Eine Familie auf der Flucht. Mit ihrer Mutter, ihren Frauen und einem Kind wollen zwei Brüder, beide Volkssänger, den russischen Pogromen von 1919 entkommen und geraten in die Fänge der rumänischen Staatssicherheit. Ihre Verzweiflung in den Haftanstalten und Asylen, die anschließende Irrfahrt über das Mittelmeer und ihr Elend in Paris erzählt Matveev aus eigenem Erleben in einer Form, die sowohl an biblische Texte wie an Kafkas Weltsicht erinnert: Die Figuren bleiben anonym, sind einem unkontrollierbaren Geschehen ausgeliefert, das sie in der Art einer tödlichabsurden Mechanik zermalmt. Ein großer, verstörender Klagegesang.Das Buch erschien 1933 bei Gallimard und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Dies ist die erste deutscheAusgabe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2011Schrecklich nüchternes Ich
Erschütternd: Michel Matveevs Roman "Die Gehetzten"
Sind wir durch eine Flut von Holocaustliteratur inzwischen so übersättigt, dass wir für die Vorgeschichte dieses Massenmordes, die sich nicht nur in Deutschland abgespielt hat, kein wirkliches Interesse mehr aufbringen können? Oder ist es die distanzierte Darstellung des Antisemitismus und der Pogrome in Osteuropa, vor allem im revolutionären Russland, die uns als Leser daran hindert, die Protagonisten in Michel Matveevs Roman "Die Gehetzten" mit Empathie zu betrachten? Das 1933 in Frankreich erschienene Buch, das nun erstmals auf Deutsch vorliegt, bleibt ein Rätsel. Das war es schon für André Malraux, der damals feststellte, dem Autor gelinge es, "entsetzliche Ereignisse schnell und ohne eigenes Gestalten" zu erzählen. Etwas beunruhigend Neues war das für die Literatur. Nämlich ein fast dokumentarischer Stil, eine Erzählform im Präsens, obwohl von einem historischen Ereignis berichtet wurde. Überdies Protagonisten, denen die individuellen Namen verweigert werden - Prototypen einer unendlichen Schar von Flüchtlingen, Menschen, die aus der Zeit und Geschichte gefallen sind und dabei ihre Individualität verloren haben.
Michel Matveev wurde als Joseph Constantinovsky 1892 in Jaffa geboren, wuchs aber bei seinem Vater in Odessa auf. Die jüdische Familie geriet in die revolutionären Wirren des Bürgerkrieges mit seinen Pogromen und Massenmorden. Der Vater und ein Bruder wurden erschlagen, Joseph flüchtete vor dem Terror der "Weißen" durch halb Europa und ließ sich schließlich in Paris nieder, wo er es als Bildhauer unter dem Namen Joseph Constant zu einiger Berühmtheit brachte, der in den Avantgardekreisen der Künstler und Schriftsteller verkehrte.
Sein Roman, der 1933 unter dem Titel "Les traqués" in Frankreich erschien und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, mutet wie eine autobiographische Erzählung an. Zumal der Autor in der Ich-Form schreibt und man vor allem die Stationen seiner eigenen Flucht und die Erlebnisse darin wieder zu entdecken glaubt. Aber der Stil des Buches lässt schon bald Zweifel aufkommen. Matveev erzählt wie ein Dokumentarist, distanziert, ohne persönliche Emphase. Die Gegenwartsform ist ein irritierendes Element, das den Leser auf Distanz hält. Man hat zunehmend das Gefühl, hier sei ein Filmregisseur am Werk gewesen, denn die Geschichte wird in Sequenzen aufgeteilt, in Bilder zerlegt, die in einer raffinierten Schnitttechnik miteinander verbunden werden. Das führt dazu, dass Matveev schreckliche Greuel ebenso "objektiv" erzählen kann wie die Fluchtgeschichte der Familie, die aus Russland über Rumänien nach Frankreich gelangt. Matveev erzählt das einerseits wie eine historische Darstellung der chaotischen Verhältnisse in Mitteleuropa zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Andererseits beschreibt er ein Schicksal, das auf eine geradezu kafkaeske Art und Weise politischen Kräften ausgesetzt ist, die weder beeinflussbar noch zu verstehen sind. Insbesondere der Aufenthalt von Mutter, Bruder und den beiden Frauen der Brüder in Rumänien wird zur Höllenfahrt. Verhöre und Misshandlungen in Polizeigewahrsam, Warten auf Papiere, die aus undurchschaubaren Gründen immer wieder verweigert werden, antisemitische Ausfälle und Provokationen und Korruption als einzige Hilfe werden detailliert geschildert.
