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Die Stuttgarter Demokratin und Feministin Anna Haag (1888-1982) führte während des Zweiten Weltkriegs ein geheimes Tagebuch, in dem sie die deutsche Propaganda Tag für Tag dekonstruierte. In seiner faszinierenden Studie macht Edward Timms Ausschnitte des zwanzig Bände umfassenden Tagebuchs zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und liefert eine Analyse dieser zeitgenössischen Quelle zum Alltag im Dritten Reich. Der bedeutende englische Germanist und Kulturhistoriker beleuchtet die Grundsätze von Anna Haags Weltanschauung und ihren Werdegang: Sie verbrachte eine beschauliche…mehr

Produktbeschreibung
Die Stuttgarter Demokratin und Feministin Anna Haag (1888-1982) führte während des Zweiten Weltkriegs ein geheimes Tagebuch, in dem sie die deutsche Propaganda Tag für Tag dekonstruierte. In seiner faszinierenden Studie macht Edward Timms Ausschnitte des zwanzig Bände umfassenden Tagebuchs zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und liefert eine Analyse dieser zeitgenössischen Quelle zum Alltag im Dritten Reich. Der bedeutende englische Germanist und Kulturhistoriker beleuchtet die Grundsätze von Anna Haags Weltanschauung und ihren Werdegang: Sie verbrachte eine beschauliche Kindheit und Jugend in Baden-Württemberg und erlebte den Ersten Weltkrieg als junge Mutter in Budapest. Diese prägenden Erfahrungen ließ sie von Beginn an den Nationalsozialismus kritisch hinterfragen und ihr Kriegstagebuch beginnen. Timms setzt faszinierende Passagen aus Haags Tagebüchern in Zusammenhang zu Zitaten aus weiteren Kriegstagebüchern, von Sympathisantinnen wie Kritikerinnen, Zeitungsartikeln und Rundfunkbeiträgen. Seine Collage illustriert ein vielfältiges Meinungsbild der damaligen Gesellschaft. Anna Haags Kritik an der Nazi-Tyrannei und ihr Engagement in der SPD beim demokratischen Wiederaufbau nach dem Krieg sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland das Recht zur Kriegsdienstverweigerung festgeschrieben steht.
Autorenporträt
Edward Timms (1937) ist Forschungsprofessor für Germanistik an der University of Sussex und Gründungsdirektor des Center for German-Jewish Studies. Sein spezielles Interesse gilt der Literatur und Politik in Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert. Er ist Co-Autor und Mitherausgeber zahlreicher Publikationen, darunter "Romantic Communist: The Life and Work of Nazim Hikmet" (gemeinsam mit Saime Goksu), "Writing after Hitler: The Work of Jakov Lind" (mit Silke Hassler und Andrea Hammel) sowie "Pictorial Narrative in the Nazi Period" (mit Deborah Schultz). Sein bekanntestes Werk ist die zweibändige Biografie "Karl Kraus: Satiriker der Apokalypse". In Zusammenarbeit mit Fred Bridgham veröffentlichte er außerdem die erste vollständige englische Übersetzung von Kraus' Antikriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit". Timms gehört zu den bedeutenden Germanisten des angelsächsischen Raums.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2019

Nein, ich möchte nicht mehr "deutsch" sein!
Aus den geheimen Tagebüchern der Feministin Anna Haag während des Nationalsozialismus

Anna Schaich wurde 1888 in Althütte bei Backnang geboren. Nach ihrer Heirat mit dem Mathematiklehrer Albert Haag führte sie ihr Lebensweg nach Schlesien, Pommern und Rumänien. Sie arbeitete als Journalistin, Leiterin eines Flüchtlingsheimes und Romanautorin. Unter dem NS-Regime erhielt die Sozialdemokratin Publikationsverbot. Nach 1945 gab sie die Zeitschrift "Die Weltbürgerin" heraus. Sie war eine von zwei Frauen im ersten baden-württembergischen Landtag. Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung geht vor allem auf sie zurück. 1940 begann Anna Haag, ein geheimes Tagebuch zu führen. Zwanzig Bände voll hellsichtiger Notizen zum Leben im "Dritten Reich" wird es am Ende umfassen. Es ist den berühmten Tagebüchern des Romanisten Viktor Klemperer zur Seite zu stellen, blieb aber, im Stuttgarter Staatsarchiv liegend, nahezu unbekannt. Deutsche Verleger interessierten sich nach 1945 nicht dafür. Der englische Germanist Edward Timms (1937 bis 2018) hat die Chronik für ein Porträt Anna Haags herangezogen, das 2016 auf Englisch erschien. Heute erscheint seine Studie "Die geheimen Tagebücher der Anna Haag - Eine Feministin im Nationalsozialismus" in deutscher Übersetzung (Scoventa Verlag, Bad Vilbel 2019. 328 S., Abb., geb., 22,- [Euro]).

