Giambaltista Bodoni, Antiquar, erwacht aus dem Koma und hat einen Teil seines Gedächtnisses verloren. Auf der Suche nach seinen persönlichen Erinnerungen fährt er ins Haus seiner Kindheit und findet dort alles wieder: Bücher und Bilder, Comics und Kino, Pastadosen und Zigarettenschachteln. Was für Bodoni eine Reise der Wiederentdeckungen durch sein Leben und seine Lieben wird, gerät Eco zur Zeitreise durch das 20. Jahrhundert: witzig, nostalgisch und überraschend.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2004Allein unter Büchern
"Was Sie auf der Straße sehen, spielt für den Kulturmenschen keine Rolle": Ein Besuch in der Welt des Umberto Eco
Was für ein Glanz auf den Straßen Mailands in diesem blauleuchtenden, späten Sommer. Was für schöne Menschen. Was für ein Stolz. Die Frauen schweben federleichten Schritts mit großen, weißen Taschen aus den Modegeschäften der Via Dante, tragen große, schwarze Brillen und sind durch nichts zu erschüttern. Sie wissen: Wir werden immer schön sein. Wunderschön. Ein Leben lang.
Und hier wohnt der alte Mann, der gerade ein Buch unter dem Titel "Die Geschichte der Schönheit" veröffentlicht hat. Der Mann der tausend Bücher, einer der letzten Universalgelehrten der Welt, berühmter Bestsellerautor, dessen erstes Buch, "Der Name der Rose", weltweit über 25 Millionen Mal verkauft wurde. Professor der Semiotik in Bologna. Kämpfer gegen den Wahnsinn der politischen Welt in zahlreichen Kolumnen. Hier wohnt Umberto Eco.
Auf dem goldenen Namensschild an der Tür steht der Name seiner deutschen Frau Renate, mit der er seit vierzig Jahren verheiratet ist. Das Haus wirkt wie eine Festung. Es geht durch eine Glastür, dann eine schwere Holztür, dann kommt man auf einen marmornen Gang, an dessen Enden rechts und links jeweils Empfangstische stehen, mit großen Sträußen darauf, aber ohne Pförtner. Seine Frau begrüßt mich an der Wohnungstür herzlich auf deutsch, er kommt von hinten gleich dazu und fragt, statt zu grüßen: "What language?" Nachdem wir uns geeinigt haben, beim Englischen zu bleiben, möchte er wissen, ob dies ein Radio-Interview werde. Dann müsse er nämlich das Telefon ausstellen. Er kenne das schon. - Das Telefon kann anbleiben. Umberto Eco läßt sich zufrieden in einen tiefen, weißen, leinenüberzogenen Sessel fallen und erwartet die Fragen.
Er ist der einzige Eco
Er wirkt müde. Und irgendwie verloren in diesem großen, weißen Empfangs- und Wohnzimmer. Hinter ihm, in einer gläsernen Vitrine, hat Umberto Eco Comicbücher seiner Jugend ausgestellt. Schräg neben ihm steht ein weißer Adonis mit einer welken, weißen Blume auf der Schulter. Auf dem Glastisch vor uns liegen bunte Bildbände. Obenauf liegt einer über "Arabische Einrichtungen" in deutscher Sprache. Dieser unfaßbare Fleiß in fast allen denkbaren Wissensgebieten, die kaum von einer Person allein bewältigt werden können; allein in diesem Herbst erscheint neben der umfangreichen "Geschichte der Schönheit" ein großer Roman. "Wie viele Umberto Ecos leben hier", frage ich. Er stockt, weicht aus, versteht nicht recht, sagt: "Nun, wir haben doch alle eine gespaltene Persönlichkeit. Aber Umberto Ecos gibt es hier nur einen. Mich. Ich bin ganz sicher."