Aber die literarische Form hält den Horror für den Leser auf Distanz, er ertappt sich bei dem Gefühl, dies alles gehe ihn eigentlich nichts an. Aus der Kenntnis der Entwicklung der Literatur seit 1933, als dieser Roman erschien, weiß man, dass sich Matveev hier literarischer Mittel bedient, die erst Jahrzehnte später, nämlich im Nouveau Roman, zur Anwendung kamen. Matveev greift damit in bemerkenswerter Form weit in die Zukunft der Literatur voraus. Dass er auch eine jüdische Biographie geschrieben hat, die ebenfalls hellsichtig die Schrecken des Holocausts vorwegnimmt und die Wurzeln des nationalsozialistischen Antisemitismus in seiner frühen Form als ein keineswegs auf Deutschland beschränktes Phänomen dargestellt hat, macht ihn zu einem der wichtigsten Chronisten jüdischen Lebens und jüdischen Schicksals in Europa.
Kann man den mörderischen Antisemitismus der russischen Weißgardisten noch einigermaßen in den Zusammenhang der Bürgerkiegsgreuel stellen, so zeigt der Autor das präfaschistische Rumänien praktisch ohne historischen Kontext. Zwar erinnert das Schicksal der dort gestrandeten russisch-jüdischen Familie an Kafka. Aber der Polizeiterror, dem die Flüchtlinge ausgesetzt sind, ist keine literarische Fiktion, kein unbegreifliches und unausweichliches Schicksal, sondern eine reale Bedrohung, die durch Korruption letztlich gelockert und schließlich gewendet werden kann.
Keines der Familienmitglieder, die auf der Flucht sind, erhält auch nur die Andeutung einer individuellen Statur. Alle bleiben ohne Namen, ohne Lebensgeschichte und Individualität. Das trennt sie von vornherein vom Leser, der keine Chance erhält, sich mit einer der Figuren zu identifizieren. Matveev lässt dem Leser nicht einmal die Möglichkeit, mit ihnen zu leiden, sich an ihnen schuldig zu fühlen, aus der Kenntnis dessen, was in ihrem Schicksal bereits schlaglichtartig aufscheint.
Nur am Schluss des Romans, als das Sterben der Schwägerin des Ich-Erzählers in Paris geschildert wird, kommt so etwas wie Empathie auf. Erst jetzt begreift man, dass hinter der Distanz individuelle Schicksale stehen, denen man sich nähern kann. Als wenn die Emotionen während des gesamten Buches künstlich aufgestaut worden wären, brechen sie angesichts des profanen, mit den erlittenen Qualen gar nicht vergleichbaren Sterbens der Frau plötzlich hervor - die Familie rückt uns aus dem Abstand der dokumentarischen Erzählweise unerwartet nahe. Nun sind wir zu Tränen gerührt.
Der kleine Weidle-Verlag in Bonn ist seit Jahren auf exilierte und vergessene Autoren spezialisiert. Mit Hilfe des Herausgebers und Übersetzers Rudolf von Bitter hat er damit dem deutschen Leser ein Schlüsselwerk aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zugänglich gemacht. Der Herausgeber hat auch ein aufschlussreiches Nachwort geliefert.
Die Irritation, die dieses Buch bereits bei seinem Erscheinen ausgelöst hat, lässt sich auch heute noch nachvollziehen. Hier hat ein sensibler und hellsichtiger Autor sowohl stilistisch als auch inhaltlich eine vorausschauende Beschreibung geliefert, die auf das nachfolgende schreckliche Jahrzehnt hinweist. In der Rückschau gelesen, kann dieses Buch dem Leser das Blut in den Adern gerinnen lassen.