F.A.Z.

* * *

23. März 1941

Noch eine kleinen Betrachtung über die "heldische deutsche Jugend". Das Jungvolk in der Hitlerjugend hatte letzte Woche wieder einmal Altpapier zu sammeln. Eine Frau rief aus der Waschküche: "Ich habe heute keine Zeit, Papier für Euch hinzurichten, ich habe große Wäsche!" Als die Frau später aus der Waschküche in ihre Wohnung hinaufstieg, fand sie die Rache der Lausbuben (sprich: deutschen Helden!) im Treppenhaus: sämtliche dort aufgestellten Sand- und Wassereimer waren über die Treppe hinab ausgegossen. Aber nicht genug damit! Anderen Tags fand die Frau große Flächen ihrer Hauswand mit Kot überschmiert! Daraufhin wandte sie sich an die Polizei. Was aber antwortete man ihr? Die Polizei sehe sich außerstande in dieser Sache einzuschreiten! Natürlich! Wieso auch! H.J. ist doch weit mehr als Polizei! (H.J. ist doch Hitlers zuverlässigste Denunziantentruppe.)

19. Juli 1941

Ich habe mich heute darüber besonnen, wie das weitergehen und das enden soll! Aber es ist mir keine Erleuchtung gekommen. Der Rausch, den die Zeitungen, die Dichter, die Künstler, die Politiker und - ach Gott - leider, leider auch so viele Frauen angefacht haben, muss sich austoben. Man erzählt bei uns: aller Kalk sei beschlagnahmt. Warum? Er werde von Flugzeugen aus auf die Schlachtfelder Russlands gestreut! Die Leichen werden mit einer Baggermaschine eingeschaufelt. Was wird auf uns arme Menschen noch warten! Und warum? Weil das deutsche Volk so dumm war, einen Verrückten, der sich für ein Genie ausgab, zu vergöttern! Und warum war es bereit, solchen Götzendienst zu tun? Generalfeldmarschall von Reichenau gibt die Antwort: "Weil wir das kriegerischste Volk der Welt sind!"

21. September 1941

Ein junger Pfarrer (Sohn eines Schuhfabrikanten, Ironie des Schicksals) bat seine Mutti flehentlich um Zusendung von 1 Paar guten Stiefeln (vergebliche Bitte, denn es dürfen nur 100 gr. an die russische Front gesandt werden). Er habe sehr kranke Füße, blutend, wund und sein Schuhwerk bestehe mehr aus Löchern als aus Leder. Aber er dürfe nicht zurück bleiben. Man hat ihm jetzt ein Fahrrad gegeben, er müsse vor mit den kämpfenden Truppen. Am selben Tag fiel er. . .

Sagen Sie, wie ist es möglich, dass man aus einem Volk so etwas machen kann? Meine Schwägerin bekam die Nachricht, dass ihr Sohn in Russland vermisst ist. Gleichzeitig kam ein Brief vom anderen Sohn, der ebenfalls in Russland ist. Ein sehr vergnügter, und sehr positiver zu dem (unleserlich), eingestellten Brief. Die Mutter schrie: "Das ist ja mein Junge gar nicht mehr! Das ist ja mein Junge gar nicht mehr!" Die Frau hat an diesem Tage zwei Söhne verloren, und die weniger schonungslose Wunde schlug der Verlust des Totgeglaubten. "Der Junge" ist derjenige, der schrieb: "er habe alles über Bord geworfen, seine ganze frühere Weltanschauung."

13. Oktober 1941

. . . gestern hörten wir von Freunden, dass die Russen zu Tausenden umgebracht werden, dass man ihre Kleider und Stiefel dem deutschen Militär gibt - Kleider wahrscheinlich umgefärbt - dass man die Kadaver "natürlich" auch noch verwertet. Grausen über Grausen und man denkt: Noch schlimmeres kann es nicht geben. Aber im Deutschland der großen Gegenwart ist alles möglich. Eben erwähnte Freunde waren in Frankfurt gewesen und brachten von dort die Nachricht mit, dass die dort im Lager gefangen gehaltenen Russen sich gegenseitig aufäßen! Zersetzen? 6 Min!