Dann reden wir über diesen Satz. Den letzten Satz aus seiner "Geschichte der Schönheit". Nach über 400 großformatigen Seiten mit Bildern von den Schönheitsidealen der Griechen bis heute steht da der Satz über die Gegenwart. Wenn ein Forscher der Zukunft das Schönheitsideal unserer Zeit erforschen würde, wird er "vor der Orgie der Toleranz, vor dem totalen Synkretismus, vor dem absoluten und unaufhaltsamen Polytheismus der Schönheit kapitulieren müssen". - "Orgie der Toleranz?" Was er denn zu den Frauen auf der Straße vor seinem Haus sage? Die alle die gleiche Figur haben, die gleichen Brillen tragen, die gleiche Frisur, die gleichen, kleinen Kleider? Wie kann man in einem Zeitalter der massenhaften Schönheitsoperationen, der Bulimie-Epidemien und der totalen Gleichheit ernsthaft von einer Orgie der Toleranz schreiben? "Ja, wenn Sie mir mit der Straße kommen. Ich schreibe über Kultur. Über kulturelle Bilder. Über das kulturelle Gedächtnis der Zukunft. Und da trifft meine Aussage zu. Alles ist möglich. Es gibt eine Unzahl von Schönheitsidealen nebeneinander. Ein Forscher der Zukunft wird unser Ideal nicht erkennen können. Was Sie auf der Straße sehen, spielt für den Kulturmenschen keine Rolle."
Jetzt möchte er Kaffee trinken. Er steht auf. Geht Richtung Flur und ruft laut, und seine Stimme hallt, und man ahnt, wie groß diese Wohnung sein muß. "Cafétino", ruft er der herbeieilenden, dunkelhäutigen Haushälterin zu. Sie trägt eine weiße Schürze und eine weiße Haube. Eilig serviert sie den Kaffee. Eco hebt dankend die schwere Hand.
Ein Mann, der nur in Büchern lebt. Nur im kulturellen Gedächtnis der Welt. In der Geschichtserinnerung. Das ist der Held von Umberto Ecos Roman "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana", der im Oktober auf deutsch erscheint. Im Alter von sechzig Jahren fällt er ins Koma, und als er wieder erwacht, hat er die persönliche Hälfte seiner Erinnerungen verloren. Er weiß alles über Alexander den Großen, aber über seinen Enkel Alexander den Kleinen weiß er nichts. Der arme Mann, ein Antiquar, der im selben Jahr wie Eco geboren wurde und viele Züge von ihm trägt, macht sich daran, anhand der Lektüren seines Lebens seine persönlichen Erinnerungen zu rekonstruieren. Der das Glück und das Leben in den Büchern sucht und seine eigene Frau nicht mehr erkennt.
Eco gibt gerne zu, daß der Held ihm in gewissem Sinne ähnlich ist. Aber auf die Frage, ob dies sein persönlichstes Buch sei, antwortet er mit der Pointe, die er - so klingt es - schon sehr, sehr oft gesetzt hat: "Ich identifiziere mich am meisten mit den Adverbien in meinen Büchern. Weniger mit Personen." Also gut.
Er hört gern nicht zu
Er erzählt, wie er die Idee zu dem Buch hatte. Er saß mit einem befreundeten Antiquar an einer Bar und trank Martini. Der Antiquar redete. Eco hörte nicht zu. "Es sind die fruchtbarsten Momente in meinem Leben. Wenn ich mit Menschen rede und nicht zuhöre. Sondern nur an mich selbst denke", sagt er. Eco dachte also an sich, hörte nichts, und plötzlich sagte der Buchhändler das Wort: "Gedächtnis." Oder: "Erinnerung." Irgend etwas in der Richtung. Eco weiß es nicht mehr genau. Aber in dieser Sekunde war ihm klar: "Ich schreibe einen Roman mit einem Antiquar als Helden, der sein Gedächtnis verliert."
Und Umberto Eco verlor sich in seine Kindheit. In die Bücher seiner Kindheit in den dreißiger Jahren, die Comics, die faschistischen Heldensagen, die dummen Lieder und die Heldenlieder. "Es ist ein Wunder, daß wir mit dieser Erziehung nicht zu kompletten Idioten wurden." Die dreißiger Jahre wurden zu seiner Obsession. Zwei Jahre lang lebte er nur in diesem Buch. Das Schönheitsbuch lief so nebenher.
Er bedauert, daß es so schnell zu Ende ging. Er liebt die Einsamkeit während des Forschens und Schreibens. "Deshalb mag ich Bücher so gerne, die acht Jahre dauern, wie das ,Foucaultsche Pendel'. In diesen Jahren habe ich mein privates Leben, und niemand weiß, in welcher Welt ich lebe." Nicht seine Frau. Nicht sein Sohn. Nicht sein Verleger. "Splendid isolation", sagt Eco, und er raucht seine Philipp Morris Light, die er zwischen die Fingerspitzen geklemmt hat, und läßt die Asche auf den weißen Sessel fallen.
