heimkehrer weist sie wiederum die Tür. Und Henry Phipps, der falsche Sohn, der dank der finanziellen Zuwendungen von Maggs wie ein Gentleman lebt, ist ein verkommener Tunichtgut, der auf seinen Wohltäter, als er ihm endlich gegenübersteht, die Pistole richtet. Mit einer Frau, die nach den Moralregeln Englands eine "angeschlagene Tasse" ist, die jedoch Herz und Verstand auf dem rechten Fleck hat, kehrt Maggs nach Australien zurück, um mit ihr eine ehrbare Familie zu gründen.
In einem Interview sagte Carey, er sehe in Maggs seinen "imaginären Vorfahren". Das Buch ist blendend geschrieben. Wer allerdings nichts von Dickens weiß, mit Australien nichts am Hut hat und auch nicht, wie die Werbung empfiehlt, den Roman "mit einer Tasse heißer Schokoklade im Schlafrock am Kamin" zu lesen wünscht - was zweifellos auf britische Gepflogenheiten verweist -, wird sich damit nicht ganz leichttun.
RENATE SCHOSTACK
Peter Carey: "Die geheimen Machenschaften des Jack Maggs". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Regina Rawlinson. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt 1999. 415 S., geb., 44.- DM.
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