Lächeln auf den Gesichtern der 3 Männer auf die Feststellung, dass besagte Russen Hunger haben, erwiderte der Arzt (man wird ihn sich merken müssen!) "Ist ganz in Ordnung! Wir können uns einfach nicht leisten, den Russen mehr zu essen zu geben! Warum haben sie den Krieg angefangen!"

Wer hat den Krieg angefangen? Ach so - natürlich die Russen! Es war mir geschwind als - als hätte Deutschland angefangen. Aber ich weiß nun meine Lektion wieder richtig! Polen hat angefangen, Russland hat angefangen! Das Gesindel bekommt seinen Lohn! Weg mit ihm! Lebensraum für uns!

Zuweilen hat man die schüchterne Hoffnung, den Gipfel des Entsetzens und der niederträchtigen Grausamkeit erreicht zu haben, höher gehe es nimmer. Aber siehe da: an den Tagen erlebt man, dass es noch mehr Möglichkeiten für die deutsche und vaterländische Niedertracht gibt.

13. Oktober 1941, abends

Bachkantaten in der Kirche! Wir gingen hin, es war ein Erlebnis. Außer: es wäre ein großes, ein erhebendes Erlebnis geworden, wenn das mit anwesende Volk nicht ein immer größeres Fragezeichen für mich würde. Da saß also das Gotteshaus dicht voll von reichlich freiwilligen Besuchern! Es erhob sich sofort für mich die Frage: Wie? Wäre der Besuch einer Parteiveranstaltung ebenso freiwillig, würde der Raum auch so voll sein und die glücksvolle Antwort kam unmittelbar: "Nie! Nein!"

So saßen sie, die Menschen und lauschten ergriffen: "Es ist mein Gott, der in der Not mich wohl weiß zu erhalten, drum lass ich ihn nun walten!" und: "Was eine feste Burg ist unser Gott" usf.

Und als der letzte Baß mit seinen hellen Trompeten verklungen war, die Menschen noch ein paar Minuten ergriffen still sitzen blieben, die Kirchentore geöffnet wurden und die Gebannten sich allmählich anschickten, das Gotteshaus zu verlassen, da sammelte der Dirigent in aller Eile noch einmal seinen mächtigen Chor und die Instrumentalisten, und hinaus klang's weit in die Stadt:

Das Wort sie sollen lassen stehn

und kein' Dank dazu haben.

Er ist bei uns wohl auf dem Plan

mit seinem Geist und Gaben.

Nehmen sie uns den Leib,

Gut, Ehr, Kind und Weib,

laß fahren dahin,

sie habens kein' Gewinn;

das Reich muß uns doch bleiben!

Und alle, alle in der Kirche stimmten mit ein, es klang wie ein Schwur, wie eine Drohung und ich dachte beseligt: "Sieh, das deutsche Volk hat sich wieder aufgefangen! Sich wiedergefunden! Es hält Einkehr und Umkehr!"

Aber da hörte ich eine dieser ergriffenen frommen Sänger auf der Rückfahrt in der Straßenbahn sagen: "Ist doch ganz in Ordnung! Weg mit den Bestien, den Untermenschen, dem Gesindel!" Und damit meinte er das, was man im Namen Deutschlands an den meisten Gefangenen tut.

Da habe ich gewusst: der fromme Deutsche ist wohl geneigt gutbürgerlich für seinen Glauben eine Lippe zu riskieren! Er will seinen Glauben behalten und will sich als guter, als frommer Mensch fühlen, aber, aber, er ist kaum einmal bereit in der Tat die Haltung einzunehmen, die dieser Glaube eigentlich als sittliche Pflicht anfügt, sofern diese Haltung der widerspricht, die von oben hinab als die deutsche Haltung geprägt worden ist. Er hat zwei Götter: den Gott, den man ihm in seiner Kindheit anbeten lehrte und den Gott, der heute die Gesetze macht! Und er gibt jedem einen Brocken! Er gebärdet sich als (unleserlich) und sagt: Du, Gott von heute, komm mir meinem guten, lieben Gott von gestern nicht zu nahe! Alles darf der heutige Gott verlangen, meinen NSV-Beitrag, meine Parteispenden, ich will keine einzige deiner roten Opferbüchsen übersehen, in Wort und Tat will ich dich rühmen, deine Gesetze und Vorschriften achten - Nur eines, nein, eines darfst du nicht verlangen: Du darfst mir meinen Glauben nicht verbieten! Sonst werd' ich ungemütlich!