Er weiß fast alles
Bücher sind Umberto Ecos Leben. 30 000 sollen es hier allein in dieser Stadtwohnung sein. Weitere 10 000 stehen draußen in seinem Haus auf dem Land. 5000 in seiner Wohnung in Bologna. Täglich kommen zehn neue mit der Post nach Hause. 300 im Monat. Ohne daß er sie bestellt. Die Bücher kommen einfach. Es sind zu viele. Er hat ein Abkommen mit den Buchhandlungen von Feltrinelli. Er trägt neue Bücher hin, dafür darf er sich aussuchen, was er möchte. Aber er möchte gar nichts mehr. Für einen Studenten organisiert er eine regelmäßige Bücherverschenkungsaktion: "Take a book and run." Es sind trotzdem noch zu viele. Ob er nicht manchmal ein schlechtes Gewissen bekomme zwischen all den ungelesenen Büchern. "Nein", sagt er. Und dann: "Doch. Sie haben recht. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Es ist so vieles noch zu lesen."
Dabei hat er fast alles schon gelesen. Und er weiß es auch. Fragt man Umberto Eco nach seinen Wissenslücken, denkt er kurz, dann sagt er: "Mathematik." Gut, er habe erst vorige Woche in der Zeitschrift "Espresso" eine Rezension über ein neues Buch über Primzahlen veröffentlicht, und seine Besprechung wurde von Mathematikprofessoren gelobt. Aber, nein, Mathematik sei nicht seine Stärke. Und Musik. Gut, er könne zahlreiche Instrumente spielen, aber Musik, doch, doch, da habe er Lücken. Und als ich ihn frage, was er als Autor des Verschwörungstheorie-Klassikers "Foucaultsches Pendel" zu dem fulminanten Erfolg von Dan Browns Verschwörungsthriller und Weltbestseller "Sakrileg" sage, meint er nur: "Ich habe es nicht gelesen. Aber ich kenne jede der dort beschriebenen Theorien. Geben Sie mir fünfzig Euro, und ich schreibe Ihnen dieses Buch. Und zwar besser als Dan Brown."
Dann ist das Gespräch vorbei. Wir gehen kurz die dunklen Büchergänge entlang. Die Wohnung wirkt kalt, trotz all der alten Bände. Früher war hier ein Hotel. Ein Freund hat es ihm gesagt. Er hätte hier manche Nacht verbracht. Eco wunderte sich, denn der Freund hat sein ganzes Leben in Mailand verbracht. Warum übernachtete er wohl manchmal im Hotel? Erst spät habe er verstanden, um was für ein Hotel es sich gehandelt hatte. Ein Liebeshotel. Heute sind hier nur noch Bücher. Wir gehen auf den Balkon. Blicken auf die dunklen Mauern des Castello Sforzesco. Ich sage, daß dort alles für eine prächtige Modenschau vorbereitet werde. Eco sagt: "Kann sein. Aber es gibt auch wunderbare Ausstellungen dort." Und er zeigt mir die Comics seiner Kindheit hinter Glas. Den Adonis, der nur fünfzig Euro gekostet hat, und begleitet mich zur Tür.
Draußen scheint noch immer die Sonne. Draußen ist Mailand. Das Leuchten. Der Glanz. Und die Schönheit. Die letzten Tage des Sommers. Die Straße.
VOLKER WEIDERMANN
Umberto Eco: "Die Geschichte der Schönheit". Hanser 2004. 440 Seiten. 39,90 Euro; "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana" erscheint im Oktober. 480 Seiten. 25,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Was Sie auf der Straße sehen, spielt für den Kulturmenschen keine Rolle": Ein Besuch in der Welt des Umberto Eco
Was für ein Glanz auf den Straßen Mailands in diesem blauleuchtenden, späten Sommer. Was für schöne Menschen. Was für ein Stolz. Die Frauen schweben federleichten Schritts mit großen, weißen Taschen aus den Modegeschäften der Via Dante, tragen große, schwarze Brillen und sind durch nichts zu erschüttern. Sie wissen: Wir werden immer schön sein. Wunderschön. Ein Leben lang.