HANS-PETER RIESE
Michel Matveev: "Die Gehetzten". Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rudolf v. Bitter. Weidle Verlag, Bonn 2010. 232 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erschütternd: Michel Matveevs Roman "Die Gehetzten"
Sind wir durch eine Flut von Holocaustliteratur inzwischen so übersättigt, dass wir für die Vorgeschichte dieses Massenmordes, die sich nicht nur in Deutschland abgespielt hat, kein wirkliches Interesse mehr aufbringen können? Oder ist es die distanzierte Darstellung des Antisemitismus und der Pogrome in Osteuropa, vor allem im revolutionären Russland, die uns als Leser daran hindert, die Protagonisten in Michel Matveevs Roman "Die Gehetzten" mit Empathie zu betrachten? Das 1933 in Frankreich erschienene Buch, das nun erstmals auf Deutsch vorliegt, bleibt ein Rätsel. Das war es schon für André Malraux, der damals feststellte, dem Autor gelinge es, "entsetzliche Ereignisse schnell und ohne eigenes Gestalten" zu erzählen. Etwas beunruhigend Neues war das für die Literatur. Nämlich ein fast dokumentarischer Stil, eine Erzählform im Präsens, obwohl von einem historischen Ereignis berichtet wurde. Überdies Protagonisten, denen die individuellen Namen verweigert werden - Prototypen einer unendlichen Schar von Flüchtlingen, Menschen, die aus der Zeit und Geschichte gefallen sind und dabei ihre Individualität verloren haben.
Michel Matveev wurde als Joseph Constantinovsky 1892 in Jaffa geboren, wuchs aber bei seinem Vater in Odessa auf. Die jüdische Familie geriet in die revolutionären Wirren des Bürgerkrieges mit seinen Pogromen und Massenmorden. Der Vater und ein Bruder wurden erschlagen, Joseph flüchtete vor dem Terror der "Weißen" durch halb Europa und ließ sich schließlich in Paris nieder, wo er es als Bildhauer unter dem Namen Joseph Constant zu einiger Berühmtheit brachte, der in den Avantgardekreisen der Künstler und Schriftsteller verkehrte.
Sein Roman, der 1933 unter dem Titel "Les traqués" in Frankreich erschien und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, mutet wie eine autobiographische Erzählung an. Zumal der Autor in der Ich-Form schreibt und man vor allem die Stationen seiner eigenen Flucht und die Erlebnisse darin wieder zu entdecken glaubt. Aber der Stil des Buches lässt schon bald Zweifel aufkommen. Matveev erzählt wie ein Dokumentarist, distanziert, ohne persönliche Emphase. Die Gegenwartsform ist ein irritierendes Element, das den Leser auf Distanz hält. Man hat zunehmend das Gefühl, hier sei ein Filmregisseur am Werk gewesen, denn die Geschichte wird in Sequenzen aufgeteilt, in Bilder zerlegt, die in einer raffinierten Schnitttechnik miteinander verbunden werden. Das führt dazu, dass Matveev schreckliche Greuel ebenso "objektiv" erzählen kann wie die Fluchtgeschichte der Familie, die aus Russland über Rumänien nach Frankreich gelangt. Matveev erzählt das einerseits wie eine historische Darstellung der chaotischen Verhältnisse in Mitteleuropa zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Andererseits beschreibt er ein Schicksal, das auf eine geradezu kafkaeske Art und Weise politischen Kräften ausgesetzt ist, die weder beeinflussbar noch zu verstehen sind. Insbesondere der Aufenthalt von Mutter, Bruder und den beiden Frauen der Brüder in Rumänien wird zur Höllenfahrt. Verhöre und Misshandlungen in Polizeigewahrsam, Warten auf Papiere, die aus undurchschaubaren Gründen immer wieder verweigert werden, antisemitische Ausfälle und Provokationen und Korruption als einzige Hilfe werden detailliert geschildert.
Aber die literarische Form hält den Horror für den Leser auf Distanz, er ertappt sich bei dem Gefühl, dies alles gehe ihn eigentlich nichts an. Aus der Kenntnis der Entwicklung der Literatur seit 1933, als dieser Roman erschien, weiß man, dass sich Matveev hier literarischer Mittel bedient, die erst Jahrzehnte später, nämlich im Nouveau Roman, zur Anwendung kamen. Matveev greift damit in bemerkenswerter Form weit in die Zukunft der Literatur voraus. Dass er auch eine jüdische Biographie geschrieben hat, die ebenfalls hellsichtig die Schrecken des Holocausts vorwegnimmt und die Wurzeln des nationalsozialistischen Antisemitismus in seiner frühen Form als ein keineswegs auf Deutschland beschränktes Phänomen dargestellt hat, macht ihn zu einem der wichtigsten Chronisten jüdischen Lebens und jüdischen Schicksals in Europa.