Ungemütlich? Er denkt nicht daran! Er macht eine Faust im Hosensack, und singt aus voller Kehle im Gewühl der vollen Kirche, wo schon die Tore offen stehen und man in einer Sekunde in die dunkle Nacht hinaustreten und entwischen kann: Das Wort sie sollen lassen stehen. . . Aber nachher? Ach, da vernünftig zu sein, von so viel streithaftem Mut bekleckertes Gewissen mit den Worten: "Ist ja ganz in Ordnung. . ."

Kurz: er gibt jedem seine Götter "Das Seine" und fühlt sich geborgen dabei: Ihm kann nichts passieren, weder im Diesseits noch im Jenseits, denn hier und dort ist er seinem Gott untertan und an den jenseitigen glaubt er, dem diesseitigen dient er Hilfe an.

Man möchte eines Morgens aufwachen und wissen: alles, alles war ein höllischer Traum! Man möchte wieder lachen können, unbeschwert über all die Komik (unlesbar). Aber ich kann nicht mehr so lachen. Selbst wenn eine komische oder humoristische Situation mir unmittelbares Lachen abnötigt, so bleibt doch stets ein Weh in meinen Augen und es ist, als habe sich eine heilende Kruste über eine Wunde gezogen, darunter aber schwärzt es weiter.

Lachen, dass einem Backenmuskeln und Zwerchfell schmerzen, teilhaben an des Lebens Meisterlichkeit! Niemals mehr werden wir Deutschen von heute daran teilhaben dürfen!

Wir Deutsche, die nicht zu denen gehören, die zwei Götter haben. Wir Deutsche, die die Last des heutigen Tages schleppen, die Verantwortung fühlen für das Grauen und doch im Grunde mit verantwortlich sind, die entrinnen möchten, weg, fort, die mit Donnerstimme in das sogenannte "Vaterland" hineinbrüllen möchten: "Deutschland erwache" zur Erkenntnis "Deine Schande"! Und die weder fort können, noch mit Donnerstimme brüllen noch sonst etwas tun, es sei denn ihr kümmerliches Leben zu erhalten, in der Hoffnung es dennoch sinnvoll anwenden zu können.

4. November 1941

Ich hörte, man bringe nun die Juden weg von unserer Stadt. Die armen Menschen sind der Auffassung, dass dies nur eine Etappe ist auf dem Weg nach Grafeneck! (Warum tut ihr Engländer so wenig? Warum kommen nicht Nacht für Nacht Tausende engl. Bomben über deutsche Städte? Warum nicht im Westen? Immer wieder wird erzählt, dass die deutschen Soldaten dort kaum ein paar Schuss Munition haben und dass sich alle wundern, dass die Engländer nicht kommen. (Manchmal verzweifle ich und denke, ob Ihr tatsächlich darauf abzielt, dass sich Russen und Deutsche gegenseitig zerfleischen! Aber das kann doch nicht sein! Es wäre eine Niedertracht den Russen gegenüber und außerdem eine sehr, sehr gefährliche Spekulation!)

Man spricht davon, dass man im nächsten Frühjahr eine Insel in Giftgas ersticken wird und Leute munkeln, dass sie ein neues Gas haben, das alles töten wird in England! Nun mag das übertrieben sein, aber ein Körnchen Wahrheit ist meist bei diesen Gerüchten. . . 5 Grad Kälte! Dicker Nebel draußen! Könnte es vor Moskau nicht 25 Grad haben und noch dickeren Nebel? Gott im Himmel, tu ein Wunder, tu das Wunder, um das Millionen auf Erden flehen.

15. November 1941

Man hat gestern einen Kollegen meines Mannes beerdigt. Zunächst war angeordnet worden, dass die Schüler geschlossen in Uniformen teilnehmen sollen an der Feier (nicht wahr, die "Uniform" ist ja bei den allermeisten deutschen Jungen der einzige gangbare Anzug). Da aber wurde es verboten. Warum? Weil ein Geistlicher am Grab sprechen würde!

Verlogenheit und Barbarei: Was tut man den Juden zur Zeit wieder an! Innerhalb von zwei Stunden müssen sie ihr Haus verlassen. Mitnehmen? Was sie tragen können. Wohin sie kommen? Hier zunächst nach H. wo sie grausam zusammengepfercht werden. In vielen Städten müssen sie direkt nach Polen. Was weiter mit ihnen geschehen wird? Gott mag es wissen!

In Frankfurt haben sich an dem Tag des Abtransports 25 dieser armen Menschen umgebracht. Hat nichts tun können! Wie ein Gefangener rüttle ich an den Stäben meines Gitters.

Nein, ich möchte nicht mehr "deutsch" sein! Ich bin es wohl - meinem Wesen auch nach - nie gewesen.

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