Und hier wohnt der alte Mann, der gerade ein Buch unter dem Titel "Die Geschichte der Schönheit" veröffentlicht hat. Der Mann der tausend Bücher, einer der letzten Universalgelehrten der Welt, berühmter Bestsellerautor, dessen erstes Buch, "Der Name der Rose", weltweit über 25 Millionen Mal verkauft wurde. Professor der Semiotik in Bologna. Kämpfer gegen den Wahnsinn der politischen Welt in zahlreichen Kolumnen. Hier wohnt Umberto Eco.
Auf dem goldenen Namensschild an der Tür steht der Name seiner deutschen Frau Renate, mit der er seit vierzig Jahren verheiratet ist. Das Haus wirkt wie eine Festung. Es geht durch eine Glastür, dann eine schwere Holztür, dann kommt man auf einen marmornen Gang, an dessen Enden rechts und links jeweils Empfangstische stehen, mit großen Sträußen darauf, aber ohne Pförtner. Seine Frau begrüßt mich an der Wohnungstür herzlich auf deutsch, er kommt von hinten gleich dazu und fragt, statt zu grüßen: "What language?" Nachdem wir uns geeinigt haben, beim Englischen zu bleiben, möchte er wissen, ob dies ein Radio-Interview werde. Dann müsse er nämlich das Telefon ausstellen. Er kenne das schon. - Das Telefon kann anbleiben. Umberto Eco läßt sich zufrieden in einen tiefen, weißen, leinenüberzogenen Sessel fallen und erwartet die Fragen.
Er ist der einzige Eco
Er wirkt müde. Und irgendwie verloren in diesem großen, weißen Empfangs- und Wohnzimmer. Hinter ihm, in einer gläsernen Vitrine, hat Umberto Eco Comicbücher seiner Jugend ausgestellt. Schräg neben ihm steht ein weißer Adonis mit einer welken, weißen Blume auf der Schulter. Auf dem Glastisch vor uns liegen bunte Bildbände. Obenauf liegt einer über "Arabische Einrichtungen" in deutscher Sprache. Dieser unfaßbare Fleiß in fast allen denkbaren Wissensgebieten, die kaum von einer Person allein bewältigt werden können; allein in diesem Herbst erscheint neben der umfangreichen "Geschichte der Schönheit" ein großer Roman. "Wie viele Umberto Ecos leben hier", frage ich. Er stockt, weicht aus, versteht nicht recht, sagt: "Nun, wir haben doch alle eine gespaltene Persönlichkeit. Aber Umberto Ecos gibt es hier nur einen. Mich. Ich bin ganz sicher."
Dann reden wir über diesen Satz. Den letzten Satz aus seiner "Geschichte der Schönheit". Nach über 400 großformatigen Seiten mit Bildern von den Schönheitsidealen der Griechen bis heute steht da der Satz über die Gegenwart. Wenn ein Forscher der Zukunft das Schönheitsideal unserer Zeit erforschen würde, wird er "vor der Orgie der Toleranz, vor dem totalen Synkretismus, vor dem absoluten und unaufhaltsamen Polytheismus der Schönheit kapitulieren müssen". - "Orgie der Toleranz?" Was er denn zu den Frauen auf der Straße vor seinem Haus sage? Die alle die gleiche Figur haben, die gleichen Brillen tragen, die gleiche Frisur, die gleichen, kleinen Kleider? Wie kann man in einem Zeitalter der massenhaften Schönheitsoperationen, der Bulimie-Epidemien und der totalen Gleichheit ernsthaft von einer Orgie der Toleranz schreiben? "Ja, wenn Sie mir mit der Straße kommen. Ich schreibe über Kultur. Über kulturelle Bilder. Über das kulturelle Gedächtnis der Zukunft. Und da trifft meine Aussage zu. Alles ist möglich. Es gibt eine Unzahl von Schönheitsidealen nebeneinander. Ein Forscher der Zukunft wird unser Ideal nicht erkennen können. Was Sie auf der Straße sehen, spielt für den Kulturmenschen keine Rolle."
Jetzt möchte er Kaffee trinken. Er steht auf. Geht Richtung Flur und ruft laut, und seine Stimme hallt, und man ahnt, wie groß diese Wohnung sein muß. "Cafétino", ruft er der herbeieilenden, dunkelhäutigen Haushälterin zu. Sie trägt eine weiße Schürze und eine weiße Haube. Eilig serviert sie den Kaffee. Eco hebt dankend die schwere Hand.