Kann man den mörderischen Antisemitismus der russischen Weißgardisten noch einigermaßen in den Zusammenhang der Bürgerkiegsgreuel stellen, so zeigt der Autor das präfaschistische Rumänien praktisch ohne historischen Kontext. Zwar erinnert das Schicksal der dort gestrandeten russisch-jüdischen Familie an Kafka. Aber der Polizeiterror, dem die Flüchtlinge ausgesetzt sind, ist keine literarische Fiktion, kein unbegreifliches und unausweichliches Schicksal, sondern eine reale Bedrohung, die durch Korruption letztlich gelockert und schließlich gewendet werden kann.
Keines der Familienmitglieder, die auf der Flucht sind, erhält auch nur die Andeutung einer individuellen Statur. Alle bleiben ohne Namen, ohne Lebensgeschichte und Individualität. Das trennt sie von vornherein vom Leser, der keine Chance erhält, sich mit einer der Figuren zu identifizieren. Matveev lässt dem Leser nicht einmal die Möglichkeit, mit ihnen zu leiden, sich an ihnen schuldig zu fühlen, aus der Kenntnis dessen, was in ihrem Schicksal bereits schlaglichtartig aufscheint.
Nur am Schluss des Romans, als das Sterben der Schwägerin des Ich-Erzählers in Paris geschildert wird, kommt so etwas wie Empathie auf. Erst jetzt begreift man, dass hinter der Distanz individuelle Schicksale stehen, denen man sich nähern kann. Als wenn die Emotionen während des gesamten Buches künstlich aufgestaut worden wären, brechen sie angesichts des profanen, mit den erlittenen Qualen gar nicht vergleichbaren Sterbens der Frau plötzlich hervor - die Familie rückt uns aus dem Abstand der dokumentarischen Erzählweise unerwartet nahe. Nun sind wir zu Tränen gerührt.
Der kleine Weidle-Verlag in Bonn ist seit Jahren auf exilierte und vergessene Autoren spezialisiert. Mit Hilfe des Herausgebers und Übersetzers Rudolf von Bitter hat er damit dem deutschen Leser ein Schlüsselwerk aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zugänglich gemacht. Der Herausgeber hat auch ein aufschlussreiches Nachwort geliefert.
Die Irritation, die dieses Buch bereits bei seinem Erscheinen ausgelöst hat, lässt sich auch heute noch nachvollziehen. Hier hat ein sensibler und hellsichtiger Autor sowohl stilistisch als auch inhaltlich eine vorausschauende Beschreibung geliefert, die auf das nachfolgende schreckliche Jahrzehnt hinweist. In der Rückschau gelesen, kann dieses Buch dem Leser das Blut in den Adern gerinnen lassen.
HANS-PETER RIESE
Michel Matveev: "Die Gehetzten". Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rudolf v. Bitter. Weidle Verlag, Bonn 2010. 232 S., geb., 23,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Unheimlich erscheint Lothar Müller die Ruhe über diesem Buch. Das liegt an der undramatischen Sprache, mit der Michel Matveev in seinem bereits 1933 im Original erschienenen Roman Ungeheuerliches berichtet, von Pogromen in der Ukraine, von Verhören in rumänischen Polizeikellern und von der Hast des Flüchtenden auf dem Weg nach Paris. Andre Malraux' Urteil, Matveevs Umgang mit der Zeit, sein szenisches Erzählen, schaffe keine Dauer, kann Müller nur teilweise bestätigen. Zwar folgt auch er beim Lesen dem Sekundenzeiger, findet er das Erzählte durch das gewählte Präsens mitunter wie in Zeitlupe gebannt. Doch erkennt er darin die "Zeitform der Chronik", die für ihn ebenso im Dienst des Exemplarischen steht wie die vom Autor gewählte Anonymität des Erzählers. Exemplarisch, so klärt Müller uns auf, meint hier Teil der Vorgeschichte, die in den Holocaust mündet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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