Ein Mann, der nur in Büchern lebt. Nur im kulturellen Gedächtnis der Welt. In der Geschichtserinnerung. Das ist der Held von Umberto Ecos Roman "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana", der im Oktober auf deutsch erscheint. Im Alter von sechzig Jahren fällt er ins Koma, und als er wieder erwacht, hat er die persönliche Hälfte seiner Erinnerungen verloren. Er weiß alles über Alexander den Großen, aber über seinen Enkel Alexander den Kleinen weiß er nichts. Der arme Mann, ein Antiquar, der im selben Jahr wie Eco geboren wurde und viele Züge von ihm trägt, macht sich daran, anhand der Lektüren seines Lebens seine persönlichen Erinnerungen zu rekonstruieren. Der das Glück und das Leben in den Büchern sucht und seine eigene Frau nicht mehr erkennt.
Eco gibt gerne zu, daß der Held ihm in gewissem Sinne ähnlich ist. Aber auf die Frage, ob dies sein persönlichstes Buch sei, antwortet er mit der Pointe, die er - so klingt es - schon sehr, sehr oft gesetzt hat: "Ich identifiziere mich am meisten mit den Adverbien in meinen Büchern. Weniger mit Personen." Also gut.
Er hört gern nicht zu
Er erzählt, wie er die Idee zu dem Buch hatte. Er saß mit einem befreundeten Antiquar an einer Bar und trank Martini. Der Antiquar redete. Eco hörte nicht zu. "Es sind die fruchtbarsten Momente in meinem Leben. Wenn ich mit Menschen rede und nicht zuhöre. Sondern nur an mich selbst denke", sagt er. Eco dachte also an sich, hörte nichts, und plötzlich sagte der Buchhändler das Wort: "Gedächtnis." Oder: "Erinnerung." Irgend etwas in der Richtung. Eco weiß es nicht mehr genau. Aber in dieser Sekunde war ihm klar: "Ich schreibe einen Roman mit einem Antiquar als Helden, der sein Gedächtnis verliert."
Und Umberto Eco verlor sich in seine Kindheit. In die Bücher seiner Kindheit in den dreißiger Jahren, die Comics, die faschistischen Heldensagen, die dummen Lieder und die Heldenlieder. "Es ist ein Wunder, daß wir mit dieser Erziehung nicht zu kompletten Idioten wurden." Die dreißiger Jahre wurden zu seiner Obsession. Zwei Jahre lang lebte er nur in diesem Buch. Das Schönheitsbuch lief so nebenher.
Er bedauert, daß es so schnell zu Ende ging. Er liebt die Einsamkeit während des Forschens und Schreibens. "Deshalb mag ich Bücher so gerne, die acht Jahre dauern, wie das ,Foucaultsche Pendel'. In diesen Jahren habe ich mein privates Leben, und niemand weiß, in welcher Welt ich lebe." Nicht seine Frau. Nicht sein Sohn. Nicht sein Verleger. "Splendid isolation", sagt Eco, und er raucht seine Philipp Morris Light, die er zwischen die Fingerspitzen geklemmt hat, und läßt die Asche auf den weißen Sessel fallen.
Er weiß fast alles
Bücher sind Umberto Ecos Leben. 30 000 sollen es hier allein in dieser Stadtwohnung sein. Weitere 10 000 stehen draußen in seinem Haus auf dem Land. 5000 in seiner Wohnung in Bologna. Täglich kommen zehn neue mit der Post nach Hause. 300 im Monat. Ohne daß er sie bestellt. Die Bücher kommen einfach. Es sind zu viele. Er hat ein Abkommen mit den Buchhandlungen von Feltrinelli. Er trägt neue Bücher hin, dafür darf er sich aussuchen, was er möchte. Aber er möchte gar nichts mehr. Für einen Studenten organisiert er eine regelmäßige Bücherverschenkungsaktion: "Take a book and run." Es sind trotzdem noch zu viele. Ob er nicht manchmal ein schlechtes Gewissen bekomme zwischen all den ungelesenen Büchern. "Nein", sagt er. Und dann: "Doch. Sie haben recht. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Es ist so vieles noch zu lesen."
Dabei hat er fast alles schon gelesen. Und er weiß es auch. Fragt man Umberto Eco nach seinen Wissenslücken, denkt er kurz, dann sagt er: "Mathematik." Gut, er habe erst vorige Woche in der Zeitschrift "Espresso" eine Rezension über ein neues Buch über Primzahlen veröffentlicht, und seine Besprechung wurde von Mathematikprofessoren gelobt. Aber, nein, Mathematik sei nicht seine Stärke. Und Musik. Gut, er könne zahlreiche Instrumente spielen, aber Musik, doch, doch, da habe er Lücken. Und als ich ihn frage, was er als Autor des Verschwörungstheorie-Klassikers "Foucaultsches Pendel" zu dem fulminanten Erfolg von Dan Browns Verschwörungsthriller und Weltbestseller "Sakrileg" sage, meint er nur: "Ich habe es nicht gelesen. Aber ich kenne jede der dort beschriebenen Theorien. Geben Sie mir fünfzig Euro, und ich schreibe Ihnen dieses Buch. Und zwar besser als Dan Brown."
Dann ist das Gespräch vorbei. Wir gehen kurz die dunklen Büchergänge entlang. Die Wohnung wirkt kalt, trotz all der alten Bände. Früher war hier ein Hotel. Ein Freund hat es ihm gesagt. Er hätte hier manche Nacht verbracht. Eco wunderte sich, denn der Freund hat sein ganzes Leben in Mailand verbracht. Warum übernachtete er wohl manchmal im Hotel? Erst spät habe er verstanden, um was für ein Hotel es sich gehandelt hatte. Ein Liebeshotel. Heute sind hier nur noch Bücher. Wir gehen auf den Balkon. Blicken auf die dunklen Mauern des Castello Sforzesco. Ich sage, daß dort alles für eine prächtige Modenschau vorbereitet werde. Eco sagt: "Kann sein. Aber es gibt auch wunderbare Ausstellungen dort." Und er zeigt mir die Comics seiner Kindheit hinter Glas. Den Adonis, der nur fünfzig Euro gekostet hat, und begleitet mich zur Tür.
Draußen scheint noch immer die Sonne. Draußen ist Mailand. Das Leuchten. Der Glanz. Und die Schönheit. Die letzten Tage des Sommers. Die Straße.
VOLKER WEIDERMANN
Umberto Eco: "Die Geschichte der Schönheit". Hanser 2004. 440 Seiten. 39,90 Euro; "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana" erscheint im Oktober. 480 Seiten. 25,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Wenn Umberto Eco das Thema Erinnerung aufgreift, schreibt der Rezensent Christian Semler, erwartet man als Leser eine historisch gesättigte Erörterung der "ars memoriae" auf mittelalterlichem Hintergrund. Weit gefehlt, so Semler, denn Ecos Hauptfigur Bodoni ist ein Antiquar des 20. Jahrhunderts, der nach einem Unfall das Gedächtnis verloren hat und verzweifelt versucht, dieses zurückzugewinnen. Mit einer Besonderheit jedoch, denn während Bodoni Frau und Kind nicht erkenne, sei die Erinnerung an seine Lektüren, sprich sein "papiernes Gedächtnis" intakt, womit man wiederum beim waschechten Eco gelandet wäre. Und so entspinne sich bei Bodonis Versuch, durch die Aufarbeitung seiner Jugendlektüren seine Identität zu rekonstruieren, das virtuose und "hinreißende Panorama" einer Generation und ihres Imaginationshorizontes, die - auch dank der reichen Illustrationen des Buches - sogar dem heutigen Leser zunehmend vertraut werden. Wieder einmal, schwärmt Semler. erweist sich Eco als "gewiefter" Zeichendeuter und "subtiler Philologe der Trivialliteratur", der aufs Anregendste das Verhältnis zwischen der "Welt der Phantasmen" und der nicht deckungsgleichen "Realgeschichte" hinterfragt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Eco auf der Höhe seines Könnens." Hannes Hintermeier, F.A.Z., 06.10.04
"Umberto Eco, letzter Universalist, Virtuose des literarischen Versteckspiels, Meister des mehrstimmigen Satzes, dessen Erzählstrom immerzu von Sturzfluten aus Bildung überbrandet und unterspült wird. ... Wir selbst werden Zeuge der Schätze, die da an den Tag kommen, wir haben sie unmittelbar vor Augen. Denn Ecos neues Werk ist ein Illustrierter Roman, ein wahres Bilder-Buch, und viele der Fundstücke werden uns in farbigen Abbildungen vorgelegt, sodass wir an der Recherche teilnehmen." Dieter Hildebrandt, Die Zeit, 07.10.04
"Ein Roman von packender Faszination. Vielleicht der gelungenste seit dem "Namen der Rose". Daniel Binswanger, Die Weltwoche, 39/04
"Umberto Ecos neues Opus-Magnum ist nostalgisch, witzig und pointiert - eine furiose Reise durch die Alltagsmythen." Susanne Kunckel, Welt am Sonntag, 10.10.04
"Eine illustrierte postmoderne Autobiographie in Romanform - das Spiel aller Spiele also. Wer, außer dem genialen gelehrten Spieler Eco, könnte solch ein Projekt wuppen? ... Eco schreibt mit viel Eleganz und großem, alles umgarnenden Charme." Robin Detje, Süddeutsche Zeitung, 13.10.04
"Umberto Eco hat seit je den Schalk im Nacken. ... Ein Bilderbuch, ein "romanzo illustro", die Autobiographie seiner Generation. ... Die "mysteriöse Flamme" ist auch ein Bild für die unerschliessbaren Regionen des Menschen. Die Seele bleibt eben doch ein Geheimnis." Maike Albath, Neue Zürcher Zeitung, 12.10.04
"Ein Fest für alle Flohmarkt-Freunde und für alle Eco-Fans, denn das neueste Werk des Semiotik-Professors ist nicht nur ein Potpourri der Populärkultur, sondern auch stark autobiografisch." Angela Wittmann, Brigitte, 13.10.04
"Vor unseren Augen entsteht ein hinreißendes Panorama all dessen, was Kids, was Teenies vom Ende der Dreißiger- bis Ende der Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts verschlungen haben.
... Das Schöne an Ecos Bilderbuch ist, dass das Gedächtnis der Leser quasi wie von selbst Bilder aus der je eigenen Vergangenheit hervorholt, frühe Lesevergnügungen, Ängste, Allmachtsfantasien, die dennoch oft nicht ihm allein, sondern seiner Generation gehören." Christian Semler, die tageszeitung, 30./31.10.04
"Der große italienische Erzähler Umberto Eco amüsiert durch ein Romandenkspiel mit alten Bildern." Ulrike Knöfel, Der Spiegel, 04.10.04
"Es werde Roman! Umberto Eco, souverän spielerisch, wie gewohnt. ... Die Lektüre von Umberto Ecos neuem Roman bereitet tatsächlich Vergnügen." Hans Raimund, Die Presse, 09.10.04
"Müsste man für kommende Generationen umreißen, was das Phänomen Umberto Eco ausmacht, so könnte man als vergleichbare Größe vergangener Tage den französischen Bestsellerautor Victor Hugo herbeizitieren." Claus Philipp, Der Standard, 09.10.04
"Kaum eine Episode, die sich nicht auch wie ein Stück angewandte Philosophie lesen ließe. Und so haben wir alle Freude an diesem Buch, bei dem wir naiv und gebildet zugleich sein dürfen und uns sogar vom Lesen ausruhen können, denn unzählige Illustrationen machen daraus ein Bilderbuch, so wie wir es als Kinder gerne hatten." Wendelin Schmidt-Dengler, Falter, 22.10.04
"Himmlisch. Nicht jugendfrei und auch nicht als Nachttischlektüre geeignet. ... Ein literarisches Panoptikum, das man eigentlich nur in einem Zug geniessen kann. Aber ein Genuss ist es: Mit dem Buch hat sich Eco definitiv eine Spitzenposition im Olymp der Denker und Dichter gesichert." Facts / Schweiz, 30.09.04
"Das letzte Werk Umberto Ecos bildet zugleich den Höhepunkt seiner Kunst. Es ist Ecos empathischtes, sein persönlichstes, sein überzeugendstens Buch." Alexander Kluy, Rheinischer Merkur, 18.11.04
"Ecos schönster Roman bisher. Eben einer für Büchernarren." Jobst-Ulrich Brand, FOCUS, 6.12.2004
"Umberto Eco, letzter Universalist, Virtuose des literarischen Versteckspiels, Meister des mehrstimmigen Satzes, dessen Erzählstrom immerzu von Sturzfluten aus Bildung überbrandet und unterspült wird. ... Wir selbst werden Zeuge der Schätze, die da an den Tag kommen, wir haben sie unmittelbar vor Augen. Denn Ecos neues Werk ist ein Illustrierter Roman, ein wahres Bilder-Buch, und viele der Fundstücke werden uns in farbigen Abbildungen vorgelegt, sodass wir an der Recherche teilnehmen." Dieter Hildebrandt, Die Zeit, 07.10.04
"Ein Roman von packender Faszination. Vielleicht der gelungenste seit dem "Namen der Rose". Daniel Binswanger, Die Weltwoche, 39/04
"Umberto Ecos neues Opus-Magnum ist nostalgisch, witzig und pointiert - eine furiose Reise durch die Alltagsmythen." Susanne Kunckel, Welt am Sonntag, 10.10.04
"Eine illustrierte postmoderne Autobiographie in Romanform - das Spiel aller Spiele also. Wer, außer dem genialen gelehrten Spieler Eco, könnte solch ein Projekt wuppen? ... Eco schreibt mit viel Eleganz und großem, alles umgarnenden Charme." Robin Detje, Süddeutsche Zeitung, 13.10.04
"Umberto Eco hat seit je den Schalk im Nacken. ... Ein Bilderbuch, ein "romanzo illustro", die Autobiographie seiner Generation. ... Die "mysteriöse Flamme" ist auch ein Bild für die unerschliessbaren Regionen des Menschen. Die Seele bleibt eben doch ein Geheimnis." Maike Albath, Neue Zürcher Zeitung, 12.10.04
"Ein Fest für alle Flohmarkt-Freunde und für alle Eco-Fans, denn das neueste Werk des Semiotik-Professors ist nicht nur ein Potpourri der Populärkultur, sondern auch stark autobiografisch." Angela Wittmann, Brigitte, 13.10.04
"Vor unseren Augen entsteht ein hinreißendes Panorama all dessen, was Kids, was Teenies vom Ende der Dreißiger- bis Ende der Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts verschlungen haben.
... Das Schöne an Ecos Bilderbuch ist, dass das Gedächtnis der Leser quasi wie von selbst Bilder aus der je eigenen Vergangenheit hervorholt, frühe Lesevergnügungen, Ängste, Allmachtsfantasien, die dennoch oft nicht ihm allein, sondern seiner Generation gehören." Christian Semler, die tageszeitung, 30./31.10.04
"Der große italienische Erzähler Umberto Eco amüsiert durch ein Romandenkspiel mit alten Bildern." Ulrike Knöfel, Der Spiegel, 04.10.04
"Es werde Roman! Umberto Eco, souverän spielerisch, wie gewohnt. ... Die Lektüre von Umberto Ecos neuem Roman bereitet tatsächlich Vergnügen." Hans Raimund, Die Presse, 09.10.04
"Müsste man für kommende Generationen umreißen, was das Phänomen Umberto Eco ausmacht, so könnte man als vergleichbare Größe vergangener Tage den französischen Bestsellerautor Victor Hugo herbeizitieren." Claus Philipp, Der Standard, 09.10.04
"Kaum eine Episode, die sich nicht auch wie ein Stück angewandte Philosophie lesen ließe. Und so haben wir alle Freude an diesem Buch, bei dem wir naiv und gebildet zugleich sein dürfen und uns sogar vom Lesen ausruhen können, denn unzählige Illustrationen machen daraus ein Bilderbuch, so wie wir es als Kinder gerne hatten." Wendelin Schmidt-Dengler, Falter, 22.10.04
"Himmlisch. Nicht jugendfrei und auch nicht als Nachttischlektüre geeignet. ... Ein literarisches Panoptikum, das man eigentlich nur in einem Zug geniessen kann. Aber ein Genuss ist es: Mit dem Buch hat sich Eco definitiv eine Spitzenposition im Olymp der Denker und Dichter gesichert." Facts / Schweiz, 30.09.04
"Das letzte Werk Umberto Ecos bildet zugleich den Höhepunkt seiner Kunst. Es ist Ecos empathischtes, sein persönlichstes, sein überzeugendstens Buch." Alexander Kluy, Rheinischer Merkur, 18.11.04
"Ecos schönster Roman bisher. Eben einer für Büchernarren." Jobst-Ulrich Brand, FOCUS, 6.12.2004